Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Johann Gottlieb Goldberg
Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen

Bachs Leipziger Kantatenschaffen drängt sich auf die Jahre 1723 bis 1727 zusammen und wird danach nur noch durch einzelne Beiträge ergänzt sowie mittels umfangreicher Parodiewerke wie etwa der h-Moll-Messe einer neuen Verwendung zugeführt. Ein kantatenmäßiges Spätwerk des Thomaskantors existiert insofern nicht; inwieweit er auf die ab Mitte der 1730er Jahre zunehmenden Angriffe auf seinen kontrapunktisch und instrumental ausgerichteten Vokalstil produktiv reagierte, wissen wir insofern kaum. Die zunehmenden Aufführungen eingängigerer Werke anderer Komponisten wie etwa Gottfried Heinrich Stölzels stellen in dieser Hinsicht ein gewisses Indiz für Bachs Abwendung vom kirchenmusikalischen Tagesgeschäft dar. Ob es ihm – wie in Mizlers Bericht über eine Aufführung zur Ostermesse 1739 behauptet – zuzeiten gelang, es „anders zu machen“ und seine Musik „nach dem neuesten Geschmack“ einzurichten (Dok II, 436), muß angesichts des Verlustes der genannten Komposition offenbleiben. Umso interessanter ist es, weiterwirkenden Anstößen seines Kantatenschaffens und stilistischen Neuansätzen im Werk seiner Söhne und Schüler nachzugehen. Besondere Aufmerksamkeit können dabei zwei Kantaten Johann Gottlieb Goldbergs beanspruchen, die teilweise unter Bachs eigener Mitwirkung sowie der seiner Kopisten abgeschrieben wurden und nach Forschungen Alfred Dürrs, Peter Wollnys und Kirsten Beißwengers offenbar im Zeitraum 1745/46 in Leipzig entstanden und wohl auch aufgeführt wurden.

Goldberg ist heute nur noch als Namenspatron von Bachs Clavierübung IV und eines – mittlerweile eingegangenen – Alte-Musik-Magazins bekannt. Dabei kann es durchaus sein, daß die auf den ersten Bach-Biograph Forkel und zuvor wohl auf Erzählungen der Bach-Söhne zurückgehende Geschichte, Bach habe die berühmten Variationen im Auftrag des russischen Gesandten am Dresdener Hof, Reichsgraf Keyserlingk geschrieben, um dessen Schlaflosigkeit durch das Spiel seines Kammercembalisten Goldberg abzuhelfen, einen wahren Kern hat. War Bach doch mit Keyserlingk und den Dresdener Musikverhältnissen bestens vertraut und der 1727 in Danzig geborene Goldberg (Gollberg) galt nach zeitgenössischen Zeugnissen als so herausragender Virtuose und „Noten-Fresser“, dass ihm das Blattspiel „seiner“ Variationen ohne weiteres zuzutrauen war. Darüber hinaus genoß Goldberg nicht nur in Dresden den Unterricht Wilhelm Friedemann Bachs, sondern er begleitete Kayserlings Sohn auch zum Studium nach Leipzig, wodurch es zur Bekanntschaft mit Johann Sebastian Bach kam. Daß Goldbergs erhaltene zwei Kantaten – neben dem 12. Psalm noch eine mit fünfstimmigem Chor, Oboen und Streichern besetzte Vertonung des Canticum Zachariae, „Durch die herzliche Barmherzigkeit unsers Gottes“, tatsächlich für das kirchenmusikalische Profil des späten Bach aussagekräftig sind, wird neben ihrer strengen Faktur auch durch die stilistische Wandelbarkeit Goldbergs nahegelegt, der Alfred Dürr zufolge eine „rezeptive Begabung“ besaß und dessen galante Polonaisen und empfindsam-leidenschaftliche Clavierconcerte sich deshalb stark von seinen noblen Streichersonaten und tiefsinnigen Kantaten unterscheiden. Der durchgängig hohe und teils experimentelle Anspruch der Goldbergschen Kirchenwerke kann dabei durchaus mit ihrem Charakter als Studienwerke oder gar Gesellenstücke zusammenhängen.

So sind die umrahmenden großen Ensemblesätze der Kantate „Hilf Herr, die Heiligen haben abgenommen“ jeweils als zweiteilige Formen angelegt, bei denen ein expressiver und gleichwohl reichhaltig durchgearbeiteter Chorsatz von einer mit allen erdenklichen kontrapunktischen Künsten arbeitenden Doppelfuge mit colla parte-Instrumenten abgelöst wird. Daß Goldberg die satztechnische Strenge mit einer souveränen Diktion und Klanglichkeit verbindet, ist ebenso bachisch wie die Einbindung der zuweilen extremen Chromatik in einen konzertant gedachten harmonischen Ablauf, der zudem eminent textgeleitet ist. Auch der Übergang vom Secco-Rezitativ „Der Herr wolle ausrotten alle Heuchelei“ in ein Arioso mit fragendem Schluß scheint zahlreichen Bach-Kantaten abgelauscht. In diesem Sinne handelt es sich bei dem Duett mit zwei obligaten Violinen „Weil denn die Elenden verstöret werden“ um ein aus Bachschen Entwürfen bekanntes Modell eines vokal-instrumentalen doppelten Trios bzw. Terzetts. Goldberg arbeitet hier erneut mit einer intensiven Chromatik, die im zweiten Abschnitt – der durchlaufende Psalmtext gestattete keine Da-capo-Formen - einem beschwingt imitierenden Konzertieren weicht.

Einen in seiner Plötzlichkeit rührenden Umschlag in die hellere Durregion bringt die Tenorarie „Die Rede des Herrn ist lauter“, die nur vom Generalbaß begleitet wird und somit eine neue Aufgabenstellung mit sich brachte. Über einem kantigen Continuoritornell exponiert der Tenor eine flüssige Kantilene von für einen kaum Zwanzigjährigen erstaunlicher Eleganz, die in ihrer Textverteilung zugleich etwas schülerhaft Beflissenes hat.

Der überaus zarte Einstieg in den Schlusssatz „Du Herr, wollest sie bewahren“ leitet in das Ende einer Kantate, die von Bachs frühen Mühlhäuser geistlichen Konzerten über die Leipziger Motetten bis zum Werkstil der h-Moll-Messe und Kunst der Fuge hörbar ein ganzes Epochenstudium an der Hand des Thomaskantors verkörpert und trotz mancher Unfertigkeiten und einer zuweilen übertriebenen Satzdichte bereits eigene Wege einer farbenreichen Klangführung und gespannten Eindringlichkeit beschreitet. Johann Sebastian Bach konnte auf die Arbeiten Goldbergs mehr als stolz sein; Passagen wie das „ewiglich“ des Schlußchores mit seinen träumenden Harmonien und der engelsgleichen Violinstimme dürften ihm ähnlich wie uns ans Herz gegangen sein. Nicht zu Unrecht nannte der Handschriftensammler Georg Poelchau auf dem Titel der durch ihn überlieferten Partitur Goldberg einen „braven Schüler von Joh. Sebast. Bach“.

Von vergleichbarer Stilhöhe sind die ergänzenden Sonaten. Nachdem im Rahmen der Bachkantaten bereits die (lange Bach zugeschriebene) Triosonate C-Dur BWV 1037 aufgeführt wurde, die Alfred Dürr mit erheblichem stilistischem Gespür als Meisterwerk Goldbergs identifizieren konnte, erklingt mit der Triosonate a-Moll ein weiteres Werk aus dem schmalen, bisher jedoch noch kaum gebührend gewürdigten Kammermusikoeuvre Goldbergs (vgl. Dürr 1953, Hartinger 2009). Nach einem gestenreichen Eröffnungssatz folgt eine rasante Fuge, die sich an dem schwierigen Konzept versucht, in drei Durchführungen zunächst das Thema, dann seine Umkehrung und schließlich beide Versionen simultan zu behandeln. Auf ein zartes Siciliano folgt eine abschließende Fuge, die in Melodik und Gestus Sätzen aus Bachs Triosonaten für Orgel – vor allem dem Un poc‘ allegro der Sonate III e-Moll BWV 528 – ähnelt, Stücke, die Goldberg womöglich im Unterricht bei Friedemann Bach kennenlernte, der die zu seinem eigenen Studium bestimmten Trios besaß. Die stilistische Pointe liegt dabei darin, dass Bach schon vor 1730 in einem Idiom schreiben konnte, das den leidenschaftlichen Stil seiner Söhne und Schüler mühelos vorausnahm.

Ebenso auf den Dialog mit dem musikalischen Material und zwischen Vorbildern, Kollegen und Schülern verweist die – Bach bisher nicht abgesprochene – Triosonate G-Dur BWV 1038 für Flöte, Violine und Continuo. Teilt sie doch ihre Continuostimme mit der Sonate G-Dur für Violine solo und Generalbaß BWV 1021, was auf das Konzept eines kompositorischen Austauschs und Überbietens verweist, wie es offenbar Bachs Unterrichtskonzept und seinem intellektuellen Vergnügen als kombinatorischer Tonsetzer entsprach, das er nachweislich mit seinem Sohn Wilhelm Friedemann und wohl auch mit Meisterschülern wie Johann Gottlieb Goldberg teilte. Daß die Violine in für das 18. Jahrhundert schon nicht mehr typischer Weise skordiert ist, die Saiten (in diesem Fall die beiden oberen) also gezielt „verstimbt“ sind, prägt den Traditions- und Etüdencharakter der Sonate weiter aus.                       

Anselm Hartinger

 
   
   

BWV 33
Allein zu dir, Herr Jesu Christ

Zu den bedeutenden Entdeckungen der Bach-Forschung in den letzten Jahren gehört sicher das Bekanntwerden von originalen Textheften, wie sie offenbar an der Kirchentür der Thomas- und Nikolaikirche in Leipzig verkauft wurden, damit die interessierten Gottesdienstbesucher den Text der jeweils dargebotenen Kantate mitverfolgen konnten. Wie das Textheft zu unserer Kantate, das in der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg entdeckt und jüngst auch faksimiliert wurde, zeigt, sind darin mehrere aufeinanderfolgende Sonntage zusammengefasst, mit Angabe der jeweiligen Kirche, in der die Aufführung stattfand. Demnach wurde „Allein zu dir, Herr Jesu Christ“ am 3. September 1724 erstmals in der Leipziger Thomaskirche aufgeführt. Zugleich ist mit der Existenz eines separat erhältlichen und gedruckten 'Libretto' unterstrichen, welche Bedeutung dem in einer Kantate vertonten Text zukommt: Es muss nicht nur auf eine allgemein vorhandene Kenntnis des theologischen Texthintergrundes und ein Verständnis für Anspielungen rekurriert werden, sondern nun steht fest, dass der Text ganz konkret mitverfolgt und auch Anspielungen und Zitate zu entdecken waren – die Vertonung ist so für die mitlesenden Zuhörer in erster Linie eine Textlesung.

Wie vielen anderen sogenannten 'Choralkantaten' Johann Sebastian Bachs in seinem zweiten Leipziger Amtsjahr liegt ihr ein Choral von Konrad Huber zugrunde, der erstmals 1540 nachweisbar und in den Gesangbüchern unter der Rubrik „Von der Busse und Beichte“ dem 13. oder mehr noch dem 14. Sonntag nach Trinitatis zugeordnet ist. Die Lesung dieses Sonntags behandelt das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (in Lukas 10), dort als Antwort auf die Frage erzählt, wie das ewige Leben zu erreichen sei. In Hubers Kirchenlied, von dem Bach die beiden Randstrophen wörtlich übernimmt und ebenfalls an Beginn und Ende seiner Kantate stellt, wird vor allem die innige Bitte an Jesus als einzig möglichen Tröster der menschlichen Not ausgedrückt. Dazwischen sind von einem unbekannten Dichter – vielleicht handelt es sich um den ehemaligen Konrektor der Thomasschule, Andreas Stübel – Rezitativ- und Arientexte gesetzt, die freier mit der Vorlage umgehen (bis auf ein einziges weiteres wörtliches Zitat im Tenor-Rezitativ, den Anruf „[Gib mir nur aus] Barmherzigkeit den wahren Christenglauben!“). Es lassen sich Anspielungen und Paraphrasierungen anderer Bibelstellen finden, die den damaligen Hörern (und Lesern) vermutlicher vertrauter als heute waren. Gleichwohl ergibt sich insgesamt ein kohärenter Ablauf, in dem es um die Bitte an Gott geht, trotz des menschlichen Ungenügens und der täglichen Sünden Vergebung zu gewähren.

Auch musikalisch liess sich Bach von der Choralvorlage anregen, in dem er das Ritornellthema im Eingangschor aus der Choralmelodie ableitete, die nach einem furiosen konzertierenden Instrumentalbeginn im Sopran vorgetragen wird, die übrigen Stimmen kontrapunktieren diese Melodie. Durch den deutlichen Kontrast zwischen lebhaft agierendem Orchestersatz und vergleichsweise anspruchslosen und in ruhigen Notenwerten vorgetragenen Choral („Allein zu dir, Herr Jesu Christ“) wird der Charakter des Kirchenlieds deutlich hörbar.

Das anschliessende Bass-Rezitativ greift die Frage aus der sonntäglichen Lesung des Evangeliums auf (Lukas 10,25-6), die dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter vorangeht („Mein Gott und Richter, willt du mich aus dem Gesetzte fragen“). Das im Rezitativtext angesprochene „Vergebungswort“, das Gott allein kann sprechen, löst einen ariosen Abschnitt aus, der die erwartungsvolle Freude illustriert.

Diese sehr bildhafte Umsetzung des Textes findet sich auch in der folgenden Alt-Arie: Passend zum Text „Wie furchtsam wanken meine Schritte“ gestaltet Bach eine dürre und karge Begleitung mit Dämpfern der ersten Violinen sowie Pizzicato der übrigen Streicher (bzw. Staccato der Tasteninstrumente im Continuo). Nicht genug damit, auch eine auf- und abschwankende Melodik mit grossen Intervallschritten, eine querständige Chromatik und synkopische Rhythmik bildet das furchtsame Wanken der Schritte – Hans-Joachim Schulze fand dafür den treffenden Ausdruck einer „heiklen Wanderschaft“ – und die niederdrückende Sündenlast ab. Nur im Mittelteil ergibt sich ein anderer Duktus zur Passage „doch hilft mir Jesu Trostwort wieder, dass er für mich genung getan“.

Wie bereits erwähnt, ist im folgenden Tenor-Rezitativ ein wörtliches Zitat aus dem Choraltext enthalten, das Bach aber nicht besonders behandelte. Er konzentrierte sich vielmehr auf den rezitativischen Textvortrag (wie etwa mit Betonung des anfänglichen Anruf Gottes, einen musikalischen Halteton zum „halten“ des Textes, Dissonanzen für den Gewissensstreit usw.). Der im Choraltext genannte „wahre Christenglauben“ aber gibt mit den anschliessenden Zeilen („So stellt er [eben dieser wahre Glaube] sich mit guten Früchten ein und wird durch Liebe tätig sein“) das Stichwort für den Charakter des folgenden Duetts von Tenor und Bass, „Gott, der du die Liebe heißt“. Mit einem ja oft für arkadische Klangbilder verwendeten Oboenpaar, das sich mit dem ähnlich geführten Stimmenpaar zu einem wohlklingenden Satz im ruhigen Dreiertakt verbindet, ist die göttliche Liebe evoziert. Eine 'Störung' ergibt sich nur durch die den ruhigen Fluss irritierenden Synkopen zur Textzeile „Stören Feinde (meine Ruh)“. Bereits zu „Ruh“ beruhigt sich das Geschehen wieder und die nachfolgend im Text angesprochene Hilfe Jesu führt zum beruhigenden Fluss zurück. Der abschliessende Choralsatz zeigt vielleicht letzte Ausläufer dieser stets gegenwärtigen 'Störungen',  weist er doch Melismen und ungewöhnlich bewegte Unterstimmen auf.

Wie das genannte Faksimile deutlich macht, wurde die Kantate später mehrfach wiederaufgeführt und dabei auch Änderungen vorgenommen (wie etwa der Einsatz eines zusätzlichen Cembalo für die Continuo-Gruppe oder die Verwendung von Dämpfern für die ersten Violinen im 3. Satz – aber dies geht vielleicht schon auf den Erben Wilhelm Friedemann Bach zurück). Diese Wiederaufführungen auch noch nach dem Tode Johann Sebastian Bachs zeigen die besondere Wertschätzung und bleibende Aktualität gerade dieser Kantate.

Martin Kirnbauer