Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   

 

 
   

Anders als es spirituellen Erneuerungsbewegungen und religionspolitischen Umwälzungen oft eigen ist, bedeutete die lutherische Reformation keinen vollständigen Bruch mit der kulturellen Tradition der Alten Kirche. Ganz im Gegenteil wies Luther der Musik sogar nach der Theologie den höchsten Rang im Reigen der Künste und Wissenschaften zu. Indem er sie nicht länger als bloß äußerlichen Schmuck des Gottesdienstes betrachtete, sondern direkt in den Dienst der Verkündigung stellte, wertete er die liturgische Rolle der Musikausübung massiv auf und verschaffte damit dem neu entstehenden Kantoren- und Organistenstand ein Sozialprestige, das die Chorsänger der vorreformatorischen Zeit höchstens aufgrund ihrer häufigen Identität als geweihte Priester beanspruchen konnten.

Zu den langfristig fruchtbarsten Erträgen der Reformation gehörte der lutherische Gemeindechoral. Entstanden aus den propagandistischen Einblattdrucken der kämpferischen Jahre nach 1517, die die Reformation zu einem der ersten Medienereignisse der Geschichte werden ließen, fanden die einstimmigen Melodien bereits früh Eingang in die polyphone Kunstmusik. Und enthält bereits das Wittenberger „Geistliche Gesangk-Buchleyn“ von 1524 neben einfachen vierstimmigen Kantionalsätzen und Tenorliedern höchst kunstvolle Vertonungen, die bis hin zum Cantus-firmus-Kanon die ganze Satzkunst der niederländischen Vokalpolyphonie aufzubieten wussten. In dem Musiker Johann Walter fand Martin Luther, von dem entgegen früherer Ansicht wohl nur sehr wenige Melodien stammen, einen kongenialen Mitarbeiter, der seinen oft auf altkirchlichen Hymnen beruhenden Lieddichtungen zur klingenden Popularisierung verhalf. Und auch in den folgenden Jahrhunderten erwies sich der Choral als unversiegliche Inspirationsquelle für Textdichter und Komponisten. Es waren bis weit ins 17. Jahrhundert hinein nicht obskure Gelegenheitspoeten, sondern die angesehensten Theologen und sprachmächtigsten Köpfe des deutschen Protestantismus, die dieses reformatorische Liedgut kontinuierlich erweiterten.

Mit den musikalischen Stilwandlungen veränderte sich auch das klingende Erscheinungsbild des Chorals beträchtlich. Neben den Liedsatz und die Cantus firmus-Motette traten im Laufe des 17. Jahrhunderts das Choralkonzert und die Liedpartita für Orgel; die bedeutende Zahl erhaltener Choralvorspiele legt Zeugnis ab für eine hochstehende Kunst des improvisierten Liedspiels und der affektreichen Textausdeutung.

Wenn sich ein Komponist des 18. Jahrhunderts wie Johann Sebastian Bach also dem lutherischen Choral zuwandte, dann konnte er aus einem reichen Traditionsbestand schöpfen. Wie seine bedeutenden Sammlungen von der Art des „Orgelbüchleins“, des III. Teils der Clavierübung oder der Leipziger Choräle als Höhepunkte des orgelmäßigen Choralspiels gelten dürfen, bedeutet auch das Projekt des Choralkantaten-Jahrganges von 1724/25 zugleich eine Reverenz vor dieser Tradition wie deren Überbietung und Weiterentwicklung. Vorbild dafür war u.a. ein Zyklus von Choralkonzerten, den Thomaskantor Johann Schelle in den 1680er Jahren für die Leipziger Stadtkirchenmusik schuf. Nachdem nun aber seit etwa 1700 auch die operistischen Formmodelle Rezitativ und Arie Einzug in die lutherische Kirchenmusik gehalten hatten, erweiterten sich die kompositorischen Möglichkeiten einer Umsetzung des Chorals beträchtlich. Man konnte diesen nunmehr weiterhin auf alte Art – als Choralsatz oder fugierte Motette – traktieren, ihn jedoch zugleich im modernen Gewand eines Konzertsatzes, einer Arie oder eines Rezitativs mit Zeileneinschüben präsentieren. Neben den altehrwürdigen Liedtext trat immer öfter eine freie Nachdichtung der Strophenaussage.

 

BWV 93
Wer nur den lieben Gott lässt walten

Besetzung: Soli: S A T B, Coro: S A T B, Hautbois I/II,
Violino I/II, Viola, Continuo
Entstehungszeit: 9. Juli 1724
Text: 1, 4, 7 und 2 (ohne Schlusszeile): Georg Neumark 1641;
3, 5, 6: Umdichtungen durch unbekanntem Dichter.
Anlass: 5. Sonntag nach Trinitatis

 

Für diese vermischte Form einer Choralkantate ist „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ BWV 93, entstanden zum 5. Sonntag nach Trinitatis (9. Juli) 1724, ein nahezu perfektes Beispiel. Drei ihrer sieben Sätze haben den Originaltext des Chorals von Georg Neumark (1641) zur Grundlage. Davon verkörpert der vierstimmige Schlußchoral trotz Bachs meisterlicher Harmonisierung die einfachste und dem Gemeindegesang nahestehendste Form. Der Eingangschor folgt hingegen dem für Bachs Choralkantaten typischen Modell, die Liedbearbeitung in einen hier aus 2 Oboen, Streichern und Continuo bestehenden Orchestersatz einzuarbeiten, der mit seinem 12/8-Takt einem elegisch eingefärbten Siciliano entspricht. Ungewöhnlich für den Formtyp ist die Flexibilität, mit der Bach die Choraldurchführung gestaltet. In den ersten beiden Doppelzeilen des Chorals beginnen immer zwei Singstimmen mit einer besonders koloraturreichen Vorimitation, die in einen schlicht vierstimmigen Liedsatz übergeht, der bei ausgehaltenem Sopranschlußton nochmals in Figurationen der Unterstimmen übergeht. Die abschließenden zwei Choralzeilen werden hingegen mit einer von allen vier Singstimmen bestrittenen Fugendurchführung eingeleitet, bevor das durchgängig sehr unabhängig begleitende Orchester das letzte Wort behält. Eine höchst eigenwillige Umsetzung des Choraltextes, die die Vertonungstradition nahezu auf den Kopf zu stellen scheint, verkörpert das in der Mitte der Kantate stehende Duett. Sopran und Alt tragen über einem laufenden Baß zwar den Wortlaut der Liedstrophe vor, lassen die dazugehörige Melodie in ihrem strengen Bicinium jedoch nur von fern anklingen. Als eigentlicher Träger des Cantus firmus erweist sich hingegen eine aus sämtlichen Streichern zusammengestellte Mittelstimme, die die Liedmelodie zeilenweise als „Choral ohne Worte“ vorträgt. Dieses Trio mit Choral muß im Umfeld Bachs so geschätzt worden sein, dass es 1748/49 Eingang in die von Georg Schübler in Zella gedruckte Sammlung der „Sechs Choräle von verschiedener Art“ (sog. Schübler-Choräle BWV 645-650) fand, die wohl sämtlich aus derartigen Bearbeitungen von choralbezogenen Kantatensätzen bestand.

Auch die übrigen Sätze der Kantate sind auf das Engste mit der melodischen und verbalen Substanz des Chorals verbunden. In beiden Rezitativen wechseln sich dabei verzierter Choralvortrag und freie Einschübe miteinander ab, wobei Bach die Verzahnung der Zeilenschlüsse auf immer wieder überraschende und affektmäßig höchst überzeugende Weise meistert. Wie in einer Predigt kommentieren und beleuchten sich allgemeingültiger Grundtext (Choral) sowie seine aktualisierte und personalisierte Auslegung gegenseitig. In der Tenorarie „Man halte nur ein wenig stille“ gelingt es dem Librettisten, einzelne Choralzeilen in so organischer Weise assoziativ fortzuspinnen, dass der Komponist das Ganze in einen munteren menuettartigen Streichersatz einkleiden konnte. Die Arie „Ich will auf den Herren schauen“ geriert sich hingegen zunächst als bewegter Triosatz von Oboe, Sopran und Continuo, in den wie absichtslos einzelne Liedzeilen hineinfließen – so, als würde der Singende sich mitten in seiner virtuosen Kantilene immer wieder auf das haltgebende Trostwort des Chorals besinnen.

Der lutherische Choral spielte auch eine bedeutende Rolle im Zuge der partiellen Wiederentdeckung der alten Musik und besonders der Bach-Renaissance des 19. Jahrhunderts. Fühlten sich die Librettisten der Bachzeit noch berufen, die Texte der Reformationsepoche durch freie Nachdichtungen zu aktualisieren, so verfiel nach 1800 nun gerade diese stark zeitgebundene Kantatenpoesie mit ihrer barocken Bilderfreude dem Verdikt einer veränderten Ästhetik. Mendelssohns Lehrer Carl Friedrich Zelter sprach etwa von den „verruchten deutschen Kirchentexten“, die nur dazu nutze seien, einen „dicken Glaubensqualm“ aufzurühren. Ludwig Bischoff riet 1852 allen Chordirigenten dringend, derlei „Anachronismen“, die „nur der Empfänglichkeit für die herrliche Musik schadeten“, durch geschmackvollere Texte auszutauschen. Im althergebrachten Luther-Choral, der in gewisser Weise als protestantisches Gegenstück zum verehrten (katholischen) Palestrinasatz galt, entdeckte man hingegen eine glaubensstarke Traditionsschicht, mittels deren man den vermeintlichen Entartungen der seinerzeitigen Moderne entgegentreten wollte. Bereits in der Generation der Bachsöhne und -schüler wurden Bachs Choralsätze überdies als Muster eines „reinen Satzes in der Musik“ (Johann Philipp Kirnberger) betrachtet, die man auch ohne Abdruck des Textes veröffentlichen und lehren konnte.

Während einzelne Verfechter der kirchenmusikalischen Restaurationsbewegung wie etwa der Heidelberger Justizrath Thibaut, dessen 1824/26 erschienene Schrift „Ueber Reinheit der Tonkunst“ eine erschreckend ideologische Sicht auf die Musikgeschichte offenbart, die Bachschen Choralsätze wegen ihrer Kompliziertheit und mangelnden Rücksicht auf den „frommen Sinn des Volkes“ ablehnten, übte Bachs Choralkunst und das Liedgut des Protestantismus einen bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung des jungen Felix Mendelssohn Bartholdy aus. Diese doppelte Hinwendung zu Bach und zum Choral fand ihren Niederschlag nicht nur in seinen späteren Oratorien und Orgelsonaten, sondern auch in einer Gruppe von acht sogenannten Choralkantaten, die Mendelssohn zwischen 1827 und 1832 schrieb. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ein Großteil der Werkgruppe ausgerechnet während Mendelssohns Italienreise entstand, die eigentlich der Erkundung einer ganz anderen Musik und Lebenskultur diente. Dabei spielte offenkundig jenes lutherische Choralbuch eine inspirierende Rolle, das Mendelssohn unterwegs in Wien von dem befreundeten Sänger und Bachforscher Franz Hauser erhalten hatte. Daß Mendelssohn sich im römischen Winter und Frühling 1830/31 in bewusster Distanzierung von der als musikalisch rückständig empfundenen katholischen Liturgie auf diese mitgebrachte Traditionsschicht zurückzog, verleiht den Stücken einen merkwürdigen Zwitterstatus zwischen Stilstudie und Bekenntniswerk. Offenbar bot sich der protestantische Choral auch als Projektionsfläche einer in der Musikgeschichte verorteten kunstreligiösen Identitätssuche an, die für den 1816 getauften unbeschnittenen Juden, Philosophenenkel und notorischen Kirchenskeptiker Mendelssohn Bartholdy keineswegs einfach war.

 

Felix Mendelssohn Bartholdy
(1809-1847)
Wer nur den lieben Gott lässt walten

Besetzung: Solo: S, Coro: S A T B, Violino I/II, Violoncello, Kontrabaß
Entstehungszeit: 1828/29
Text: 1: Israel Clauder 1699; 2, 3, 4: Georg Neumark 1641

 

Bezüge zu Bach finden sich denn auch in der bereits 1828/29 entstandenen Kantate „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ allenthalben. So folgt der Chorsatz über die erste Choralstrophe eindeutig dem Muster der Bachschen Choralkantaten von 1724/25. Bereits der umrahmende Orchestersatz beruht dementsprechend auf choraleigenem Material; der dem Baß anvertraute Cantus firmus wird dann jeweils von thematischen Vorimitationen der drei Oberstimmen eingeführt und begleitet. Wenn etwa das Kopfmotiv der ersten Zeile nahezu gleichzeitig in drei verschiedenen Notenwerten erklingt (Halbe, Viertel, Achtel), so ergeben sich trotz eines vergleichsweise lockeren Satzbildes allerlei kunsthafte Verknüpfungen. Verschiedene Details der Stimmführung – etwa die Terzführung der Mittelstimmen bei den Worten „in allem Kreuz und Traurigkeit“ – sind ohne eine Kenntnis der Bachschen Vorlage nur schwer vorstellbar. Ähnliches gilt für die Sopranarie „Er kennt die rechten Freudenstunden“, die bei gleicher Besetzung (Streicher), identischem 3/8-Metrum und weitgehend geteiltem Gestus wie ein stilistisch verwandelter Wiedergänger der Arie „Man halte nur ein wenig stille“ aus Bachs Choralkantate BWV 93 wirkt. Insofern darf Mendelssohns Aussage in einem Brief an Franz Hauser vom 16. März 1834, er habe das ihm nachweislich erst zu diesem Zeitpunkt übersandte Bachstück „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ mit besonderem Interesse durchgesehen, „weil ich es noch gar nicht kannte, und deshalb selbst componirt hatte“, mit einer gewissen Vorsicht betrachtet werden. Nicht nur muß man Mendelssohns Absicht im Auge behalten, sich in seinem traditionsbewussten Komponieren ganz zu Recht gegen den Vorwurf bloßer Stilkopien zu verwahren, was verständlich macht, warum er aus der Werkgruppe der Choralkantaten mit „Verleih uns Frieden gnädiglich“ ausschließlich jenes Stück zu Lebzeiten drucken ließ, das mit seiner sinfonischen Klangkonzeption den Vorbildern Bachs am fernsten steht. Mendelssohn hatte auch seit frühester Jugend eine derartige Zahl an Werken Bachs kennengelernt und in so vielen Privatsammlungen und Bibliotheken nach dessen Originalmanuskripten und Abschriften gesucht, dass er die Tonsprache des Altmeisters perfekt beherrschte und ihm das Ausmaß und die jeweilige Herkunft seiner immensen Bach-Kenntnis wohl selbst nicht mehr bis ins letzte Detail bewußt waren. Ein Hinweis dafür könnte die Baßführung des abschließenden Kantatensatzes „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“ sein, die mit ihren Pausen und übermäßigen Sprüngen wohl eindeutig dem Choral „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ aus Bachs „Orgelbüchlein“ entnommen scheint.

Bei aller Bezogenheit auf die lutherische Choraltradition und auf Bach kann dennoch nicht genug auf das eigenständige Erscheinungsbild der Mendelssohnschen Komposition hingewiesen werden. Dies beginnt bereits mit der Instrumentierung, die nur Streicher einschließlich Violoncello und Kontrabaß verlangt und auf Harmonieinstrumente, also jede Fom von Generalbaßrealisierung, völlig verzichtet. Im formalen Design und der Vokalbesetzung der Kantate spiegeln sich zudem die ästhetischen Vorlieben des 19. Jahrhunderts und die Prämissen seines Umgangs mit dem kirchenmusikalischen Erbe.

So spielt der Chor in sämtlichen Choralkantaten Mendelssohns eine dominierende Rolle; anders als in Bachs mehrteiligen Kirchenstücken sind Solosätze eine seltene Ausnahme. Vor allem aber wird der Choral in einer völlig veränderten Weise behandelt. Während Bach sichtbar danach trachtete, die tradierte Substanz des Kirchenliedes in möglichst vielgestaltiger und kunstvoller Weise zu behandeln und er die Dimension des fasslichen Gemeindechorals allein für den Kantatenschluß reservierte, stehen für Mendelssohn als Kind der Aufklärung und Romantik vor allem dessen melodische Verständlichkeit und satztechnisch verbürgte Erhabenheit im Vordergrund. Vor die eigentliche figurale Bearbeitung setzte Mendelssohn deshalb einen schlicht vierstimmigen Satz, dessen Text „Mein Gott, du weißt am allerbesten“ einem Lied von Israel Clauder aus dem Jahr 1699 entnommen wurde , das im Berlin des 19. Jahrhunderts auf die Melodie von „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ gesungen wurde. Die Kantate beginnt also nicht nur mit einem bewußt kunstlosen Exordium, sondern auch mit einem eigentlich „falschen“ Text – in Bachs Zeit zweifellos ein Unding. Für seinen Schlusssatz greift Mendelssohn wiederum mit dem Unisono-Choral auf ein Stilmittel zurück, das in Bachs Kantaten nur äußerst selten und dann in litaneiartigen Zusammenhängen eine Rolle spielt. Der Einklang der Stimmen dürfte dabei in Mendelssohns Komposition auch jene Einigkeit im Glauben meinen, die der Rückgriff auf den Choral trotz aller Widrigkeit der Welt (zerklüfteter Orchestersatz) verkörpern oder sogar herstellen mochte.
Mendelssohn erweist sich damit als ein Tonsetzer, dem die Semantik der auslegenden Kompositionsweise des Barock noch grundsätzlich vertraut ist, der jedoch eine andere Sprache damit spricht.
Seine liturgisch nicht gebundenen und aufführungspraktisch gewissermaßen ortlosen Choralkantaten sind spannende Zeugnisse einer durchaus auch zukunftsgewandten Auseinandersetzung mit dem musikalischen Herkommen. Ihre Darbietung auf historischem (wenn auch nicht klassischem) Instrumentarium betont die Nähe und klangliche Kontinuität zu Bach, ohne die fundamentalen konzeptionellen und stilistischen Differenzen aufzuheben.

Anselm Hartinger