Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Die beiden Kantaten, die im heutigen Konzert erklingen, gehören auf den 2. Februar. An diesem Tag wird das Fest Mariä Reinigung gefeiert, das auch den Namen Darstellung Jesu im Tempel oder Mariä Lichtmess trägt. Das biblische Geschehen, das dem Fest zugrunde liegt, wird in der Kindheitsgeschichte Jesu (Lukas 2, 22-32) erzählt, dass nämlich Maria und Joseph mit dem Kind am 40. Tag nach dessen Geburt in Erfüllung des alttestamentlichen Gesetzes nach Jerusalem in den Tempel gegangen seien zur Reinigung der Mutter, zur Darstellung des erstgeborenen Sohnes und zur Darbringung des vorgeschriebenen Opfers. Dabei kam es zur Begegnung mit dem greisen Simeon, dem die Verheissung zuteil geworden war, er werde nicht sterben, er hätte denn zuvor den Gesalbten des Herrn gesehen. Als nun das Kind Jesus in den Tempel gebracht wurde, erkannte Simeon in ihm den erwarteten Messias. Er nahm es auf die Arme und sprach sein berühmtes "Nunc dimittis": "Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren, wie du gesaget hast." Dieser Text hat in der christlichen Tradition durch alle Jahrhunderte hindurch eine grosse Rolle gespielt, in der kirchlichen Liturgie ebenso wie in der privaten Frömmigkeit, und so ist er auch aus den Kantaten zum Fest Mariä Reinigung nicht weg zu denken.

Das gilt nun auch für die Kantate BWV 83 Erfreute Zeit im neuen Bunde, die am 2. Februar 1724 in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr zum ersten Mal aufgeführt wurde. Das originale Textheft hat sich erhalten. Von der Simeonsgeschichte ausgehend hebt der unbekannte Dichter in der Eingangsarie zwei Hauptmerkmale der erwünschten und jetzt angebrochenen Zeit des neuen, vom Propheten Jeremia (31, 31) verheissenen Bundes zwischen Gott und den Menschen hervor: Es ist der Glaube, der das Kind in den Armen hält, und darum hat der Tod seine Schrecken verloren. Bachs Vertonung der Arie Nr. 1 ist gross angelegt. Dem Festtag entsprechend ist das Orchester durch zwei Hörner erweitert, und die ausgedehnten Umrahmungs- und häufigen Zwischenspiele sorgen für eine respektable Länge der Arie. Zu erwähnen ist auch die Rolle der Solovioline, die im etwas kürzeren und leiseren Mittelteil, in dem von der letzten Stunde und vom Grab die Rede ist, das Läuten des Sterbeglöckleins musikalisch nachahmt, auch wenn dieses im Text selbst nicht vorkommt. Die Arie wird nicht von der Bassstimme gesungen, wie man dies im Zusammenhang mit Simeon erwarten könnte, sondern vom Alt. Es geht hier also nicht um die biblische Gestalt des Simeon, sondern um "Jedermann", und so ist ja auch im Text von "unserem Glauben" die Rede. Wenn man aber trotzdem an eine bestimmte Person denken möchte, so könnte es die betagte Prophetin Hanna sein, die nach dem Bericht des Lukas ebenfalls im Tempel war, hinzutretend den Herrn pries und von ihm redete "zu allen, die da auf die Erlösung zu Jerusalem warteten". Hanna ist auf den bildlichen Darstellungen der Geschichte oft zu sehen, und manchmal erinnert sie – wie z. Bsp. bei Giotto – an eine Sibylle.

Die Komposition des zweiten Kantatensatzes, welcher nun der Bassstimme zugeteilt ist, ist von singulärer Art. Am Anfang und am Ende stehen Verse aus dem Lobgesang Simeons: "Herr, nun lässest du deinen Diener im Friede fahren", die auf die Melodie des VIII. Psalmtons gesungen und von einem kanonisch geführten selbständigen Orchestersatz eingerahmt und begleitet werden. Zwischen diesen beiden Choralteilen liegt ein Secco-Rezitativ, in dem sich der Sänger – es ist noch immer der Bass – mit der Problematik des Todes auseinandersetzt. Dabei werden seine Überlegungen zweimal durch den kanonischen Orchestersatz unterbrochen, und zwar geschieht dies nach den wichtigen, der gängigen Vorstellung vom Tod widersprechenden Worten "Leben" und "zum Frieden bringen". Da der Heiland nun, so heisst es weiter, "der Augen Trost, der Herzen Labsal" ist, kann die Todesfurcht vergessen und der freudige Ausspruch getan werden: "denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern." Die darauf folgende Tenorarie Nr. 3 "Eile, Herz, voll Freudigkeit vor den Gnadenstuhl zu treten" lehnt sich fast wörtlich an eine Bibelstelle aus Hebräer 4,16 an. Das zentrale Wort darin ist das Wort "Gnadenstuhl". Es ist eine Schöpfung Martin Luthers, der damit den Deckel der alttestamentlichen Bundeslade bezeichnet hat. Dieser Deckel ist der Ort der Gegenwart Gottes, und er ist der Ort, wo Gott am Versöhnungstag durch Opferblut versöhnt wird. Im Neuen Testament wird das Wort auf Christus übertragen; denn er ist nach christlichem Verständnis die Erfüllung des alttestamentlichen Gnadenstuhles, bei dem jetzt Barmherzigkeit und Gnade zu erlangen sind. Und nun ist es in der lutherischen Theologie im Anschluss an Martin Luther üblich geworden, bei der Auslegung von Simeons Lobgesang nach der Aussage: "welchen du bereitet hast vor allen Völkern" von Christus als dem Gnadenstuhl zu reden –­ genau an dem Ort also, wo es auch in unserer Kantate geschieht. In Bachs Vertonung wird der Aufforderung, freudig eilend vor den Gnadenstuhl zu treten, durch bewegte Sechzehntel-Läufe in der Singstimme und in der obligaten Violine nachgekommen.

Bisher standen alle drei Kantatensätze in den Durtonarten F-dur bzw. B-dur. Im Rezitativ Nr. 4 tritt nun aber ein Wechsel nach d-moll ein. Wie die Arie Nr. 1 ist es der Altstimme zugeteilt, und auf deren beide Themen: Glauben und Tod wird nun auch noch einmal eingegangen, und zwar so, als müssten Einwände gegen die in der Arie laut gewordene Zuversicht mit einem zweifachen bekräftigenden Ja aus dem Weg geräumt werden: Ja, der Heiland wird die Glaubenszweifel beseitigen, ja, er wird sein Licht auch im Tod selbst leuchten lassen. Mit dieser Hervorhebung von Helligkeit und Licht ist der Bezug zum Schluss des Canticum Simeonis hergestellt, wo vom Licht für die Heiden und vom Preis des Volkes Israel die Rede ist. In der Kantate wird dafür als Schlusschoral die vierte Strophe von Luthers Umdichtung von Simeons Lobgesang: "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" verwendet: "Er ist das Heil und selig Licht für die Heiden, zu erleuchten, die dich kennen nicht und zu weiden. Er ist seins Volks Israel der Preis, Ehr, Freud und Wonne." 

Auch in der zweiten Kantate des heutigen Abends ist vom Licht die Rede: Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kömmt (JLB 9). Sie stammt nicht von Johann Sebastian Bach, sondern von seinem entfernten Vetter Johann Ludwig Bach (1677-1731), der von 1711 an Hofkompositeur in Meiningen war. Als solcher war er dort für das ganze vielfältige Musikleben verantwortlich, und dazu gehörte auch die Komposition von Kantaten für die Gottesdienste in der Schlosskapelle. 21 dieser Kantaten sind erhalten geblieben, 18 davon dank Abschriften von Johann Sebastian Bach, da dieser sie vom Februar bis September 1726 im Gottesdienst in Leipzig aufgeführt und das Notenmaterial dafür hergesellt hatte. Die Texte wurden im selben Jahr in einem Textbuch mit dem Titel "Sonn- und Fest-Tags-Andachten in Rudolstadt zur Ehre Gottes aufs Neue aufgelegt". Die Reihe der von Bach aufgeführten Kantaten beginnt am 2. Februar mit der Kantate "Mache dich auf, werde licht" zum Fest Mariä Reinigung. Die Kantate ist zweiteilig, wie andere Kantaten von Johann Ludwig Bach auch, und ihre Form besteht darin, dass der erste Teil mit einem Zitat aus dem Alten Testament beginnt und mit einem solchen aus dem Neuen endet, während der zweite Teil in einen Chor mit direkt anschliessendem Choral mündet. Das Orchester besteht üblicherweise aus zwei Violinen, Viola und Generalbass. Dazu kommen in unserer Kantate zwei Oboen, die ganz gezielt eingesetzt werden, sei es, dass sie einen eigenen Part haben oder mit den Streichern colla parte gehen, sei es, dass sie mit einem kleinen Solo ein besonderes Glanzlicht setzen oder dass sie schweigen!

Der Arie Nr. 1 für Bass, die etwas von der Grösse Händelscher Musik an sich hat, liegen die Verse 1 und 2 aus dem 60. Kapitel des Propheten Jesaja zugrunde. Sie ist dem Text entsprechend dreiteilig, und so steht in der Mitte – eingerahmt von zwei festlichen Vivace-Teilen – ein dunkles Adagio, in dem sehr eindrücklich die das Erdreich bedeckende Finsternis gemalt wird und in dem die Oboen schweigen. Im folgenden Duett Nr. 2 für Sopran und Tenor über die Fortsetzung des Jesajatextes wird das Wandeln der Heiden im Licht und der Könige im aufgehenden Glanz besungen. Die Gesangsstimmen werden nur vom Continuo begleitet, bis dann am Schluss die Streichinstrumente mit einem überraschenden Einsatz den Glanz von Gottes Herrlichkeit aufleuchten lassen. Das Altrezitativ Nr. 3 und die Sopranarie Nr. 4 meditieren über Licht und Finsternis, wobei es beide Mal vor allem darum geht, einen Bezug zum individuellen Menschen herzustellen. Da die schwarze Nacht bei der Schöpfung entfliehen musste, "wie sollst du denn nicht auch durch deine Nebel dringen?", fragt sich der Alt, wobei das Secco-Rezitativ an dieser Stelle in ein Arioso übergeht, und "Weicht, ihr Schatten, weil der Herr mein Licht will sein", singt der Sopran. Den neutestamentlichen Abschluss des ersten Kantatenteils bildet die rhythmisch akzentuierte Arie Nr. 5 mit dem Lobgesang des Simeon aus Lukas 2. Er wird von der Tenorstimme gesungen, und als Instrumente wirken die beiden Oboen und eine Viola mit. Eindrücklich ist, wie bei der Aussage: "wie du gesaget hast" die erste Oboe  solistisch mitspielt und am Schluss beim "Preis deines Volkes Israel" beide Oboen.

Der zweite Teil der Kantate beginnt mit der im 12/8-Takt stehenden Arie Nr. 6 für Alt: "Herr, dein Wort, das ist geschehen und mein Herz ist freudenvoll". Darin wird dem von Simeon Gesagten nachgegangen, und auch hier ist der Bezug auf das Ich ein wichtiger Bestandteil. Interessanterweise meinen Barbara Schwendowius und Julia Rosenmeyer, die Verfasserinnen des Begleittextes zur CD-Aufnahme des Werks durch Hermann Max, man könnte dabei an die Seherin Hanna denken, die wie Simeon im Tempel war und im Jesuskind die Prophezeiung des Messias als erfüllt ansah. Die Arie ist für zwei Oboen, Viola und Basso continuo gesetzt, und auch in ihr werden einzelne Aussagen der Singstimme auf eindrückliche Weise von der ersten Oboe solistisch begleitet. So das Wort "freudenvoll" und vor allem der Satz: "weil ich deinen Sohn gesehen, der mich selig machen soll". Das Rezitativ Nr. 7 lässt alle vier Stimmen zu Wort kommen, rezitativisch und arios im Wechsel. Sein Anliegen ist die Verbreitung des Evangeliums in alle Welt, auf dass allen Menschen der hohe Glanz aufgehe und sie – angesteckt von der Fackel des Wortes – "gleich wie wir nach deinem Christum sehen". Vom ganzen Orchester unterstützt bittet der Chor in Satz 8 um die Erfüllung dieses Wunsches, und er bittet darum, nach der Himmelspforte geführt zu werden durch Christus, der, wie es im direkt sich anschliessenden Choral heisst, "der Weg, das Licht, die Pfort, die Wahrheit und das Leben ist". In einen unabhängigen Orchestersatz hinein werden zwei Strophen des aus der Reformationszeit stammenden Liedes "Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen" von Lazarus Spengler gesungen. Es ist dies keines der klassischen, auf Mariä Reinigung gehörenden Lieder wie etwa Luthers Übertragung des Lobgesangs Simeonis, des Altvaters: "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" oder Tobias Kiels Sterbelied: "Herr Gott, nun schleuss den Himmel auf". Im Orgelbüchlein von Bach sind diese beiden Lieder enthalten, das erste mit dem "Seligkeitsrhythmus" vertont, das zweite mit unruhig auf und absteigenden Sechzehnteln, über denen ein zweistimmig geführter Cantus firmus himmlische Ruhe ausstrahlt, beide zusammen den Refrain aller Strophen abbildend: "(ich) lass fahren, was auf Erden, will lieber selig werden."

Helene Werthemann