Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
BWV 121
Christum wir sollen loben schon
 
BWV 28
Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende
 
   
   

Die textlichen und die musikalischen Wurzeln der Kantate BWV 121 Christum wir sollen loben schon reichen weit in die Vergangenheit zurück, nämlich bis in die Entstehungszeit des altkirchlichen Weihnachtshymnus A solis ortus cardine des Bischofs Caelius Sedulius von Achaia († um 450), der das Lied seinerseits mit den zeitlich und räumlich umfassenden Dimensionen aus Psalm 113,3  beginnen lässt: "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn." Die an Weihnachten zu feiernde Menschwerdung des Gottessohnes wird von Sedulius unter zwei Aspekten gesehen – einmal unter dem der Knechtsgestalt, die Gott angenommen hat, und zum andern unter dem der Geburt von einer Jungfrau. Wie schon vorreformatorische Theologen vor ihm, so hat auch Martin Luther das in der alten Kirche beliebte lateinische Weihnachtslied ins Deutsche übertragen. Den neuen Text, den er der lateinischen Vorlage so getreu wie möglich folgen liess, unterlegte er anfänglich der dem Lied eigenen gregorianischen Melodie, die dann aber im Erfurter Enchiridion [Handbüchlein] von 1524 für den Gemeindegesang vereinfacht wurde. In dieser Form bildet das Lied textlich und musikalisch die Grundlage für Bachs Kantate BWV 121, die am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1724 im Rahmen des Leipziger Choralkantatenjahrgangs zum ersten Mal aufgeführt wurde. Als Evangelium dieses Feiertags, der wechselweise auch als Tag des Märtyrers Stephanus begangen wurde, wird die Erzählung von den Hirten an der Krippe (Lukas 2, 15-20) gelesen. In der Kantate wurde – wie dies bei den Choralkantaten üblich – die erste und die letzte Strophe des Liedes wörtlich beibehalten, während die dazwischen liegenden Strophen von einem unbekannten Dichter zu Rezitativen und Arien umgearbeitet wurden. Eines gewissen Wortreichtums wegen gingen dabei der klare Aufbau der Vorlage und ihre inhaltliche Stringenz etwas verloren, dafür entstanden aber Texte, die dem Komponisten sehr entgegen kamen.

Dass auch für Bach Luthers Lied nach Text und Melodie etwas Archaisches hatte, zeigt sich darin, dass er den Eingangschor über die erste Strophe "Christum wir sollen loben schon" [= schön] im Stil einer  alten Motette vertont hat. Verszeile um Verszeile wird dabei von den Unterstimmen fugiert verarbeitet, während darüber der Cantus Firmus in langen Noten vom Sopran gesungen wird. Die Instrumente gehen – abgesehen von einem eigenständigen Basso continuo – mit den Singstimmen zusammen. Dass dabei zusätzlich zur Oboe und den Streichern auch ein Bläserchor mitwirkt, verstärkt den altertümlichen Charakter des Satzes. Die Tenorarie Nr. 2 geht auf das Geheimnis der Menschwerdung Gottes ein. Unbegreiflich wunderbar ist die Tatsache, dass der grosse Gott, der Schöpfer aller Dinge, Fleisch annimmt, um so des Fleisches Heil zu erwerben und den Menschen vom Verderben zu erretten. In der Folge kann die Kreatur, die ja bisher als eine durch die Sünde gefallene anzusehen war, nun als von Gott selbst erhöht bezeichnet werden. In der Arie, die von Bach dank dem frei gedichteten Text im Gegensatz zum choralgebundenen Eingangschor "modern" vertont werden konnte, spielt eine Oboe d' amore mit. Auch das Secco-Rezitativ Nr. 3 für Alt geht noch einmal auf das nicht zu  begreifende, nur zu bewundernde Geheimnis von Gottes Menschwerdung ein, rückt nun aber die Jungfrauengeburt in den Vordergrund. Von ihr ist im lateinischen Hymnus und in der Folge auch in Luthers Übertragung ausführlich die Rede. Das keusche Herz, in das sich die Gnade ergiesst, der reine Leib, der zu einem Tempel Gottes wird – Maria ist damit gemeint. Diese wundervolle Art der Zuwendung Gottes zu den Menschen stellt Bach am Schluss des Rezitativs mit einer auch bei ihm seltenen, überraschend kühnen harmonischen Wendung dar.

Man mag sich fragen, was es mit dem freudenvollen Springen des Johannes in der Bassarie Nr. 4 auf sich habe. Verständlich wird diese Aussage im Zusammenhang mit der Liedvorlage, deren vierte Strophe in Luthers Übersetzung lautet:  "Die edle Mutter hat geborn, den Gabriel verhiess zuvorn, den Sankt Johanns mit Springen zeigt, da er noch lag im Mutterleib." Neben der Geschichte von der Verkündigung an Maria durch den Engel Gabriel wird hier auf den Besuch der schwangeren Maria bei ihrer ebenfalls schwangeren Base Elisabeth angespielt, in deren Leib Johannes sich freudig bewegte, als die beiden Frauen sich begrüssten (Lukas 1,44). Mit der hervorgehobenen Erwähnung dieses fröhlichen Springens knüpft der Kantatendichter an Jesu vorgeburtliche Zeit an, und er bietet dem Komponisten damit gleichzeitig die Möglichkeit zu einer beschwingten, tanzartigen Vertonung. In der Mitte der Arie aber, wo sich auch die Orchesterbegleitung beruhigt, ist die Situation verändert: "Nun da ein Glaubensarm dich hält, so will mein Herze von der Welt zu deiner Krippe brünstig dringen", d. h. das Kind ist nun geboren, und das gläubige Ich eilt zur Krippe, wie das ja nach dem Evangelium auch die Hirten taten. Es ist darüber gerätselt worden, wessen Glaubensarm gemeint sein könnte, der das Kind hält. M. E. ist es derjenige der Maria. Vom Glauben der Maria ist gerade bei Martin Luther viel die Rede; so hat er ja auch schon ihre Einwilligung, das Kind zu empfangen, als Akt des Glaubens gedeutet. Vielleicht darf in diesem Zusammenhang auch an die vielen Andachtsbilder erinnert werden, auf denen durch alle Jahrhunderte hindurch Maria mit dem Kind auf dem Arm abgebildet wurde. Im Secco-Rezitativ Nr. 5 für Sopran wird – diesmal ausgehend von der armseligen Unterkunft des Kindleins in der Krippe – noch einmal das Staunen darüber zum Ausdruck gebracht, dass der unermesslich grosse Gott "uns zugut" Knechtsgestalt und Armut angenommen hat. Nur mit bebender und fast geschlossener Lippe kann ihm dafür ein dankend Opfer dargebracht werden, das dann aber doch zusammen mit den Chören der Engel zu einem jauchzenden Lob- und Danklied wird. Bach beendet die Kantate allerdings nicht, wie man dies vielleicht erwarten könnte, mit einem barocken Jubelchor mit Pauken und Trompeten, sondern mit der vierstimmig gesetzten trinitarischen Schlussdoxologie des der Kantate zugrunde liegenden Lutherliedes. Wie im Eingangschor, so werden auch hier die Singstimmen von den Bläsern unterstützt. Es ist ein eher strenger Abschluss – mit einer eindrücklichen Verlängerung beim letzten Wort "Ewigkeit".

 

Die Kantate BWV 28  Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende, das neue rücket schon heran gehört auf den Sonntag nach Weihnachten. An diesem Sonntag wird als Evangelium die zweite Hälfte der Geschichte von der Darstellung Jesu im Tempel mit den Aussagen von Simeon und Hanna über das Jesuskind verlesen (Lukas 2, 33-40). Wegen der Nähe zum Neujahrfest besteht aber an ihm auch die Möglichkeit, den Jahreswechsel zum Thema zu machen. Dies geschieht in dem von Erdmann Neumeister im Jahr 1714 gedichteten Text, den Bach seiner am 30. Dezember 1725 aufgeführten Kantate zugrunde gelegt hat. An ihrem Anfang blickt Neumeister auf das alte Jahr zurück und richtet am Schluss den Blick auf das neue. In der Mitte aber steht Gott, dem allein alles Gute zu verdanken ist. Mit sicherem Griff wählte Neumeister ein dafür geeignetes Zitat aus dem Alten Testament aus. Er war ein profunder Kenner der Bibel, und so kommt es bestimmt nicht von ungefähr, dass er auf einem zeitgenössischen Stich abgebildet ist, wie er als alter Mann an einem Tisch sitzend die linke Hand auf die Biblia sacra gelegt hat.

Die Eingangsarie der Kantate BWV 28 für Sopran ist dreiteilig. Sie hebt zu Beginn zweimal devisenartig mit dem doppelten  "Gottlob! Gottlob!" an und ruft im ersten Teil die Seele zum Gedenken an all das Gute auf, das Gott ihr im alten Jahr getan hat. Im etwas kürzeren Mittelteil folgt die Aufforderung: "Stimm ihm ein frohes Loblied an", damit Gott – so im dritten Teil – auch im neuen Jahr ihrer gedenken möge. Die Arie steht im fröhlichen ¾-Takt, und drei Oboen spielen in ihr mit. Allerdings hat Bach die Tonart a-moll gewählt, und so hat Albert Schweitzer von dieser Arie gesagt, dass ihre Musik die Worte vom Scheiden des alten und dem herrlichen Anrücken des neuen Jahres "mit einem heiteren Ballett in moll" begleite. Der Aufforderung zum Gotteslob aus dem Mittelteil der Arie wird im Chor Nr. 2 nachgekommen. Es ist eine Motette im alten Stil – auch in ihr gehen Blechbläser mit den Singstimmen –  über die erste Strophe des Liedes "Nun lob, mein Seel, den Herren", einer Nachdichtung des 103. Psalms von Johann Gramann. Es ist möglich, dass dieser Satz, an dessen Ende Bach die Taktzahl "174" geschrieben hat,  aus einem älteren Werk stammt. Alfred Dürr hat von ihm gesagt, dass er wohl das bekannteste Stück der Kantate sei. Mit ihren Aussagen von Gott und über Gott bilden die sich anschliessenden Sätze 3 und 4 den Mittelpunkt der Kantate. Die von Erdmann Neumeister ausgewählte alttestamentliche Bibelstelle, die dem Satz Nr. 3 zugrunde liegt, stammt aus Jeremia 32, 41. Ihre Vertonung beginnt als Rezitativ: "So spricht der Herr" und geht dann in eines jener grossartigen Ariosi über, die Bach für die Bassstimme als Vox Dei oder Vox Christi geschrieben hat. Es ist ein erstaunliches Bibelwort, in dem Gott auf einmalige Art in geradezu menschlicher Sprache zu den Menschen redet: "Es soll mir eine Lust sein, dass ich ihnen Gutes tun soll ... von ganzem Herzen und von ganzer Seele." Im darauf folgenden ausinstrumentierten Rezitativ Nr. 4 für Tenor werden vier Eigenschaften Gottes aufgezählt, von denen allen den Menschen nur Gutes kommt. Viermal heisst es: Gott ist – ein Quell, ein Licht, ein Schatz, ein Herr, und ebenfalls auf vierfache Weise kann der Mensch an dem göttlichen Guten Anteil bekommen, nämlich durch Liebe im Glauben, durch Verehrung in Liebe, durch Hören des Wortes und durch Abkehr von bösen Wegen. Die Quintessenz lautet: "Wer Gott hat, der muss alles haben", was von Bach durch ein Melisma hervorgehoben wird.

Im Schlussteil der Kantate wird Gott – im Gedenken an den Segen im "heurigen Jahr" – um ein glückliches neues Jahr gebeten, und es wird ihm dafür "im voraus" gedankt. Solches tun im Duett Nr. 5 die beiden Singstimmen Alt und Tenor. Das Stück ist als dreiteiliger Continuosatz über jeweils zwei Textzeilen komponiert und strahlt – in C-dur und im tänzerischen 6/8-Takt stehend – durchgehend Fröhlichkeit und Hoffnung aus. Als Schlusschoral ist die letzte Strophe des Neujahrsliedes "Helft mir Gotts Güte preisen" von Paul Eber verwendet. Auch darin wird Gottes Güte gepriesen, und es wird für das neue Jahr um Frieden, um Bewahrung vor allem Leid und um "mildigliche Nahrung" gebeten. Mildliglich bedeutet fürsorglich, freigiebig, mit liebevoller Gesinnung, Nahrung aber meint nicht nur Essen, sondern alles, was der Mensch zum Leben braucht. So umfasst nach Martin Luthers Kleinem Katechismus die Bitte um das tägliche Brot "alles, was zur Leibesnahrung und =notdurft gehört, als Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und treue Oberherren, gut Regiment, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen." Auch Bach hat diesen Text seit seiner frühesten Jugendzeit gekannt, wurde doch damals der Schulunterricht neben der Bibel und dem Gesangbuch vor allem durch den Katechismus bestimmt.

Helene Werthemann