Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

BWV 68
Also hat Gott die Welt geliebt

BWV 68, erstmals am zweiten Pfingstfeiertag, dem 21. Mai 1725, in Leipzig aufgeführt, beginnt mit einem Bibelwort – mit dem diesem Fest zugeordneten Evangeliumstext Johannes 3, 16-21. Dort berichtet der Evangelist, wie Jesus sich dem Pharisäer Nikodemus als lebendes Zeugnis für den von Gott auf die Erde gesandten neuen Geist der Liebe präsentiert: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Bachs Librettistin, die Leipziger Dichterin Marianne von Ziegler, zitiert aber nur das erste Textglied, um dann mit dem Kirchenliedtext des Thüringer Pfarrers Salomo Liskow von 1675 fortzufahren, was inhaltlich auf die gleiche Aussage hinausläuft, wie sie sich auch bei Johannes findet: Wer sich in die Nachfolge Christi begibt, dem ist das ewige Leben gewiss.

Was Bach aus diesen Vorgaben macht, ist einmal mehr ein Wunderwerk. In einem viertaktigen Vorspiel stellen die unison geführte erste Violine und erste Oboe das den gesamten Satz prägende Motiv vor, eine leicht im 12/8-Takt schwebende, nach Siciliano-Art punktierte Achtelbewegung, in die sich der Sopran mit der ersten Melodiezeile des von Gottfried Vopelius (1645-1715) komponierten Kirchenchorals einmischt, begleitet von den übrigen Singstimmen. Nach einem kurzen instrumentalen Zwischenspiel folgt die zweite Choralzeile, wobei sie der Sopran nun einbettet in die Siciliano-Rhythmik und ihm hier Alt und Tenor imitatorisch folgen. Die dritte Zeile folgt wieder dem anfänglichen Satzschema, während die vierte entsprechend dem imitatorischen zweiten Durchgang gestaltet ist. Zu den Worten „der bleibet ewig unverloren“ erhebt sich, ausgehend vom Bass, ein feierlicher fugierter Aufstieg über Tenor und Alt bis hin zum Sopran, und zu den vertrauensvollen Worten „und ist kein Leid, das den betrübt, den Gott und auch sein Jesus liebt“ gestaltet Bach den Chorsatz weitgehend homophon, während die Melodieinstrumente unbeirrt an ihrem punktierten Achtel-Rhythmus festhalten.

 Die Stimmung freudiger Zuversicht prägt auch die Arie „Mein gläubiges Herze, frohlocke, sing, scherze“, die im übrigen eine kunstvolle, reich instrumentierte Umarbeitung der  schlichten Sopranarie „Weil die wollenreichen Herden“ aus Bachs Jagdkantate Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd (BWV 208) von 1713 darstellt. Eine der hinzugefügten Besonderheiten betrifft die Partie des Violoncello piccolo, eines Instruments, das tiefer reicht als die Violine und höher als das Cello. Der Bachbiograph Johann Nikolaus Forkel (1749-1818) schreibt dazu: „Es wird wie ein Violoncell gestimmt, hat aber in der Höhe eine Saite mehr, ist etwas größer als eine Bratsche, und wird mit einem Bande so befestigt, daß man es vor der Brust auf dem Arme halten kann.“ Dieses Instrument, auch Viola pomposa oder Bassetchen genannt, begleitet den Sopran über einem Basso ostinato mit gleichfalls durch Ostinato-Elemente sowie häufige Sequenzbildungen geprägten Partie. Als weitere Besonderheit folgt auf das Da Capo der kurzen Arie ein ebenso überraschendes wie anmutiges Concertino, gestaltet von Solooboe, Solovioline, Violoncello piccolo und Bass, in dem die ostinate Melodiebegleitung des Violoncello piccolo den Hörern nun unter Mitwirkung von Violine und Oboe in kanonischer Stimmführung vor Ohren geführt wird.

Die nach einem kurzen Rezitativ folgende Bass-Arie stammt gleichfalls aus der Jagdkantate, wo sie zum Text „Ein Fürst ist seines Landes Pan“ dem Hirtengott Pan in den Mund gelegt ist. Bach nahm einige durch den neuen Text notwendigen Änderungen vor, aber er beließ es bei der bei der betonten Viertaktigkeit, dem auftaktigen Quartsprung zu Beginn in der ersten Oboe und der Instrumentation, mit der Ausnahme, dass eine Oboe da Caccia hinzu kommt - alles Elemente, die die Herkunft der Arie aus der Welt von Jagd und Jagdhorn nicht verleugnen. 

Der Schlusschor beginnt mit einem vom Bass im Unisono mit einer Posaune vorgetragenen und vom Generalbass begleiteten, durch markante Quart- und Quintsprünge charakterisierten Fugenthema zu den Worten „Wer an mich gläubet, der wird nicht gerichtet“, dem sodann der Tenor, seinerseits verstärkt durch eine Posaune, und die Bratsche, folgen. Darauf setzt der Alt zusammen mit einer Altposaune, Violino 2 und Oboe 2 ein, und schließlich folgt der Sopran mit dem Sopraninstrument der Posaunenfamilie, dem Zink, sowie mit Oboe 1 und Violino 1.  Zu den Worten „Wer aber nicht an ihn gläubet“ wird ein aus dem Fugenthema entwickeltes zweites Thema nun zum Fugen-Subjekt – aus der Fuge wird eine Doppelfuge. Beide Themen werden nun vielfältig miteinander kombiniert und am Schluss – Bach schreibt für die letzten vier Takte piano vor – blitzt zu den Worten „denn er gläubet nicht an den Namen des eingeborenen Sohns“ im Sopran nochmals das anfängliche Quart-Quint-Thema auf. Beide Aussagen – der Gläubige wird „nicht gerichtet“, der Ungläubige wird „gerichtet“ – sind von größter Tragweite für die Menschheit, und dieser Tragweite wird musikalisch dadurch entsprochen, dass sie in der ebenso ernsthaften wie logischen Fugenform geäußert werden.

 

BWV 174
Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte

Noch prominenter als die Anleihen von BWV 68 an die Jagdkantate sind diejenigen, die Bach für seine Kantate zum Pfingstmontag des Jahres 1729, den 6. Juni, tätigte. Als Eingangs-Sinfonia wählt er den gesamten ersten Satz aus seinem Dritten Brandenburgischen Konzert, das gegen 1714, also in Bachs Weimarer Zeit, entstanden sein dürfte. In diesem Konzert demonstriert Bach geradezu enzyklopädisch, was alles mit einem reinen Streicherensemble darstellbar ist. Als Besetzung wählt er je drei erste und zweite Violinen, drei Bratschen, drei Celli und Generalbass, die alle ihre separate Stimme haben. Die einzelnen Instrumentengruppen sind von geradezu unglaublicher Wendigkeit:  Sie spielen im Verlauf des Satzes  die Tutti im Unisono oder in je unterschiedlich gesetzten Stimmen, die einzelnen Stimmmgruppen alternieren miteinander, es gibt begleitete  solistischen Partien und  Duette, und Stimmgruppen, die eben noch Ripieno-Partien ausführten, wechseln in die Solorolle oder umgekehrt – eine unendliche Vielfalt. Diesen Reichtum des Konzertierens überträgt Bach auf seine Sinfonia zu BWV 174, aber er tut noch ein übriges: Die Satzstruktur bleibt bestehen, ebenso die dreifache Streicherbesetzung, hinzu treten aber zwei Hörner, zwei Oboen und eine Oboe da caccia, jeweils mit neu hinzukomponierten Stimmen, die sich zwar auch, aber keineswegs nur auf die Stützfunktion des schon Vorhandenen beschränken. Vor allem die Hörner sorgen mit ihren brillanten, anspruchsvollen Partien für Pfingstfeuer in diesem Satz von ohnehin schon so ungewöhnlicher Spielfreudigkeit und Klangpracht.

Die Freude an instrumentaler Opulenz war aber wohl nicht nur dadurch verursacht, dass Bach eine musikalische Entsprechung für das Wirken des Heiligen Gestes schaffen wollte. Vielmehr hatte er im Frühjahr des Jahres 1729 die Leitung des  im Caffeehaus Zimmermann tagenden Collegium Musicum übernommen. Dort spielten hervorragende Musiker, die Bach bei Bedarf für seine festlichen Kirchenkantaten «ausleihen» konnte, was er im gegebenen Fall aller Wahrscheinlichkeit nach getan hat. Viel Zeit, den anspruchsvollen Satz zu proben, hatte das Ensemble im Übrigen nicht. Einer im Stimm-Material enthaltenen Notiz zufolge beendete der Kopist seine Arbeit am Pfingstsonntag, dem 5. Juni, also einen Tag vor der Aufführung…

Die dem Eingangschor folgende Alt-Arie ist textlich eine direkte Antwort auf den zugehörigen Evangeliumstext Johannes 3, 16: «Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab …», denn  das christliche Ich singt: «Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüte». Der Text stammt von dem Leipziger Oberpostkommissar Christian Friedrich Henrici (1700-1764), der als Dichter unter dem Pseudonym Picander auftrat. Beginnend mit dem Jahr 1728 veröffentlichte er unter dem Titel Cantaten auf die Sonn- und Fest-Tage durch das gantze Jahr einen kompletten Kantantenjahrgang, in dessen Vorwort er ganz unverblümt der Hoffnung Ausdruck gab, „daß vielleicht der Mangel der poetischen Anmut [der eigenen Dichtungen] durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meisters, Bachs, dürfte ersetzet und diese Lieder in den Haupt-Kirchen des andächtigen Leipzigs angestimmet werden.“ Und in der Tat sind zehn teils fragmentarisch überlieferte Kantaten erhalten, die Picander-Texte aus dieser Sammlung enthalten, unter anderen BWV 174.

Musikalisch steht die Alt-Arie in denkbar starkem Kontrast zur Eingangs-Sinfonia: Dem von rasanten Sechzehntel-Läufen bestimmten Instrumentalsatz steht ein beschaulich sich im 6/8-Takt wiegender Sicilianorhythmus, der überreichen Instrumentation zwei in imitatorischem Satz über dem Generalbass konzertierende Oboen und dem Themenreichtum des Eingangssatzes eine Altpartie gegenüber, die den melodischen Vorgaben der Instrumente folgt.

Ein von den Geigen und Bratschen in der Schwebe gehaltenes Rezitativ, in dem der Tenor die Tagesperikope zitiert, führt zur zweiten Arie. Hier sind Violinen und Bratschen zu einer unison geführten Stimme verschmolzen, was zusammen mit dem betonten Vierertakt sogleich den Charakter des Zupackens der «Glaubenshände» vermittelt, von dem im Text die Rede ist, wobei dieser Charakter trotz des darauf folgenden figurativen Konzertierens von Singstimme und Streichern weithin den Satz bestimmt.

Die dem Thema der Gottesliebe gewidmete Kantate schließt passend mit einem vierstimmigen Choral, dem Kirchenlied «Herzlich hab ich dich lieb, o Herr» des Straßburger Theologen Martin Schalling (1532-1608).

Dagmar Hoffmann-Axthelm