Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Für den heutigen Kantatensonntag haben wir drei Kantaten ausgewählt, die Bach für die Weihnachtszeit vorgesehen hat. Die beiden Dialogkantaten muten allerdings gar nicht weihnachtlich an, sondern beschäftigen sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven mit Anfechtungen und Leiden: in der Geschichte des Stephanus (BWV 57) und der Flucht nach Ägypten (BWV 58). Die Neujahrskantate (BWV 143) hält trotz Sorgen, Not und Unglück am Lobe Gottes fest und erbittet seinen Segen.

 

Selig ist der Mann, der die Anfechtung duldet (BWV 57)

Am 2. Weihnachtstag, der seit dem 5. Jahrhundert als Gedenktag des Märtyrers Stephanus gefeiert wird, wurde die Stephanusgeschichte aus Apg 6+7 als Epistel gelesen und zum Evangelium ein Abschnitt aus Mt 23, 34–39, der die Stadt Jerusalem anprangert, da sie die Propheten töte. Bach wählt einen Text des Darmstädter Hofpoeten Georg Christian Lehms, den dieser in einer Sammlung von Kantatentexten bereits 1711 unter dem Titel "Gottgefälliges Kirchen-Opffer" veröffentlicht hatte. Der damals 27-jährige Lehms stellt in dem an biblischen Querbezügen und Anspielungen reichen Text gemäss der lutherischen Tradition Abel als Märtyrer des alten und Stephanus als Märtyrer des neuen Bundes dar. Beide sind Verfolgungen und Leiden ausgesetzt und werden für die gläubige Seele zum Vorbild. Ohne Christi Trost müsste sie sich den Tod wünschen. Gestärkt durch Jesu Zuspruch bereitet sie sich jedoch freudig auf ihren Tod vor und übt sich in der ars moriendi, in der Hingabe und im Loslassen, bis hin zum Verschenken der eigenen Seele ("Hier hast du meine Seele"). Lehms gestaltet den Text als einen Dialog zwischen Jesus und der Seele, und auch Bach verwendet diese Rollen in seiner Kantate: Bass (Jesus), Sopran (anima). Durch die Dialogform wird die historische Dimension der Stephanuslegende auf die persönliche Ebene und das innerliche Gespräch gebrochen und reiht sich somit ein in die Tradition der christlichen Brautmystik ("Ich reiche dir die Hand – Ach! süsses Liebespfand").

Die Kantate beginnt mit einem Orgelpunkt im Basso Continuo, der sich beharrlich gegen dissonante Störungen durch die Oberstimmen (Violinen, Oboen) wehrt und erst nach vier Takten in Bewegung kommt. Damit zwingt der Bass seinerseits die Oberstimmen zu Dissonanzen und deren Auflösung. Diese Struktur mit wechselweisen bewegten Motiven und liegenden Tönen wird fortgesetzt und in eine chromatisch absteigende Linie geführt. Bach macht dem aufmerksamen Hörer damit bereits vor dem Einsatz des Sängers deutlich, dass es sich hier um ein dramatisches Geschehen handelt, um einen Kampf, in dem es um Anfechtung und Bewährung geht. Dabei repräsentieren die Liegetöne die Standhaftigkeit, die Dissonanzen die Anfechtungen und die bewegten Achtel den Prozess der Bewährung. Die Sängerworte und deren musikalische Umsetzung bestätigen diese Deutung des instrumentalen Vorspiels und erlauben darüber hinaus eine weiterführende Hermeneutik. Die Verwendung des gleichen Motivs, nämlich eines langen Liegetons für so unterschiedliche Worte wie "Selig, erdulden, bewähren, empfangen, Krone" zeigt, dass bereits im Leiden Seligkeit erfahren, im Erdulden die Krone empfangen werden kann. Die göttliche Welt wird damit nicht ins unwirkliche Jenseits verlegt, sondern bricht in die Lebenswirklichkeit herein. Den Höhepunkt bildet zweifellos das 24-tönige Melisma über dem Wort Krone. Dass Bach hierfür das gleiche Motiv sequenziert, was auch für den Prozess der Bewährung stand und damit die Zacken der Krone nachzeichnet, offenbart einen tiefen theologischen Sinn: Die "Krone des Lebens" ist kein nachträglich aufgesetzter Heiligenschein, sondern ihre Zacken und Spitzen bilden sich aus den im Leiden errungenen Wunden (vgl. die Übersetzung des griechischen Wortes stephanos = Krone).

Ein inhaltlich und harmonisch sehr dichtes Rezitativ (Sopran) leitet mit einem Halbschluss in eine völlig im Konjunktivis irrealis gehaltene Arie über ("Ich wünschte mir den Tod"). Tonart (c-Moll), Taktart (langsamer ¾-Takt), Seufzer und abstürzende Motive zeichnen ein düsteres Bild der Perspektive eines Lebens ohne Jesu Liebe. Zum ersten eigentlichen Dialog kommt es im folgenden kurzen Rezitativ. Die hoffnungslose Trauerstimmung wendet sich in ein heiter-mildes B-Dur und Jesus bestätigt seine Macht in einer kämpferischen Arie im stilo concitato. Wie im 5. Brandenburgischen Konzert oder in manchen Konzerten Vivaldis wird dieser Effekt einer Battaglia erzielt durch die Verwendung von ostinaten rhythmischen Figuren in den Unterstimmen und durchgehenden wiederholten 16tel-Noten in der ersten Geige, in die auf das Wort "schlagen" das ganze Orchester einstimmt und auf diese Weise einen nicht zu überbietenden Text-Musik-Ausdruck erreicht. Im B-Teil wechselt der Charakter völlig: Affirmativ fordert Jesus die Seele, die sich in seufzenden Motiven in Todesangst und Himmelssehnsucht windet, auf, sich zu beruhigen. Erneut spricht er der Seele das ewige Leben zu. Diese kann sich aber damit aber noch nicht zufrieden geben, sondern will in grosser Ungeduld und Liebe schon jetzt mit Christus vereinigt werden. Sie beneidet die Vorausgegangen, da diese wie der heilige Stephanus den Himmel schon offen sähen. In dieser Todessehnsucht ist sie sogar bereit, ihr Leben jetzt schon hinzugeben, was Bach in einer leichtfüssig vorwärtsdrängenden Arie für Sopran, Violine und Basso Continuo ausdrückt. Man gewinnt den Eindruck, als befände sich die Seele schon im Delirium, da sie ihre Phrasen kaum bzw. ohne richtige Kadenzen zu Ende singt. Es ist dies eine der seltenen Arien Bachs, die nicht nur in einer anderen Tonart enden, als sie begonnen haben, sondern auch mit einer offenen Frage: "Was schenkest du mir?"

Als direkte Antwort Christi folgt ein vierstimmiger Schlusschoral. Dafür ersetzt Bach den ursprünglich von Lehms vorgesehen Text durch die 6. Strophe "Richte dich, Liebste, nach meinem Gefallen und gläube" aus "Hast du denn, Jesu, dein Angesicht gänzlich verborgen" (Ahasverus Fritsch 1668). Dieses Kirchenlied – als "Seelengespräch mit Christo" bezeichnet – ist eine melodische Variante des bekannten Chorals "Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren". Die Kantate wurde am 26. Dezember 1725 erstmalig aufgeführt und ist als autographe Partitur und mit den von Bach redigierten Originalstimmen erhalten. Diese sind hinsichtlich ihrer differenzierten Artikulation und Dynamik für die Aufführungspraxis sehr wertvoll.

 

Ach Gott, wie manches Herzeleid (BWV 58)

Diese zum Sonntag nach Neujahr entstandene Dialogkantate liegt in einer fragmentarischen Urfassung vor (vermutlich zum 5.1.1727), sowie in einer überarbeiteten Fassung aus den Jahren 1733/34. Für die zweite Fassung schied Bach das Mittelstück, ein 63taktiges Siciliano in d-Moll für Violine, Sopran und Basso continuo aus und ersetzte es durch eine andere Arie für die gleiche Besetzung. Ausserdem fügte er zwei Oboen und eine Taille für die Rahmensätze hinzu. Bach ordnet diese Kantate seinen Choralkantaten zu, obwohl der Text zwei verschiedene Choräle und auch freie Dichtung enthält. Der unbekannte Textdichter nimmt Bezug auf die Evangeliumslesung aus Mt 2, 13–23, die Flucht nach Ägypten und die Rückkehr nach Nazareth. Er sieht diese Geschichte als Bild für die eigene Lebensreise. Auch die Epistellesung aus 1. Petr 4, 12–19 wird thematisiert: So wie Christus leiden musste, wird der Christ auf seinem Lebensweg leiden müssen und dadurch Seligkeit erlangen. Für die musikalische Darstellung eines Weges bieten sich in der Barockzeit zwei musikalische Formen an: Der basso andante mit gehenden Achtelnoten oder die – in der katholischen Tradition oft für Prozessionen verwendete – Sarabande, mit dem typischen Rhythmus kurz-lang und einem punktierten Gestus. Bach entscheidet sich für letztere und fasst jeweils vier Takte zu einer Phrase zusammen. Ausserdem verwendet er das Lamento-Motiv, eine absteigende chromatische Linie, zunächst im Basso Continuo und danach in loser Folge in den anderen Stimmen. Nach einem 16taktigen Vorspiel intoniert der Sopran die erste Zeile des Chorals "Ach Gott, wie manches Herzeleid" (Martin Moller 1587). Der Bass als Stimme Gottes antwortet ihm unmittelbar mit "Nur Geduld..." In solchem Zwiegespräch klagt die Seele nach und nach ihr Leid,  während der Bass zunächst Verständnis äussert für die schwierige Situation, "die böse Zeit". Der "Gang zur Seligkeit" wird mit Figuren aus dem Orchestervorspiels dargestellt und mündet in ein langes andanteartiges Melisma. Das Gegensatzpaar Schmerz-Freude arbeitet Bach plastisch heraus mit der Gegenüberstellung des Lamento-Motivs und einer 36-tönigen Koloratur. Ausführlicher begründet der Bass im folgenden Rezitativ Gottes Zuwendung, worauf die Seele eine zuversichtliche und fast fröhliche Arie anstimmt. Solchermassen getröstet folgt die Seele wie Josef im Traum dem Fingerzeig des Engels und wandert in ein anderes Land. Die Sehnsucht, dieses Land Eden bereits jetzt schon zu erreichen, drückt Bach in einem berührenden Arioso aus. Der konzertante Schlusssatz, dessen Thema aus dem Dreiklang des Motivs "Nur getrost" gewonnen wird, bleibt wie der Einleitungssatz in der vokalen Zweistimmigkeit eines Dialogs zwischen der Seele und dem Bass als vox dei. Das Bild der Reise, das sich durch die ganze Kantate zieht, wird treffend in der Choralstrophe "Ich habe für mich ein schwere Reis" aufgegriffen, dem zweiten Vers des Liedes "O Jesu Christ, meins Lebens Licht" von Martin Behm (1610). Die klagende Schwere des Kantatenanfangs hat sich hier in eine tänzerische Leichtigkeit verwandelt, die schon etwas von der zu erwartenden Herrlichkeit des Reiches Gottes vorwegnimmt.

 

Lobe den Herrn, meine Seele (BWV 143)

Von der Kantate "Lobe den Herrn, meine Seele" BWV 143 sind nur späte Abschriften erhalten. Eine dieser Quellen nennt das Kirchweihfest (Celle 1762) als Anlass für eine Wiederaufführung, eine spätere den Neujahrstag. Nachdem die Echtheit der Kantate auch schon angezweifelt worden war (Dürr 1977), gab es in jüngster Zeit Versuche, das Werk in eine frühe Schaffensperiode Bachs zu datieren (vor 1710?, z.B. Glöckner 1990, Schulze 2006). Bach verwendet hier ein obligates Fagott, aber keine Oboen. Alle anderen Kantaten mit dieser Besetzung stammen tatsächlich aus der Weimarer Zeit. Einmalig im Bachschen Oeuvre ist die Instrumentierung mit drei Corni da caccia, die in der sogenannten B-alto-Stimmung spielen müssen (vgl. Prinz 2005, S. 142). Das einzige vergleichbare Stück, bei dem zwei Hörner in dieser Stimmung verlangt werden, ist die Kantate BWV 14/2, die allerdings aus einer späten Leipziger Zeit stammt (1735). Diese widersprüchlichen Informationen aufzulösen muss späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.

Der unbekannte Textdichter nimmt drei Verse aus dem 146. Psalm als Basis (Vers 1>Satz 1, Vers 5>Satz 3, Vers 10>Satz 5), dazu zwei Choralverse aus "Du Friedefürst, Herr Jesu Christ" von Jakob Ebert 1601, sowie das ebenfalls aus dem Psalm stammende Alleluja als Schluss. Die frei gedichteten Texte erwähnen eine unbestimmte Kriegs- oder Notsituation (Satz 4), aber auch das "neue Jahr" (Satz 6). Insofern scheint es gerechtfertigt, die Kantate zu Beginn eines neuen Jahres aufzuführen. Die Bitte um Frieden zieht sich wie ein roter Faden durch die Kantate, indem Bach den Choral "Du Friedefürst, Herr Jesu Christ" in drei Sätzen vokal (Satz 2+7) oder instrumental (Satz 6) einbaut.

Wie für die Motette "Singet dem Herrn" wählt Bach hier die Grundtonart B-Dur, die bereits in einer Leipziger Quelle von 1614 als "der Sonnen zugeeignet" beschrieben wurde, und daher "gleich wie die Sonne alles lebhafftig, pralerisch, gravitetisch, ansehnlich vnd prächtig machet" (Abraham Bartolus). Auch Johann Mattheson empfand 1713 diese Tonart als "sehr divertissant und prächtig"; dabei behalte die Tonart aber gerne etwas "Modestes" und könne "zugleich für Magnific und Mignon passiren". Ob Bach nun aus ähnlichen Gründen diese Tonart gewählt hat, oder ob die Klangfarbe und der tonale Rahmen der Hörner für ihn entscheidender waren, lässt sich schwer ausmachen. Unmittelbar wahrnehmbar ist, wie die grossbesetzten Ecksätze dieser Kantate trotz einer kraftvollen Festlichkeit eine gewisse Milde behalten. Charakter und Motivik erinnern an die – übrigens ebenfalls in B-Dur stehenden – Motetten "Singet dem Herrn ein neues Lied" und "Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf".

Die Kürze dieses nur aus der Zeile "Lobe den Herrn, meine Seele" bestehenden Einleitungssatz fällt auf und wirkt formal fast fragmentarisch. Aufgrund der Unklarheit der Überlieferung sei die Frage erlaubt, ob hier vielleicht ein weiterführender B-Teil und das Da Capo des A-Teiles verlorengegangen sind?

Die arpeggierten Dreiklangsfiguren der ersten Arie (Satz 2) sind aus dem nachfolgend vom Sopran gesungenen Choral abgeleitet und ziehen sich durch das ganze Stück wie ein inständiges Gebet. In der zweiten Arie, einem Lamento in der Art eines italienischen adagio e staccato begleiten die unteren Streicher konsequent nur in Achteln und Pausen. Darüber erhebt sich die Solovioline im Dialog mit dem Tenor; beide beklagen das "tausendfache Unglück" in auffallenden chromatischen Wendungen und fliessenden Triolenfiguren, die leicht als Seufzer und Tränen aufgefasst werden können. Im weiteren Verlauf des Textes singt der Sänger davon, dass Not und Sorgen die anderen Länder beträfen, "aber wir" ein Segensjahr sähen. Diese Antithese schlägt sich allerdings nicht sofort musikalisch nieder und man gewinnt den Eindruck, als zweifle der Sänger selbst an dieser Feststellung. Erst in einem quasi entrückten Des-Dur-Akkord, der durch die fremde Tonart aus dem Raum und durch eine überraschende Fermate aus der Zeit fällt, wird klar, dass Gottes Segen wirklich alles verändert. Ohne ein sonst übliches modulierendes Rezitativ schliesst die folgende Arie (Satz 5) wieder in der Anfangstonart B-Dur an. Die Stimmen überbieten sich in diesem Concerto für drei Hörner, Pauken, obligates Fagott und Bass mit Fanfaren und Tonleitermotiven im exaltierenden Lobe Gottes. Bemerkenswert ist die Übereinstimmung der Gesangsfigur "Der Herr ist König" mit dem Anfang der (frühen) Kantate 71 "Gott ist mein König". In Satz 6 spricht der Tenor die Bitte um Jesu Schutz für dieses Jahr aus. Es ist ein bewegter, imitatorischer Triosatz für Bass, Fagott und Basso Continuo, zu dem als weiteres Element ein von den Streichern in langen Notenwerten gespielter Choralsatz hinzukommt. Den Abschluss macht ein vom ganzen Ensemble gespieltes konzertantes Halleluja. Dafür greift Bach die bereits in verschiedenen Sätzen gehörte Arpeggio- und Fanfarenmotivik wieder auf. Einzig der Sopran ist von dieser Gestaltung ausgenommen, indem Bach ihm den cantus firmus des in dieser Kantate schon zweimal erklungenen Chorals in langen Notenwerten zuweist, wodurch der Satz gleichsam überhöht wird.

Jörg-Andreas Bötticher