Bachkantaten in der Predigerkirche |
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Nun komm der Heiden Heiland (BWV 61) Die Kantate "Nun komm der Heiden Heiland" (BWV 61) schrieb J. S. Bach in Weimar zum ersten Advent 1714, unter Verwendung eines Textes von Erdmann Neumeister. Bach eröffnet mit dem ersten Kantatensatz das neue Kirchenjahr und begrüsst den zu seiner Kirche kommenden König, den Heiden Heiland, im Stil einer französischen Ouvertüre – so wie ein König während der Ouvertüre in seine Opernloge einzog. Als melodische Grundlage verwendet er den von Martin Luther verdeutschten altkirchlichen Hymnus "Veni redemptor gentium". Aus der zweiten Choralzeile, "des sich wundert alle Welt" entwickelt Bach ein kunstvolles Fugato, bei dem jeweils das Wort "wundert" deutlich hervorgehoben wird. Der Verstand mag das Ereignis der Kindschaft Gottes nicht fassen. Nach einem Seccorezitativ, das sich nach acht Takten in ein Arioso mit einer expressiven, quasi ostinaten Figur ("mit vollem Segen") wandelt, trägt der Tenor im Dialog mit den unisono geführten Streichern (Einheit der Streicher – Einheit der Kirche) und dem Basso continuo die Bitte vor: "Komm zu deiner Kirche". Gewissermassen als Antwort Jesu schliesst sich der vierte Satz an. Wie später auch in den Passionen lässt Bach Christus hier als Bassstimme zu Wort kommen mit dem Vers aus Offb 3, 20: "Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an", begleitet von klopfenden Pizzicatoakkorden des Orchesters. Im Kontrast zur grossen, festlichen Ouvertüre beginnt der 5. Satz in Minimalbesetzung (Sopran und Basso continuo) und fokussiert die Adventsbotschaft auf die persönliche Herzensebene. Am Anfang dieser Arie steht eine Pause, ein "Stilleschweigen" (J. G. Walther), welches die Grundlage ist für jede spirituelle Erfahrung. Die erneute rhetorische Pause nach der Einladung "Öffne dich" lässt den Hörer die Bewegung des Öffnens innerlich nachvollziehen. Den Abschluss bildet eine nur 14 Takte lange konzertante Bearbeitung des letzten Teiles von Philipp Nicolais Epiphanias-Lied "Wie schön leuchtet der Morgenstern": Die Geigen schwingen sich mit sehnsüchtig eilenden, durchgehenden 16teln bis ins dreigestrichene g empor und verleihen dem Satz einen ätherischen Glanz, gleichsam eine "Freudenkrone". Nebenbei sei bemerkt, dass Bach anlässlich der Wiederaufführung dieser Kantate in Leipzig 1723 in der Partitur den Ablauf des Gottesdienstes vom 1. Advent notiert hat. Daraus geht hervor, wie eng Musik und Liturgie miteinander verflochten waren. Die Kantate wurde von einem Orgelpräludium eingeleitet und hatte als "Hauptmusic" ihren Platz vor (und nach) der Predigt. Aus anderen zeitgenössischen Berichten erfahren wir, dass ein solchermassen kirchenmusikalisch reich ausgestatteter Gottesdienst mit Abendmahl je nach Anzahl der Kommunikanten zwei bis drei Stunden dauern konnte, dazu kam eine volle Stunde Predigt ...
Dazu ist erschienen der Sohn Gottes (BWV 40) Der Eingangschor im Stil eines Concerto grosso für Chor, zwei Hörner, zwei Oboen, Streicher und Basso continuo entwickelt sich – wie später auch Bachs Weihnachtsoratorium – aus einem einzigen Ton. Aus dem unscheinbaren Kind in der Krippe wird der König der Welt, der die Werke des Teufels zerstören kann. Bereits im ersten Choreinsatz setzt Bach ein rhetorisches Mittel mit einer starken Wirkung ein: Die Sänger skandieren das knappe, Statement zuerst unvollständig ("Dazu ist erschienen"). Nach einer kurzen Imitation im Orchester wiederholen die Sänger diese Aussage und ergänzen das Objekt ("... der Sohn Gottes"). Erst nach einem zweiten Anlauf erklingt der vollständige Satz ("... dass er die Werke des Teufels zerstöre"). Mit diesem Prinzip der wachsenden Glieder (paronomasia) – einem Schneeballeffekt gleich – entsteht nicht nur eine grosse Spannung, sondern auch der Eindruck eines fast unaufhaltsamen Ausbreitens der Wirkungskraft Jesu. Der zweite Teil des Eingangschores, eine 4-stimmige Fuge mit zusätzlichen freien Stimmen, führt das Ziel der Epiphanie Gottes weiter aus. Das Thema wandert durch alle Stimmen und erzeugt durch permanente Engführungen eine ungeheure Stringenz; der ostinate Textrhythmus verleiht diesem Satz zudem eine archaische Stärke. Einem Secco-Rezitativ für Tenor (Satz 2) steht ein Accompagnato-Rezitativ für Alt und Streicher (Satz 5) gegenüber, das durch sein mildes B-Dur und schlangenartige Akkordarpeggi eine verführerische Qualität entfaltet. Die Arie 4 gestaltet Bach in der Art eines Concertos für Solovioline und Orchester. Das motorische Vorwärtsdrängen der Solovioline wird begleitet von prägnanten punktierten Motiven des Orchesters, die durch ihre grossen und unmelodischen Sprünge sehr bedrohlich wirken. In der Tat ist dieser Satz ein Warnruf an die "höllische Schlange". Die scharfen Dissonanzen und unerwarteten Modulationen erzeugen eine sehr ungemütliche Atmosphäre, die erahnen lässt, dass die Musik Bachs sich nicht mit der Darstellung himmlischer Harmonien zufrieden gibt. (Eine ähnliche verzweifelt kämpfende Musik hat Bach übrigens im zweiten Satz der Kantate BWV 35, "Geist und Seele wird verwirret" geschaffen.) Wie der Eingangschor, so beginnt auch der vorletzte Kantatensatz, eine Pastoralgigue im 12/8-Takt für Tenor, vier Bläser und Basso continuo, im Continuo mit einer einzelnen "Freudenfigur". Darauf setzen die Bläser nacheinander ein, spielen sich die Figuren zu und breiten so diese Freude mehr und mehr aus. Solchergestalt vorbereitet kann der Tenor schliesslich bereits nach zwei Takten in eine Art freudige Exstase ausbrechen, indem er die schlichte Anfangsfigur in ein Melisma von 52 Tönen anwachsen lässt. Im weiteren Verlauf wechseln sich die Stimmpaare ohne festes Muster ab; ihr vergnügter, wie selbstverlorener Tanz kann durch nichts getrübt werden. Nahezu unvermittelt und mit denselben Figuren setzt der Tenor mit einem neuen Gedanken ein: "Wütet schon das Höllenreich, will euch Satans Grimm erschrecken". Die freudige Figur nimmt nach und nach erschreckendere Züge an. Während der Bass wütet und poltert, zerreissen die cantablen Melodien des Tenors in hässliche Fragmente. Jedoch nur für kurze Zeit: Jesus deckt die Seinen mit Flügeln und vermag sie zu erretten. Diese Textwendung ist der einzige Hinweis, dass die Kantate wahrscheinlich zum Stephanstag erklungen ist, da hier ein Vers aus Mt 23, 37, dem Tagesevangelium paraphrasiert wird. Die Tatsache, dass Bach in dieser Arie dasselbe melodische Motiv zum Ausdruck gegensätzlicher Affekte verwendet, legt eine theologische Deutung nahe: Freude und Schrecken liegen nahe beieinander, mitten im Wüten des Höllenreiches können wir Gottes Präsenz spüren, da er "mit uns ist in der Not" (Satz 2). Er ist für uns der "Immanuel". Eine Seltenheit in Bachs Kantatenschaffen sind die drei vorkommenden Choräle, die sich aber aufgrund ihrer treffenden Verswahl und ihrer ausdrucksstarken Harmonisierungen sehr gut in den Ablauf einfügen. Den 1. Satz dieser Kantate zog Bach später noch einmal aus der Schublade und arbeitete ihn um als Schlusssatz seiner kleinen Messe in F-Dur BWV 233 ("Cum sancto spiritu").
Gloria in excelsis Deo (BWV 191)
Für den zweiten Satz verwendet Bach das Duett für Sopran und Tenor aus dem Gloria der Messe in h-Moll. Dort hatte er dem Sopran den Text "Domine Deus, rex coelestis" zugewiesen, während der Tenor die Worte "Domine Fili unigeniti" sang. Die Idee dieses verehrenden, anbetenden Wettstreits gibt Bach in der Parodie allerdings völlig auf. Beide Stimmen singen den Beginn der Doxologie "Gloria patri et filio". Mit unwesentlichen Notenänderungen schliesst dieser Satz in Takt 74, bevor in der Vorlage die Modulation nach e-Moll und der neue Textabschnitt "Domine Deus, Agnus Dei" beginnen würde. Anhand der Umarbeitung des "Cum sancto spiritu"-Satzes zeigt sich, mit welcher Leichtigkeit Bach eine für uns heute so bekannte Musik zu einem beinahe neuen Stück formt. Während wir ehrfürchtig jeden Ton der h-Moll-Messe hören und dessen Position im Ganzen abzuwägen versuchen, fügt Bach ungeniert einen Anfangstakt hinzu und schon wird aus der auftaktigen Struktur eine volltaktige. Fünf weitere Takte werden im Lauf des Stückes eingefügt. Die auffallendste Änderung betrifft die Exposition der beiden Fugen: sie werden nicht vom Chor alleine gesungen, sondern mit einem aufgelockerten und auf die Klanggruppen Streicher, Oboen und Bläser aufgeteilten Satz begleitet. Die Beobachtung solcher Bearbeitungstechniken muss unweigerlich dazu führen, unser heutiges Bild von sogenannten "Meisterwerken" durchaus in Frage zu stellen.
Dona nobis pacem (BWV 232) Jörg-Andreas Bötticher
Abbildung 1
Abbildung 2
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