Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Nachdem die Bachkantaten in der Predigerkirche an Ostern 2004 mit dem Osteroratorium eröffnet wurden, stehen nun im letzten Kantatenjahr erneut zwei Osterkantaten auf dem Programm, die beiden Kantaten 134 und 145, die Bach für den 3. Ostertag vorgesehen hatte. Da die letztere in verschiedenen Abschriften auch einen Satz einer gleichnamigen Osterkantate von G.Ph.Telemann enthält, soll auch diese Kantate erklingen. Wir danken der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. Main für die Publikationserlaubnis sowie dem Verlag Prima la musica!, dass er dieses unbekannte Werk nach unserer Anregung ediert hat. Die Hörerinnen und Hörer der Basler Bachkantaten kommen somit in den Genuss einer erstmaligen Wiederaufführung.

 

BWV 134
Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiss

Dieses Werk geht zurück auf eine weltliche Köthener Urfassung (BWV 134a), die Bach mehrfach umgearbeitet hat (1719, 1724, 1731). Nach 1731 entstand eine neue revidierte und verbesserte Partitur; diese Version liegt unserer Betrachtung und Aufführung zu Grunde. Die Bestimmung ist der 3. Ostertag; 1731 wurde die Kantate gemäss dem erhaltenen Textdruck in der Nicolai-Kirche aufgeführt. Die weiteren Aufführungen lassen sich nicht eindeutig belegen. Der Text des unbekannten Dichters behandelt allgemeines österliches Gedankengut, mit lockerem Bezug zum Tagesevangelium (Luk 24,36–47). Alle drei Rezitative sind neukomponierte Dialoge für Alt und Tenor. In der ursprünglichen Köthener Serenata waren diese Dialoge den mythologischen Figuren der Zeit und der göttlichen Vorsehung zugeordnet. Eine solche Zuordnung lässt sich hier nicht mehr eindeutig vornehmen, sprechen doch beide Sänger aus der Sicht der Jünger, denen Christus nach seiner Auferstehung erschienen ist. Diese tröstliche Erfahrung ist Grund zur Freude und zum dankbaren Jubel. Schon im Rezitativ (1) bricht die Freude in ariosen Triolenmotiven unvermittelt auf. Die Arien und Chöre wurden in ihrer musikalischen Substanz nahezu unverändert von der Köthener Vorlage übernommen. Die menuettartige Arie (2) für Tenor, Oboen und Streicher lädt die Gläubigen dazu ein, liebliche Lieder zu singen. Dabei lässt Bach die Tenorstimme sechs Mal aussergewöhnlich hoch bis ins b1 steigen. Was in der Vorlage (BWV 134a) ein fanfarenartiges Jauchzen war („auf, auf, auf, auf“), wird hier zum exaltierendes Gotteslob. Das folgende Rezitativ (3) reflektiert in dramatischen und plastischen Gesten die Osterbotschaft. Am Ende wird der „Liebe Kraft“ wie ein „Panier“, d.h. ein österliches Banner als Siegeszeichen vorgeführt, was einem gläubigen Christen auch durch den Tod nicht genommen werden kann. Im Duett (4) für Alt, Tenor, Streicher und konzertierende Solovioline bleibt der Grundaffekt des „Streitens und Siegens“, ja des „lieblichen Streitens“ (kämpferische Figuren aber milde Es-Dur-Tonart) auch in der Osterkantate erhalten. Er wird umgewandelt in den Ausdruck von Dank und Preis (A-Teil), er tröstet und stärkt die „streitende Kirche“ (B-Teil). Das Rezitativ (5) richtet sich direkt an den auferstandenen Jesus. Seine Kraft und sein Segen mögen den Dank und die Erkenntnis des Glaubens über den Tod hinaus bewirken. Ein mit 316 Takten sehr umfangreicher Chorus (6) „Erschallet ihr Himmel“ in der Form A–B–A beschliesst diese Kantate. Bach spielt mit einem konzertanten Ritornell, das er fragmentierend und sequenzierend durch das ganze Stück laufen lässt. Dazu kommt ein weitgehend homorhythmischer, hymnischer Chorsatz. Durch Heraushebung einzelner Klanggruppen (Oboen, Streicher, Sänger) wird über weite Strecken ein Concerto grosso-Effekt erzielt. Im Mittelteil kommt das Fugato als zusätzliches Kompositionsmittel hinzu („er tröstet und stellet als Sieger sich dar“). Merkwürdig bleibt die Tatsache, dass Bach in dieser Kantate – wie übrigens auch im Osteroratorium BWV 249– völlig auf Choräle verzichtet.

 

G. Ph. Telemann: TWV 1:1350
So du mit deinem Munde bekennest Jesum

Am 10. Juli 1721 wurde Georg Philipp Telemann als Nachfolger von Joachim Gerstenbüttel (1647–1721) als director musices und Kantor am Johanneum berufen. In dieser Funktion hatte Telemann fünf Hauptkirchen in Hamburg mit sonntäglichen Kantaten im Wechsel zu versorgen. Ausserdem lieferte Telemann regelmässig Kantaten für die Frankfurter Kirchenmusik und ab 1717 für den Eisenacher Hof. Unsere Kantate „So du mit deinem Munde“ ist sehr wahrscheinlich für das Osterfest am 28. März 1723 entstanden und möglicherweise zeitgleich in Hamburg und in Eisenach aufgeführt worden. 1) Der Text des ersten Chorsatzes ist ausRöm 10,9 entnommen; die übrigen Texte stammen aus dem sog. ersten „Lingenschen Jahrgang“ des Eisenacher Archivsekretärs Hermann Ulrich von Lingen. Beim Schlusschoral handelt es sich um die ersten beiden Strophen des Osterliedes „Erschienen ist der herrlich Tag“ von Nikolaus Hermann (1561).

Diese Kantate ist in verschiedenen Abschriften und Drucken erhalten. Für die Edition wurde nur die Hauptquelle Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, MS. Ff.Mus.1373 berücksichtigt, da sie eine sorgfältige Abschrift mit Originalkorrekturen darstellt und zusammen mit dem erhaltenen doppelten Stimmensatz durchaus ausreichende aufführungspraktische Informationen liefert. Es liegen eine Partitur sowie zwei Stimmensätze vor. Als Schreiber der Partitur konnte der sogenannte Frankfurter Kopist A, der Stimmensätze die Frankfurter Kopisten A, B, C, und Johann Balthasar König (1691-1758) identifiziert werden.

Telemann verwendet in dieser festlichen Osterkantate eine aussergewöhnliche Besetzung, indem er zu den durch Oboen verdoppelten Streichern nicht nur drei Trompeten und Pauken hinzufügt, sondern für zwei Sätze auch noch ein Glockenspiel. Damit ist jedoch nicht ein Turmglockenspiel gemeint, wofür an vielen Orten spezielle Spieler angestellt waren, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach ein Tastaturglockenspiel, wie es z.B. auch von Mozart in der Zauberflöte verwendet wurde.

Die Kantate beginnt mit einer bewegten Sinfonia (1) für Trompete, Oboen, Streicher und Basso Continuo, die die Thematik des folgenden Chorsatzes vorwegnimmt. Zusammen mit der Trompete, die nur einzelne Themen anspielt, sind im Grunde fünf Partitursysteme gegeben. Da immer wieder zwei Stimmen unisono geführt werden, entsteht allerdings nur ein drei- bis vierstimmiges Satzgefüge, das die konsequente Fünfstimmigkeit fast nie erreicht. Der nachfolgende Chorus (2) beginnt mit einem teilweise kanonisch geführten Duett zwischen Sopran und Alt über den Text „So du mit deinem Munde bekennest Jesum...“. Erst auf das Ende dieses langen Vordersatzes setzt der Chor samt der colla parte geführten Instrumente imitatorisch ein „so wirst du selig werden“ und beschliesst diesen Eingangschor mit einem überschwänglichen Fugato, das den Charakter einer sich fast in kosmische Weiten ausbreitenden Seligkeit hat, mündend in einen etwas archaisch anmutenden Plagalschluss mit lange ausgehaltenen Grundakkorden. Nun (3) überhöht das Glockenspiel mit seinem silberhellen Klang das durch rhythmisch prägnante, springende Figuren (Daktylus–Anapäst) geprägte Vorspiel zur Tenorarie „Jauchzet und erfreuet euch, Christus ist erstanden“. Im weiteren Verlauf lässt Telemann einzelne Instrumentalstimmen und Klanggruppen mit dem Tenor dialogisieren und erreicht dadurch eine sehr aufgelockerte, gut durchhörbare Struktur. Einen starken Kontrast dazu bildet die geradezu abbildliche Vertonung der Passage „Ging unsers Lebens-Sonne nieder blutrot in jene Toten-See“: Das Leben in den kleinen rhythmischen Motiven ist verschwunden, die Bewegung stockt und wird nur abwärts geführt, um kurz darauf jedoch wieder freudig aufzusteigen („und steigt viel schöner in die Höh“). Das folgende Altrezitativ (4) ist geradezu ein Musterbeispiel für vielfältige rhetorische Rezitativkünste mit schnell wechselnden Affekten, beginnend mit einem schlichten secco („Wer seinen Jesum“), über ein accompagnato mit ruhig getragenen Streicherakkorden („des Heilands Tod“), isolierte forte-Akkorde („triumphierend auferstanden“) bis zu einem ariosen Ende („zum Leben auferstehn“). In der gleichen Besetzung wie Satz 4 ist auch die Bassarie (5) „Lasst die Freuden Lieder schallen“ gehalten. Auf dem Hintergrund eines marschartigen Rigaudonsatzes entfaltet Telemann klangmalerische und sehr originelle Figuren, wie z.B. das auseinandergerissene und mit einem Echo von Trompeten und Glockenspiel versehene Wort „erschallen“ oder das geradezu übertriebene Herabstürzen von Tod und Teufel (Sprünge in den Streicherstimmen von knapp zwei Oktaven). Nicht weniger eindrücklich sind die aufsteigenden und überraschend sphärenhaften Sequenzen auf „Heiland“ und „schön“. Ein homorhythmischer Schlusschoral (6), zu dem das volle Bläserensemble samt Timpani einen eigenen blockartigen Satz beisteuert beschliesst eine Kantate, die Telemann von seiner äusserst fantasievollen und meisterhaften Seite zeigt. Besetzung, Kompositionsart und rhetorische Mittel werden effektvoll eingesetzt und stehen doch ganz im Dienste des Textausdrucks.

 

BWV 145
So du mit deinem Munde bekennest Jesum /
Ich lebe, mein Herze, zu deinem Ergötzen

Dieses Werk ist nur in relativ späten Abschriften und unter zwei unterschiedlichen  Titeln überliefert, die zwei verschiedene Fassungen dokumentieren: a) eine längere  Version mit dem Titel „So du mit deinem Munde“ und eine andere b) mit dem Titel „Ich lebe, mein Herze“ ohne die beiden Eingangssätze. Diese geht zurück auf den Textdruck von Picander von 1728, jene auf die ältesten erhaltenen musikalischen Quellen. Dürr favorisiert in der NBA die kürzere Fassung und ordnet sie zeitlich dem 19. April 1729 zu; für unsere Aufführung gehen wir von der längeren Version aus, stellen allerdings die Reihenfolge leicht um, was im Folgenden begründet wird.

Erst wenige Jahre vor der Edition dieser Kantate durch A. Dürr in der NBA (1956) wurde der schon von Philipp Spitta (1873) geäusserte Verdacht bestätigt, dass der Satz „So du mit deinem Munde“ nicht von Johann Sebastian Bach stammt, sondern von G.Ph. Telemann (Bach-Jahrbuch 1951-1952). Die Vorstellung, dass der Thomaskantor fremde Sätze in seine eigenen Arbeiten integriert haben sollte, passte nicht ganz in das Bild des genuinen und erhabenen Komponisten Bach. Auf diesem Hintergrund ist vielleicht erklärbar, warum die Bewertung der zugegebenermassen verworrenen Quellensituation in der NBA zugunsten der vermeintlichen originalen Bachsätze ausgefallen ist. Fast 60 Jahre später profitieren wir nicht nur von einer inzwischen umfangreicheren Telemann-Rezeption, sondern auch von einer erweiterten Sicht auf den kirchenmusikalischen Alltag J.S. Bachs. Dies erlaubt uns, die Hinzunahme von fremden Kompositionen nicht nur als aus der Not geboren zu betrachten, sondern durchaus auch als Zeichen der gegenseitigen kollegialen Wertschätzung. Zumal Bach und Telemann sich freundschaftlich und familiär verbunden waren, war Telemann doch Patenonkel von von Bachs zweitältestem Sohn Carl Philipp Emanuel. Unklar bleibt allerdings, ob die zwei zusätzlichen Sätze von Anfang an in die Kantate integriert wurden oder erst später hinzukamen. Der Vermutung, dass es sich bei dieser Kantate wie bei anderen dieses Jahrgangs um die Parodie eines Köthener Werks handeln könnte, wird in der neueren Bachforschung widersprüchlich behandelt. 2)

Die Kantate beginnt mit dem Eingangssatz aus der gleichnamigen Kantate Telemanns (Besprechung siehe oben). Gegenüber der Version Telemanns sind nur wenige Details verändert, u.a. weisen die Continuostimmen nicht explizit ein Cembalo aus. Darauf folgt ein vierstimmiger Choral, die erste Strophe des Liedes  „Auf mein Herz, des Herren Tag“ von Caspar Neumann (Breslau um 1700). Dieser Satz wurde in der Sammlung von Bachs vierstimmigen Chorälen (1784–1787) erstmals gedruckt, konnte aber jüngst als eine Komposition Carl Philipp Emanuel Bachs nachgewiesen werden 3) . Demnach kann unsere Kantate als ein veritables Pasticcio bestehend aus Kompositionen Johann Sebastians, Carl Philipp Emanuels und Telemanns angesehen werden.

Nun beginnt das Kernstück der Kantate, dem ein Textdruck von Picander für den dritten Oster-Feiertag zugrunde liegt, entnommen aus dessen Sammlung von „XV. Cantaten auf die Sonn- und Fest-Tage durch das gantze Jahr“ (Leipzig 1729). Es besteht aus einem Gespräch zwischen Jesus und der Seele, einem Rezitativ („Nun fordre, Moses“), einer Arie („Merke, mein Herze“) einem weiteren Rezitativ („Mein Jesus lebt“) und einem Schlusschoral (14. Strophe des Osterliedes „Erschienen ist der herrlich Tag“). Bach wählt für die erste Arie die naheliegende Form eines Duetts zwischen Sopran (Seele) und Tenor (Jesus), dazu eine Solovioline, die in vielfältigen spielerischen Figuren das neue Leben durch Christus zum Ausdruck bringt. Das erste Rezitativ betont die Befreiung vom Gesetz Moses’ und schliesst mit den Adagio vorzutragenden Worten „Mein Herz, das merke dir!“ Diese Aufforderung wird zum Motto der folgenden zweiten Arie, die Bach dem Bass-Sänger zuteilt; er wird tänzerisch-konzertant von Trompete, Traversflöte, Oboen und Streichern begleitet. Auffallend sind die immer wiederkehrenden viertaktigen Unisono-Stellen in den Orchesterpartien. Sie wirken sehr einprägsam und geben dem ganzen Satz einen affirmativen und auch stilistisch modernen Duktus. Am Schluss bleibt dieses Motiv tatsächlich als Merksatz hängen: „Merke nur dies, ... dass dein Heiland lebend ist.“ Im zweiten Rezitativ wird der eschatologische Bogen vom Gedanken an den eigenen Tod bis zur „Himmelsherrlichkeit“ gespannt. In dieser Heilsgewissheit kann auch der abschliessende Choral, in den noch einmal das ganze Ensemble miteinstimmt, fröhlich intoniert werden. In wenigen textlichen Einzelheiten weicht Bach von Picander ab; es muss offen bleiben, ob es sich dabei um Schreibfehler der Kopisten oder um bewusste Varianten Bachs handelt.

Jörg-Andreas Bötticher

 

1) Nähere Angaben hierzu in der neuen Ausgabe dieses Werkes in: Prima la Musica!, TEL072, ed. by Cosimo Stawiarski, St. Peter-Ording 2012.

2) Küster 1999, S. 347; dagegen Schulze 2006, S. 193.

3) Hans-Joachim Schulze, „Vierstimmige Choraele, aus den Kirchen Stücken des Herrn J.S. Bachs zusammen getragen“. Eine Handschrift Carl Friedrich Faschs in der Bibliothek der Sing-Akademie zu Berlin, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 2003, S. 11.