BWV 61  
Nun komm, der Heiden Heiland
BWV 147  
Herz und Mund und Tat und Leben

Einführung

 

Vom zweiten bis vierten Advent wurden in Leipzig zur Zeit Bachs in der Regel keine Kantaten musiziert. Die in Weimar zum dritten Advent entstandene Kantate "Ärgere dich, o Seele nicht" (BWV 186a) ist leider verschollen. Deshalb wurden für die heutige Aufführung zwei andere Kantaten, BWV 61 und 147a ausgewählt.

Die Kantate "Nun komm der Heiden Heiland"  (BWV 61) schrieb J. S. Bach in Weimar zum ersten Advent 1714, unter Verwendung eines Textes von Erdmann Neumeister. Bach eröffnet mit dem ersten Kantatensatz das neue Kirchenjahr und begrüsst den zu seiner Kirche kommenden König, den Heiden Heiland, im Stil einer französischen Ouvertüre - so wie ein König während der Ouvertüre in seine Opernloge einzog. Als melodische Grundlage verwendet er den von Martin Luther verdeutschten altkirchlichen Hymnus "Veni redemptor gentium". Aus der zweiten Choralzeile, "des sich wundert alle Welt" entwickelt Bach ein kunstvolles Fugato, bei dem jeweils das Wort "wundert" deutlich hervorgehoben wird. Der Verstand mag das Ereignis der Kindschaft Gottes nicht fassen. Nach einem Seccorezitativ, das sich nach acht Takten in ein Arioso mit einer expressiven, quasi ostinaten Figur ("mit vollen Segen") wandelt, trägt der Tenor im Dialog mit den unisono geführten Streichern (Einheit der Streicher-Einheit der Kirche) und dem Basso continuo die Bitte vor: "Komm zu deiner Kirche". Gewissermassen als Antwort Jesu schliesst sich der vierte Satz an. Wie später auch in den Passionen lässt Bach Christus hier als Bassstimme zu Wort kommen mit dem Vers aus Offb. 3, 20: "Siehe, ich stehe vor der Tür...", begleitet von klopfenden Pizzicatoakkorden des Orchesters. Im Kontrast zur grossen, festlichen Ouvertüre beginnt der 5. Satz in Minimalbesetzung (Sopran und Basso continuo) und fokussiert die Adventsbotschaft auf die persönliche Herzensebene. Am Anfang dieser Arie steht eine Pause, ein "Stilleschweigen" (J. G. Walther), welches die Grundlage ist für jede spirituelle Erfahrung. Die erneute rethorische Pause nach dem Einladung "Öffne dich" lässt den Hörer die Bewegung des Öffnens innerlich nachvollziehen. Den Abschluss bildet eine nur 14 Takte lange konzertante Bearbeitung des letzten Teiles von Philipp Nicolais Epiphanias-Lied "Wie schön leuchtet der Morgenstern": Die Geigen schwingen sich mit sehnsüchtig eilenden, durchgehenden 16teln bis ins dreigestrichene g empor und verleihen dem Satz einen ätherischen Glanz, gleichsam eine "Freudenkrone".

Nebenbei sei bemerkt, dass Bach anlässlich der Wiederaufführung dieser Kantate in Leipzig 1723 in der Partitur den Ablauf des Gottesdienstes vom 1. Advent notiert hat. Daraus geht hervor, wie eng Musik und Liturgie miteinander verflochen waren. Die Kantate wurde von einem Orgelpraeludium eingeleitet und hatte als "Hauptmusic" ihren Platz vor (und nach) der Predigt. Aus anderen zeitgenössischen Berichten erfahren wir, dass ein solchermassen kirchenmusikalisch reich ausgestatteter Gottesdienst mit Abendmahl je nach Anzahl der Kommunikanten zwei bis drei Stunden dauern konnte, dazu kam eine volle Stunde Predigt...

 

 

Für den vierten Advent 1716 hat J. S. Bach in Weimar die Kantate "Herz und Mund und Tat und Leben"  (BWV 147a) geschrieben. Ausser dem Textdruck von Salomon Franck ist uns jedoch nur eine umgearbeitete Fassung dieser Musik erhalten, die Bach für das Fest Mariae Heimsuchung am 2. Juli 1723 vorgenommen hat. Obwohl eine neue Konstruktion der nur sechs Sätze umfassenden Weimarer Erstfassung vorliegt (Uwe Wolf 1995), haben wir uns entschieden, für die heutige Aufführung die bekannte, jüngere Leipziger Version zu nehmen (BWV 147).
Durch Hinzufügung von Rezitativsätzen und einigen kleinen Textänderungen gelingt es Bach, die ursprünglich adventliche Dichtung Francks auf den Besuch Mariens bei Elisabeth zu beziehen. Im Mittelpunkt stehen Elisabeth und Maria als Vorbilder des Bekennens. Erfüllt von der Freude über ihre unerwarteten Schwangerschaften preisen sie die Wunder Gottes, gipfelnd in den unüberbietbaren Versen des Magnifikats. Auch wenn Bach das Magnifikat nur kurz im zweiten Rezitativ (Satz 4) zitiert, war es im lutherischen Glaubenshorizont zu seiner Zeit noch sehr präsent, gehörte es doch zum festen Bestandteil jeder Vesper.
In barocker Drastik wird in diesem Kantatentext der Mensch als unter Last der Sünden und im Dienst Satans stehend gezeichnet, der das tröstliche Angebot Christi verschweigt und verleugnet. Die drohende Geste des göttlichen Gerichts als letzter Instanz wandelt sich im Laufe der Kantate in eine bittende: Jesus selbst möge die Kraft zur brennenden Liebe schenken, die sich dann auch in "Mund, Tat und Leben" zeigen möge. Modern gesprochen ist dies ein Plädoyer für ein ganzheitliches Christsein.
Die Kantate ist auffallend symmetrisch konstruiert; sie gliedert sich in zwei Teile – vor und nach der Predigt – zu 6 und 4 Sätzen. Beide werden mit dem inzwischen überaus populären (sogar als Handymelodie vergewaltigten) Choralsatz "Wohl mir, dass ich Jesum habe" abgeschlossen. Als Choralvorlage diente dazu das Abendlied "Werde munter mein Gemüte". Lieblich-pastoral und melodisch eingängig entwickelt Bach die Violinstimme aus der ersten Choralzeile.

Der erste Teil (Satz 1) beginnt als grossbesetztes Stück mit Streichern, Bläsern und Solotrompete wie ein Concerto, gefolgt von einem fugierten Chorsatz. Erst im Nachhinein merkt man als Hörer, dass das Vokalthema bereits im Instrumentalthema versteckt ist. Im nur 10 Takte umfassenden Zwischenteil wird die "Furcht und Heuchelei" durch dichte Modulationen, Chromatik, Vorschläge und Triller plastisch ausgedrückt. Die Arie 5 nimmt textlich am deutlichsten auf die Adventsthematik, aber auch auf Maria und Elisabeth Bezug. "Bereite dir, Jesu, noch itzo die Bahn" ist ein Bild des alten Testamtents (Jesaja) und gleichzeitig die Johanneische Botschaft: "Ich bin die Stimme dessen, der in der Wüste ruft: Ebnet den Weg für den Herrn." (Joh. 1, 23) Musikalisch setzt Bach dieses Bild um in der Art eines Basso Andante, einen räumlichen oder zeitlichen (Entwicklungs-)Weg symbolisierend. Dem Solosopran setzt Bach die Sologeige gegenüber, die in rastlosen triolischen 16tel-Arpeggii "den Weg bereitet". (Man bemerke die auffallende Ähnlichkeit der Motivik mit dem d-moll Praeludium aus dem 1. Teil des Wohltemperierten Klaviers!)

Der zweite Teil (Satz 7) beginnt mit einer ‚Devisenarie’:"Hilf, Jesu, hilf", diesen bittenden Ausruf, den Bach und seine Zeitgenossen häufig als Abkürzung am Rande ihrer Werke notierten (‚J.J.’- ‚Jesus juva’), gestaltet er hier als prägnantes Quartmotiv, dem eine absteigende Tonleiter folgt. Das voll besetzte Continuo teilt Bach in Akkord- und Ornamentinstrumente auf und weist beiden eine gesonderte Stimme zu. Anders als sonst üblich spielen jedoch Orgel und Cembalo die triolisch diminuierte Bassstimme, während Cello, Fagott und Violone bei der einfachen Basslinie bleiben. Im Accompagnato-Rezitativ (Satz 8) für zwei Oboen da caccia und Alt zeichnet Bach mit einem immer nur leicht veränderten Motiv die sanften, mitunter hüpfenden (Takt 11) Leibesbewegungen der schwangeren Elisabeth nach. Ohne Zweifel weisen die meist in der klanglichen Mitte und unter der Altstimme bleibenden Oboen auf das "Verborgene der Erden", das Geheimnisvolle der Gottesgeburt im Menschen. Anknüpfend an die Besetzung und Kompositionsart des Einleitungssatzes ist auch der vorletzte Kantatensatz (9) als Bassarie konzertant gehalten. Der lobende, bekennerische Gestus kulminiert in den langen Melismen des Basssängers auf die Worte "Opfer" und "Feuer". Nach diesem festlich, extravertierten Charakter dominiert im Schlusssatz (10) die innere Gewissheit des "Seelenschatzes". Es handelt sich hier nicht nur um ein Schlüsselwort der Theologie des 17. und 18. Jahrhunderts (Jenisch, Scriver, Arnd), sondern auch um einen von Bach geliebten Topos (vgl. u.a. die Kantate 18). So wie Jesus in Maria als Gottesfünklein und Seelenschatz wächst, soll er auch in mir Platz gewinnen. Niemand hat dies treffender formuliert als Johannes Scheffler (1675):
"Jn dir muß GOtt gebohren werden. Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn / Und nicht in dir; du bleibst noch ewiglich verlohrn."

Jörg-Andreas Bötticher

 

 

 

Rogier van der Weyden: Heimsuchung Mariens, um 1440/45
Öl auf Eichenholz, 57 x 36 cm
Museum der Bildenden Künste, Leipzig