Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   
BWV 27
Wer weiss, wie nahe mir mein Ende
 
BWV 148 
Bringet dem Herrn Ehre seines Namens
 
   

Die Evangelienlesung des heutigen 16. Sonntages nach Trinitatis stammt aus Lukas 7, 11-17. Es ist die nur in diesem Evangelium erzählte Geschichte von der Auferweckung des Jünglings zu Nain. Dieser Jüngling – er war der einzige Sohn einer Witwe – war gestorben und wurde eben im Sarg aus der Stadt hinaus getragen, als Jesus hinzukam. Voll Erbarmen mit der weinenden Mutter liess Jesus die Sargträger anhalten, weckte den toten Jüngling auf und gab ihn seiner Mutter. Daraufhin erscholl der Ruf Jesu als eines grossen Propheten im ganzen jüdischen Land und in allen umgebenden Ländern. In einer Predigt aus dem Jahr 1533 nahm Martin Luther als eine der Hauptlehren aus dieser Geschichte die Lehre vom Glauben auf, dass nämlich die Menschen unerschrocken sein sollten, wenn es übel gehe und sonderlich, wenn sie sterben sollten, da sie ja in Christus einen allmächtigen Helfer hätten, der Herr auch über den Tod sei. Auch in der Folgezeit wurde der Akzent nicht auf das neu geschenkte Leben des Auferweckten gelegt, sondern – immer verbunden mit der Absage an die Welt – auf die Todesbereitschaft, ja Todessehnsucht. Wortverkündigern und Kantatendichtern stand dafür eine ganze Sammlung von passenden Bibeltexten, Kirchenliedstrophen und Bildern zur Verfügung.

In diese Tradition hinein gehört nun auch die Kantate BWV 27 Wer weiss, wie nahe mir mein Ende. Sie wurde in Leipzig am 6. Oktober 1726 innerhalb von Bachs drittem Kantatenjahrgang zum ersten Mal aufgeführt. Der  Dichter ist unbekannt. Gerade er weiss sich aber gekonnt der  vorhandenen Topoi zur Schilderung von Weltverachtung und Himmelssehnsucht zu bedienen. Die Kantate beginnt mit einem Choralchorsatz über die erste Strophe des Liedes "Wer weiss, wie nahe mir mein Ende" von Aemilie Juliane von Schwarzburg Rudolstadt. Das Lied, das auf die Melodie von Georg Neumarks Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ gesungen wird, steht im Schemelli-Gesangbuch bei den Abendmahlsliedern. Daraus erklärt sich die Erwähnung des Blutes Christi im Refrain aller Strophen: "Mein Gott, ich bitt durch Christi Blut, machs nur mit meinem Ende gut". Bei der Verwendung als Sterbelied wie in unserer Kantate liegt der Akzent vor allem auf der Bitte um ein gutes Ende, ganz nach dem bekannten und viel verwendeten Sprichwort: Ende gut – alles gut. In Bachs Vertonung wird der Choral vierstimmig in schlichter Form, mit Verlängerung nur an den Zeilenenden, in einen selbständigen Orchestersatz hinein gesungen, und dreimal wird er durch rezitativische Einschübe unterbrochen. In ihnen wird – absteigend vom Sopran über den Alt zum Tenor – der Choraltext betrachtet und kommentiert. Es ist nun aber das Besondere an Bachs Vertonung, dass der Orchestersatz dabei nicht unterbrochen wird, sondern stetig weiter geht, so dass die gleiche Stimmung durch das ganze Stück hindurch erhalten bleibt. Nach Albert Schweitzer ist es ergreifend, wie die Streicher und der Bass das Hingehen der Zeit durch den Rhythmus eines langsamen, unerbittlichen Pendelschlags darstellen, während die Oboen ihre klagenden Seufzer darein mischen. Das Secco-Rezitativ Nr. 2 für Tenor ist inhaltlich von der Gewissheit des "Ende gut –  alles gut" geprägt. Es übernimmt aus Psalm 39, 5: "Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muss und mein Leben ein Ziel hat" den Begriff des Lebenszieles und sieht dieses allein im seligen Sterben und im Erben dessen, was des "Glaubens Anteil" ist. Die Altarie Nr. 3 "Willkommen! will ich sagen, wenn der Tod ans Bette tritt" lehnt sich zum Teil wörtlich, zum Teil mindestens inhaltlich an einen Text von Erdmann Neumeister an. In ihr bricht Fröhlichkeit aus, getreu der Zeile "Fröhlich will ich folgen, wenn er ruft". Die Arie steht in Es-dur, d.h. in der Paralleltonart zum c-moll des Eingangschores, und in ihr wirken als Soloinstrumente in ungewöhnlicher Kombination eine obligate Orgel und eine Oboe da caccia mit.

Auch das folgende Sopranrezitativ Nr. 4 geht textlich auf eine bestehende Vorlage zurück, und zwar auf  das Lied "Flügel her! nur Flügel her! Jesu, ich will gerne scheiden, wenn ich doch nur bei dir wär" der Dichterin des Eingangsliedes unserer Kantate. Schon in dieser Vorlage klingt die Aussage von Paulus aus dem Philipperbrief (1, 23) an: "Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein", die dann im Rezitativ durch eine Beschreibung des paradiesischen Lebens als eines gemeinsamen Weidens der Schafe mit dem Gotteslamm als Bräutigam ausgeschmückt wird. Die Begleitung des Rezitativs ist ausinstrumentiert, und unüberhörbar ist das Auffahren der Violinen beim zweimaligen Ausruf "Flügel her!". Noch aber steht der Mensch nur " mit einem Fuss im Himmel", und so bringt die Bassarie Nr. 5 "Gute Nacht, du Weltgetümmel" mit zwei verschiedenen, rasch wechselnden musikalischen Motiven – einerseits der Ruhe, anderseits des Tumultes – das Dilemma des irdischen Lebens auf packende Weise zum Ausdruck: Weltgetümmel hier, himmlische Ruhe dort. Der gleichen gegensätzlichen Thematik ist auch der Schlusschoral gewidmet: "Welt ade! ich bin dein müde, ich will nach dem Himmel zu". Bach übernahm ihn in einem fünfstimmigen Satz von Johann Rosenmüller, einem seiner Leipziger Amtsvorgänger im Thomaskantorat, den dieser 1649 für eine Begräbnisfeier geschaffen hatte. Wie im Eingangschor, so wird auch hier der im Sopran liegende Cantus firmus  durch ein Horn verstärkt. Eindrücklich ist, wie der Satz dank einem Taktwechsel tänzerisch fröhlich beendet wird: "...in dem Himmel allezeit Friede, Freud und Seligkeit".

 

Die Kantate BWV 148  Bringet dem Herrn Ehre seines Namens, die als zweite im heutigen Konzert aufgeführt wird, gehört auf den 17. Sonntag nach Trinitatis. Auch das Evangelium dieses Sonntags steht im Lukasevangelium (14,1-11). Es ist zweiteilig. In der ersten Hälfte wird die Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat im Haus eines Pharisäers erzählt, wo Jesus zum Essen eingeladen war, im zweiten Teil geht es um die Mahnung zu Demut und Bescheidenheit: "Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden; und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden." Die Kantate BWV 148 nimmt nur auf die erste Hälfte der Lesung Bezug und auch da nicht auf die eigentliche Geschichte der Krankenheilung, sondern auf die Tatsache, dass diese Heilung an einem Sabbat geschah. Jesus hatte nämlich vorweg die Frage gestellt, ob es recht sei, an einem Sabbat zu heilen oder nicht, und als alle Anwesenden schwiegen, fasste er den Kranken an, heilte ihn und liess ihn gehen. In der Auslegungstradition dieser Geschichte ist es nun immer wieder dazu gekommen, dass der Akzent nicht auf das Tun Jesu am Sabbat gelegt wurde, sondern – fast im Gegensatz zur biblischen Geschichte –  einzig und allein auf die Bedeutung des Sabbats bzw. des Sonntags als eines Tages der Ruhe und des an ihm zu feiernden Gottesdienstes. "Die Sabbath=Feier" konnte daher als Überschrift über den 17. Sonntag nach Trinitatis gesetzt werden.

In diesen Zusammenhang gehört nun auch die Kantate BWV 148. Sie wurde wahrscheinlich am 19. September 1723 in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr erstmals aufgeführt. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass das ihr zu Grunde liegende Gedicht "Weg ihr irdischen Geschäfte" von Christian Friedrich Henrici erst im Jahr 1725 im Druck erschienen ist, und zwar in dessen "Sammlung Erbaulicher Gedancken über und auf die gewöhnlichen Sonn= und Fest=Tage in gebundener Schreib=Art entworffen von Picandern". Von einem unbekannten Dichter wurde der Inhalt des Gedichtes für die Kantatensätze 2 bis 5 verwendet, während der Eingangschor und der Schlusschoral neu hinzukamen. Der Text des Eingangschores "Bringet dem Herrn Ehre seines Namens, betet an den Herrn in heiligem Schmuck" stammt aus Psalm 29,5. Er gehört zu jenen zahlreichen Psalmtexten, in denen zum Lob Gottes in den schönen Gottesdiensten des Tempels in Jerusalem aufgefordert wird. Glanzvoll ist nun auch Bachs Vertonung. Homophone Teile wechseln mit Fugensätzen ab, wobei alle Themen bereits zu Beginn in der Trompetenstimme enthalten sind. Dadurch wird nach Alfred Dürr eine starke Einheitlichkeit des ganzen Satzes erreicht. "Wie rufen so schöne das frohe Getöne zum Lobe des Höchsten die Seligen aus", so singt der Tenor in der Arie Nr. 2, und er eilt, das heilige Haus mit Freuden zu suchen, um dort die Lehren des Lebens zu hören. Unterstrichen wird die Eile, dorthin zu gelangen, durch die Figurationen einer obligaten Violine. Das  ausinstrumentierte Rezitativ Nr. 3 ist der Altstimme zugeteilt. Mit dem bekannten Vers aus Psalm 42, 2: "Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir" wird darin die Sehnsucht nach Gott zum Ausdruck gebracht, und es wird noch einmal die Heiligkeit der Sabbatsfeier beschrieben, in der die Gemeinde der Gerechten Gottes Macht preist. Fast unerwartet wird dann aber vom Innewohnen Gottes im Menschen geredet. Diese abrupte Wendung hängt damit zusammen, dass in der ganzen Textvorlage von Picander die mystische Vereinigung zwischen Gott und der Seele im Zentrum steht, und diesem Anliegen ist nun auch die nachfolgende Arie Nr. 4 gewidmet: "Mund und Herze steht dir offen, Höchster, senke dich hinein". Wie das Rezitativ, so wird auch sie von der Altstimme gesungen. Drei Oboen spielen in ihr mit, und immer wieder setzt der Generalbass aus, was wohl als eine symbolische Darstellung des Einswerdens des Menschen mit Gott zu verstehen ist. Nach Philipp Spitta "athmet diese Arie in Substanz und Klang die echteste freudig-feierliche Sonntagsstimmung des Kirchgängers". Das folgende Tenorrezitativ Nr. 5 redet vom zukünftigen Lebenswandel des Menschen, der – geleitet durch Gottes Geist und Gottes Wort – ein bis zum Ende Gott wohlgefälliger sein möge, "damit ich nach der Zeit in deiner Herrlichkeit, mein lieber Gott, mit dir den grossen Sabbat möge halten". Der grosse Sabbat, das ist der Tag der Vollendung und die Zeit der ewigen Ruhe, die Zeit aber auch der Anbetung Gottes und des Preises des Namens Jesu Christi, wie dies im Eingangschor und im Schlusschoral zum Ausdruck kommt. Oder wie Georg Friedrich Breithaupt in seinem Sterbelied "O finstre Nacht, wann wirst du doch vergehen?" – im Schemelli-Gesangbuch mit Melodie und dem von Bach verbesserten Generalbass als Nummer 891 enthalten – im Blick auf die Ewigkeit gesagt hat:   

Dann werd ich, einen Monden [Monat] nach dem andern,
dir feiern deine Sabbatsruh,
und in dem heilgen Schmucke willig wandern,
zu opfern dir, dem Tempel zu.

Helene Werthemann