Bachkantaten in der Predigerkirche
 

BWV 88
Siehe, ich will viel Fischer aussenden

Siehe, ich will viel Fischer aussenden
Besetzung: Soli: S A T B, Coro: S A T B, Corno I/II, Hautbois d'amour I/II, Taille, Violino I/II, Viola, Continuo
Erstaufführung: 21. Juli 1726
Text: unbekannter Dichter (Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen?); 1: Jer 16,16; 4: Lk 5,10; 7: Georg Neumark 1641
Anlass: 5. Sonntag nach Trinitatis



Der für den 5. Sonntag nach Trinitatis entstandenen und am 21. Juli 1726 erstmalig aufgeführten Kantate "Siehe, ich will viel Fischer aussenden" liegt ein anonymer Meininger Kantatentextdruck von 1704/05 zugrunde. Diese Texte vereinen zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen geistlichen Kantaten Bibeltexte, Choralstrophen, Texte für Rezitative und Da Capo-Arien. Wie Konrad Küster gezeigt hat, ist möglicherweise Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen (1672–1724) als dessen Textdichter anzusehen. Ein weiterer Textdruck dieser Kantate wurde 1726 in Rudolstadt in der Sammlung "Sonn- und Fest-Tags-Andachten über die ordentlichen Evangelia, Aus gewissen Biblischen Texten Alt- und Neuen Testaments ..." veröffentlicht.
Der Text geht aus von einer Verheissung des Propheten Jeremia, "Siehe ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr" (Jer 16, 16), deren Erfüllung die Exegeten von alters her im Evangelium vom grossen Fischzug des Petrus gesehen hatten (Lk 5, 1–11): "Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen." Zweifellos war eine solche Textvorlage für Bachs kirchenmusikalisch-theologische Bedürfnisse ideal, knüpft sie doch nicht nur direkt an die Evangeliumslesung an, sondern setzt zugleich eine Klammer zwischen dem Alten und dem Neuen Testamen und liefert plastische Bilder für die Vertonung.

Bach räumt dem Jeremiaswort einen grossen Platz ein, indem er es als zweiteiliges Concerto (so auch die originale Bezeichnung der gesamten Kantate!) für Solobass, Streicher und Bläser vertont. Sie beginnt mit einer ‚Szene am See' in einer Gigue, die nicht nur die Wellenbewegung des Wassers nachzeichnet, sondern auch den Akt des Fischens sowie die eilend davonschwimmenden Fische. Nach der Hälfte des Stückes wechseln Charakter und Besetzung sowie Takt- und Tonart. Entsprechend dem Bibelzitat ("Und darnach will ich viel Jäger aussenden") erklingen nun prägnante, signalartige Jagdmotive, untermalt von Hörnerklängen. Die häufigen Synkopen und die verschobenen punktierten Sprünge ergeben ein dichtes rhythmisches Geflecht und weisen auf den Versuch des Einfangens der Tiere, denen im übertragenen Sinne die Menschen entsprechen. Dieser Eröffnungssatz schliesst – was selten ist im Bachschen Kantatenoeuvre – nicht in der Anfangstonart D-Dur, sondern in G-Dur, einer Tonart mit pastoralem und Jagdkolorit.

Das folgende Rezitativ ("Wie leichtlich könnte doch der Höchste uns entbehren") ist durch die Häufung von saltus duriusculi ("der verkehrte Sinn", "böslich", "von ihm", "zurück", "überlässt") etwas sperrig und endet mit einer offenen Frage, auf welche die nächste Arie für Tenor, Oboe d'amore und Continuo eine klare Antwort gibt: "Nein, nein! Gott ist allezeit geflissen". Ohne übliches Orchestervorspiel lässt Bach den Sänger die Arie allein mit Continuobegleitung anfangen. Die dem Sänger an die Seite gestellte Oboe d'amore nimmt seine Melodie auf und verziert sie mit Motiven, die an den Mittelsatz der Triosonate G-Dur (BWV 530) erinnern. Erst für das Nachspiel, von Bach "Ritornello" genannt, tritt das Orchester hinzu – eine Form, die in italienischen Opernarien beispielsweise von Alessandro Scarlatti, aber auch bei Händel durchaus nicht unüblich war. Nach der Predigt wird das wiederum dem Bass als vox Christi zugeteilte neutestamentliche Zitat aus Lk 5, 10 ("Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen") durch ein kurzes, aber bedeutsames Tenorarioso mit Streicherbegleitung eingeführt ("Jesus sprach zu Simon"). Dabei verwenden die Streicher in einem dreifachen Aufstieg ein Motiv aus drei Wechselnoten, welches darauf in der Bassarie zur ostinaten Figur erweitert 41mal im Continuo erklingt. Auch wenn es sich bei dieser figura corta um einen oft vorkommenden barocken Topos handelt (Mordentfigur), gelingt Bach damit ein Rückbezug zum ersten Kantatensatz, wo er den "Jagdteil" ebenfalls mit solch einem Motiv eingeleitet hatte. Die Parallelen zu den beiden schnellen Sätzen des dritten Brandenburgischen Konzertes liegen auf der Hand, wobei deren Folge in der Kantate gleichsam umgekehrt ist. Bei dieser motivischen Einheitlichkeit mag es kaum verwundern, dass auch das nachfolgende Duett ("Beruft Gott selbst, so muss der Segen auf allem unsern Tun in Übermaße ruhn") für Sopran, Alt und die unisono geführten Bläser und Violinen mit der gleichen melodischen Thematik der Wechselnoten, gefolgt von einem aufsteigenden Sextsprung arbeitet. Was als locker imitatorischer Satz beginnt (der Ruf zur Nachfolge bleibt eine Einladung und ist kein Befehl, deshalb wäre ein strenger Kanon theologisch irreführend!), entwickelt sich zu einem sorgfältigen und fein gearbeiteten zwei- bis vierstimmigen Gewebe, dessen kontrapunktische Künste durch die scheinbare galante Verspieltheit überdeckt werden.

Ein längeres, im Alexandriner-Versmass gehaltenes Rezitativ für Sopran ("Was kann dich denn in deinem Wandel schrecken") räumt die letzten Zweifel und Ängste (Chromatik, verminderte Septakkorde) beiseite und weist mit der Wendung "geh allzeit freudig fort" schon auf den Text des Schlusschorals So schliesst unsere Kantate – wie auch die zwei Jahre zuvor für den gleichen Sonntag entstandene Kantate "Wer nur den lieben Gott lässt walten" (BWV 93) – mit der siebenten Strophe des gleichnamigen Liedes ("Sing, bet und geh auf Gottes Wegen"). Die auffallend gleichmässig ausbalancierten Achtelbewegungen der Unterstimmen tragen nicht nur vertrauensvoll durch den Choral wie durch das Leben, sondern unterstreichen – im Blick auf die Aussage der ganzen Kantate – die grenzenlose Zuversicht, die aus Jesu Auftrag an Petrus spricht: "Fürchte dich nicht"!

Jörg-Andreas Bötticher

 
 

BWV 93
Wer nur den lieben Gott lässt walten

Besetzung: Soli: S A T B, Coro: S A T B, Hautbois I/II, Violino I/II, Viola, Continuo
Erstaufführung: 9. Juli 1724
Text: 1, 4, 7: Georg Neumark 1657; 2, 3, 5, 6: unbekannter Dichter
Anlass: 5. Sonntag nach Trinitatis

Einführung
Anselm Hartinger