Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
BWV 79
Gott der Herr ist Sonn und Schild
 
BWV 80
Ein feste Burg ist unser Gott
 
   
   

Die beiden Kantaten BWV 79 und 80 sind für das Reformationsfest bestimmt, mit dem die evangelisch-lutherische Christenheit alljährlich am 31. Oktober – einen Tag vor Allerheiligen – des Tages gedenkt, an dem im Jahre 1517 der Mönch und Theologieprofessor Martin Luther 95 Thesen an die  Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll. Vieles spricht gegen diese altüberlieferte Version, u.a., dass Luther seine Thesen lateinisch abfasste und in einem auf den 31. Oktober 1517 datierten Schreiben an seinen Vorgesetzten, den Erzbischof Albrecht von Brandenburg sandte. Die Thesen richteten sich gegen den Ablasshandel, ein damals florierendes, von Albrecht von Brandenburg im Auftrag der römischen Kurie organisiertes Geschäft, das der Finanzierung des Petersdoms diente. Dabei konnten die Gläubigen ihr Sündenkonto beeinflussen, indem sie mittels päpstlich verbriefter Zusicherungen je nach Höhe der Zahlung Strafreduktion oder -erlass beim Jüngsten Gericht erkaufen konnten. Der Leipziger Dominikaner Johann Tetzel, einer der tüchtigsten Agenten Albrechts von Brandenburg, warb in Sachsen und Thüringen mit diesem griffigen Verslein um seine Kunden:

Wenn das Geld im Kasten klingt,
die Seele in den Himmel
(oder: aus dem Fegefeuer) springt.

Luther war dieses Treiben ein Dorn im Auge – er sah darin eine Verhöhnung Gottes. Denn ER, der den Christen durch Jesus bei entsprechendem Lebenswandel die Vergebung ihrer Sünden aus reiner Gnade zugesagt hatte, stand nun da wie ein Kaufmann, der für seine Zusicherung Geld einstrich. Entsprechend sandte Luther seine an Deutlichkeit nichts zu wünschen lassenden Thesen an den Erzbischof, freilich ohne darauf eine Antwort zu erhalten. Gleichwohl wurde das Thesenwerk von Luther-Sympathisanten kopiert und verbreitet, so dass es zum zündenden Funken der protestantischen Reformations-Bewegung wurde.
        
Die beiden Kantatentexte BWV 79 und 80 nehmen weder einen direkten Bezug zu diesem dramatischen Geschehen, noch scheinen sie inspiriert von den zugehörigen Perikopen, den Seligpreisungen aus der Bergpredigt (Matth. 5, 2-10) und dem Römerbrief 3, 21-31, wo Paulus die Entsühnung allein durch den Glauben (bei Luther die „Rechtfertigungslehre“) predigt. Auch das hat vielleicht historische Gründe. Zwar hatte 1667 Kurfürst Johann Georg von Sachsen den 31. Oktober zum (halben) kirchlichen Feiertag geadelt. Aber sein Enkel August der Starke ließ sich 1697 zum polnischen König krönen, was seine Konversion zum katholischen Glauben voraussetzte. Damit sah sich das zutiefst lutherisch-orthodoxe Leipzig angesichts der neuen Religion seines Landesherren zu einigem Fingerspitzengefühl veranlasst; und  so mag es sein, dass man das hohe evangelische Fest weniger imposant zu feiern beschloss, als man es vielleicht gewollt hätte.

 

BWV 79
Gott der Herr ist Sonn und Schild

Diese Zurückhaltung trifft in beiden Kantaten freilich eher auf den Text als auf die Musik zu, denn beide beginnen mit groß angelegten Chorsätzen. Im Falle von BWV 79 aus dem Jahre 1725 geschieht dies auf den 12. Vers aus Psalm 84: „Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre. Er wird kein Gutes mangeln lassen den Frommen.“ Der Satz ist mit zwei Hörnern, zwei Oboen (in einer späteren Fassung schreibt Bach zwei Traversi vor), Streichern und Pauken opulent instrumentiert, und so fängt er auch an: in einem weit ausgreifenden instrumentalen Anfangsteil dominieren zunächst die Hörner mit einem eingängigen, in Terzen verlaufenden Thema, dem eine kontrastierende, von Streichern und Oboen gestaltete Fuge folgt. Diese verdankt ihre leichte, brillante Wirkung dem Umstand, dass 1. Oboe und 1. Violine, 2. Oboe und 2. Violine sowie Bratsche und Cello jeweils unison geführt sind. Wieder erscheint das machtvolle Hornthema, und dann folgen in freier Polyphonie die Einsätze der vier Chorstimmen. Zu den Worten „Der Herr gibt Gnade und Ehre“ entwickelt Bach aus homophonen Anfängen eine aus dem gleichen Material wie die instrumentale Fuge des Anfangsteiles gestaltete Chorfuge, worauf im Schlussteil einmal mehr  das klangwirksame Hornmotiv erscheint, nun aber kombiniert mit dem frei polyphonen Einsatz der vier Chorstimmen. Dies ist wahrlich ein nach Klanglichkeit, Umfang und satztechnischen Finessen markanter, bedeutsamer Eingangschor, und so ist es nicht verwunderlich, dass Bach dem Werk in den 1730er Jahren – nun als Gloria  seiner Messe in G-Dur BWV 236 – zu einem zweiten Leben verhalf.
        
Der weitere Verlauf der Kantate ist weniger vielschichtig gestaltet. Auf ein vermittelndes Rezitativ wird zugunsten einer Arie verzichtet, deren Text das eben prachtvoll verklungene Psalmenwort dichterisch – mit zum Teil eigenwilliger Reimbildung – ausschmückt. Musikalisch gibt die Solooboe (oder Soloflöte) in beschwingtem 6/8el-Takt einen Themenkopf vor, den die Altstimme aufnimmt, und beide vermitteln den Hörern mittels einer gewichtigen Synkope über „Gott IST unser Sonn UND Schild“ mit ihrem gemeinsamen Musizieren ein Gefühl sicherer und freudig erlebter Geborgenheit.
        
Wer nun wieder ein Rezitativ erwartet, wird erneut überrascht. Denn jetzt folgt – in feierlich schreitenden Halbnotenwerten deklamierend – der Choral „Nun danket alle Gott“ in der reichen Instrumentation des Eingangschores und mit dessen Hornmotiv eine unüberhörbare Brücke zwischen beiden Sätzen schaffend: Zu Beginn erscheint Gott als machtvoller Beschützen der Frommen, und im Choral danken diese ihm mit dem festlichen Blechbläsersatz zum ersten Vers des Kirchenchorals des sächsischen Pfarrers und Dichters Martin Rinckart (1636), dass er ihnen „unzählig viel zugut und noch jetzund getan“ hat.
        
Ein kurzer rezitativischer, dem Bass anvertrauter Bittgesang gibt anschließend nochmals Raum für eine kleine Überraschung: Kein Instrumentalvorspiel leitet das nun folgende Duett ein, sondern Sopran und Bass erbitten in anmutiger, Eintracht vermittelnder Homophonie nochmals Gottes Schutz, und dies in regem Wechselspiel mit den später einsetzenden, im Unisono geführten Geigen, deren Stimme geprägt ist von markanten Oktavsprüngen.
        
Der Schlusschoral – die letzte Strophe des Liedes „Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen“ von Ludwig Helmbold (1575) ­– vereinigt nochmals Hörner, Oboen (Flöten), Streicher und Sänger zu einem strahlenden „Amen“, aufs Schönste Anfang, Mitte und Schluss dieser Reformations-Kantate verbindend.

 

BWV 80
Ein feste Burg ist unser Gott

Wie der Text von BWV 79, so lässt auch derjenige von BWV 80 keine besonderen Bezüge zum Reformationsfest spüren. Im Gegenteil: Teile des frei gedichteten, von Salomon Franck verfassten Textes gehen auf eine Kantate zum Passionssonntag Oculi zurück, die Bach wohl am 24. 3. 1715 in Weimar aufführte. Francks Text bezieht sich also ursprünglich auf eine ganz andere Perikope.  Folgen wir den Ergebnissen der Bachforschung, dann entstand BWV 80 in drei zeitlich weit auseinander liegenden Schritten: Den Anfang machte das Weimarer Werk. Dann erinnerte Bach sich um 1724/25, als es um die Komposition einer Kantate zum Reformationsfest ging, dieses Frühwerkes, und das nicht ohne Grund: Er hatte den ersten Satz der Kantate „Alles, was von Gott geboren, ist zum Siegen auserkoren“ mit einem Cantus firmus auf die Melodie des Luther-Chorals „Ein feste Burg ist unser Gott“ durchwirkt, und eben diesen Choral sang die Gemeinde – und das tut sie bis heute – traditionell am Reformationstag. So war ein stringenter Zusammenhang zum 31. Oktober  gegeben, den Bach noch weiter vertiefte: Vor den ursprünglichen 1. Satz setzte er zu den Worten „Ein feste Burg“ einen Choralsatz; „Alles was von Gott geboren“ wurde zu Satz 2, wobei der ursprünglich instrumentale Cantus firmus mit der 2. Strophe des Luther-Chorals textiert wurde, „Mit unsrer Macht ist nichts getan“;  dem folgte eine neu komponierte Arie über die 3. Strophe „Und wenn die Welt voll Teufel wär.“ Als Schlusschor wählte Bach folgerichtig die 4. Strophe des Luther-Liedes, „Das Wort sie sollen lassen stahn“. Damit ist der gesamte Luthertext wortwörtlich in der Kantate aufgehoben, und so mutiert das Werk nun doch zu einem prominenten Beitrag zum Reformationsfest.
        
Eine weitere Steigerung des Festcharakters erfuhr die Kantate wohl in den Vierzigerjahren, als Bach den schlichten Eingangschoral durch den grandiosen Chorsatz ersetzte, der BWV 80 nicht erst heutigen Hörern zum Inbegriff Bachscher vokaler Kirchenmusik machte.  So führte Wilhelm Friedemann Bach den Eingangschor in der Marienkirche in Halle auf, wobei er die drei Oboen durch drei Trompeten ersetzte – eine Instrumentation, die sich auf etlichen auch heute noch im Handel befindlichen Tonträgern von BWV 80 wiederfindet. Und der Leipziger Dichter und Musikschriftsteller Friedrich Rochlitz schrieb in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung, dieser Satz sei „einer der bewunderungswürdigsten Chöre, die es giebt … Welch ein Entwurf; und welch eine Ausführung desselben!“. So sträubt sich die Feder wie immer, wenn sie etwas Einziges und Einzigartiges in Worte fassen soll, ein wenig, ans Werk zu gehen. In Kürze zusammengefasst:  Jede Verszeile des Luther-Chorals ist als Fuge angelegt, wobei Violino 1 und 2 mit Sopran und Alt, die Viola mit dem Tenor und Cello und Violone mit dem Bass koordiniert sind. Gegen Ende jeder Verszeile setzen sich die Oboen mit der homophon in Halbnotenwerten klar artikulierten Choralmelodie über das reiche polyphone Geschehen, sekundiert durch den in gleicher Weise kanonisch geführten Bass: Die „feste Burg“ ist in ihrer Macht und Herrlichkeit allumfassend, erstreckt sich von der höchsten Höhe bis zur tiefsten Tiefe.
        
Der zweite Satz ist ein Duett zwischen Sopran und Bass, eingeleitet durch ein in durchgehenden Sechzehnteln verlaufendes Thema, das im Unisono von den beiden Violinen und der Bratsche ausgeführt wird. Sein martialischer Charakter ist wohl durch die vom Bass vorgetragenen Sieghaftigkeit desjenigen Christen motiviert, der sich von Christi „Blutpanier“ leiten lässt.  In dieses kraftvolle  Gefüge ist die Sopranstimme eingewoben, die – unterstützt von der Solooboe – in leicht verzierter Form die zweite Strophe des Chorals vorträgt.  Es folgt ein gleichfalls vom Bass gesungenes Rezitativ, zu dessen letzter Zeile „ … daß Christi Geist sich fest mit Dir verbinde“ Bach ein liebliches Arioso gesetzt hat.
        
Lieblichlichkeit prägt auch die in Arienform gehüllte Einladung des Sopran an Jesus, in „mein Herzenshaus“ zu kommen, eine schwingende, von Kantilenen getragene und lediglich vom Continuo begleitete Musik.  Ganz anders dann Satz 5 – hier  ist wieder Krieg angesagt: das Standhalten des Christen gegen die Tücken Satans. Drei Oboen und die Streicher tragen diesen kompakten Satz vor, kraftvoll kontrapunktiert von den Singstimmen, die ihre Standhaftigkeit mit dem einmütig-einstimmig vorgetragenen Gesang der dritten Choralstrophe dokumentieren.
        
Satz 6, ein Rezitativ des Tenors, leitet nochmals zu einem Juwel dieser Kantate über: In diesem Duett geben Oboe da caccia und Solovioline – eine ganz besondere Klangfarbenkombination – in imitatorischer Stimmführung ein Thema vor, das von Alt und Tenor in wunderschöner Terzenhomophonie aufgegriffen wird – man möchte meinen, Bach wolle mit diesem Wiegengesang die Seligkeit derer symbolisieren, „die Gott im Munde tragen“. Doch gleich darauf, als die Stimmen die gesteigerte Seligkeit des Herzens besingen, „das ihn im Glauben trägt“, tun sie dies polyphon, aufs Anmutigste mit den beiden Soloinstrumenten konzertierend. Wieder steigert der Satz sich zum Inhalt, „die Feinde“ zu „schlagen“, in Sechzehntel-Kriegsgetümmel, um ganz unerwartet umzuschlagen in abgrundtiefe Todeschromatik, die wiederum aufgehoben wird durch ein freundliches instrumentales Da Capo.
        
Zum Schluss erklingt die vierte und letzte Strophe von „Ein feste Burg ist unser Gott“ im Bachtypischen „einfachen“ Choralsatz. BWV 80 ist – August der Starke hin, Polnisch-Dresdner Katholizismus her – wahrhaftig eine große Festmusik zum Leipziger Reformationstag in der Thomaskirche!


Dagmar Hoffmann-Axthelm