Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Kantate BWV 213
Lasst uns sorgen, lasst uns wachen
Herkules auf dem Scheideweg

Man(n) muss sich entscheiden: Ein Leben mit Tugend und Moral, oder doch lieber Reichtum, Überfluss und gar Wollust?

Sicherlich war es auch für einen Landesfürsten zu Zeiten Bachs eine Frage, der man sich ernsthaft stellen konnte, aber zumindest um sein leibliches Wohl musste er sich wohl eher kaum sorgen. Im Gegensatz zu dem Grossteil der Bevölkerung, der jeden Tag um sein Brot hart arbeiten musste und eine Altersvorsorge gar nicht kannte - Altersarmut war damals an der Tagesordnung. Also doch eine fürstlich-moralische Frage?

Huldigungskantaten nennt man jene Werke, die von Bach zu einem festlichen Anlass beispielsweise im kurfürstlich sächsischen Haus geschrieben wurden. Dies konnten Krönungsfeierlichkeiten, Jubiläen, Hochzeiten, Namenstage oder (wie im Fall von BWV 213) Geburtstage sein. Beim Jubilar handelte es sich um den gerade mal 11 Jahre alt gewordenen Kurprinzen Friedrich Christian, dessen Huldigungskantate wurde von Bach mit seinem studentischen Collegium musicum am Nachmittag des 5. September 1733 im Zimmermannschen Kaffeegarten aufgeführt. Huldigungsmusiken gehörten nicht zu seinen Pflichten, und so wird vermutet, dass Bach sich hiermit bei Hofe wohlwollend zu Gehör bringen wollte mit seiner Bitte um den Titel eines kurfürstlich sächsischen Hofkapellmeisters – ein Ansinnen, dem er in der Widmung des Kyrie und Gloria der später zusammengefügten sog. h-Moll Messe vom 27. Juli 1733 Nachdruck verliehen hatte.

Nun ist es interessant, dass der Jubilar ja noch ein Knabe war - ob der sich wohl schon mit solch ethisch moralischen Fragen wie Herkules, der Protagonist der Kantate BWV 213, auseinandergesetzt haben mag? Der Adel hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland die Zügel noch fest in der Hand und an dessen moralischer Integrität öffentlich zu zweifeln galt quasi als Blasphemie, da der Adel ja die göttliche Ordnung auf Erden repräsentierte und somit Stellvertreter war – zumindest im theoretischen Weltenkonstrukt. Und so versteht es der Textdichter Picander feinsinnig, diese Entscheidungsfrage gar nicht erst als eine wirklich existentielle darzustellen, sondern von vornherein als bereits abgemachte – man wollte ja keinen Ärger mit dem Kurfürsten heraufbeschwören! Also eben Huldigung – und zugleich untertänig und unterwürfig?

Herkules auf der Suche nach dem rechten Weg, "auf dem Scheidewege" – wie Picander das "Drama per Musica" nannte. Im eröffnenden Chor "Ratschluß der Götter" stimmen diese an "Lasst uns sorgen, lasst uns wachen über unsern Göttersohn. Unser Thron wird auf Erden herrlich und verkläret werden, unser Thron wird aus ihm ein Wunder machen." Muss man sich hier also ernste Sorgen um den rechten Weg des Göttersohnes machen?
Aber doch fragt sich Herkules (2. Recitativo, vom Alto gesungen!) "Und wo? Wo ist die rechte Bahn" und wendet sich an die schlanken Zweige eines nicht näher zu bestimmenden Gewächses mit der Bitte nach "Rat und Weise". Und siehe da, die Wollust (Soprano) erscheint (3. Aria) und verführt Herkules mit einem wunderbar betörenden Schlummergesang dazu, den Lockungen entbrannter Gedanken zu folgen, die Lust der lüsternen Brust zu schmecken und keine Schranken zu erkennen. Für den 11-jährigen Jubilar wohl noch ungewohnte Töne.
Die Tugend (Tenore) gesellt sich dazu (4. Recitativo), ein Wettstreit der Argumente gipfelt in der Tugend Feststellung: Wer der Wollust folgt wird sein wahres Heil verderben! Herkules in scheinbarer Verwirrung sucht Rat beim "teuren Echo dieser Orten" (5. Aria, Alto - das Duett wird sinnigerweise von der "Hautbois d’Amour" begleitet): "Sollt ich bei den Schmeichelworten süßer Leitung irrig sein" fragt er und gibt sich gleich selber die Antwort mit: "Gib mir deine Antwort: Nein!", und das brave Echo singt dies ebenso nach. "Oder sollte das Ermahnen, das so mancher Arbeit nah, mir die Wege besser bahnen? Ach! So sage lieber: Ja!" - Braves Echo!
Die Tugend tritt auf den Plan (6. Recitativo), preist emphatisch den hoffnungsvollen Held, hält ihm als Vorbild der Väter Ruhm und Taten im Spiegel vor die Augen, fasst ihn und fühlt schon die folgbare und ihr geweihte Jugend; ja, die Tugend offenbart sich gar als seine Zeugerin: Herkules ihr Sohn, der auf ihren Fittichen dem Adler gleich den Sternen entgegenschwebt und dessen Glanz und Schimmer sich dort zur Vollkommenheit erheben wird (7. Aria)!
Bei soviel bescheidenen Versprechungen kann Herkules sich nun schwerlich dagegen entscheiden, die Tugend warnt ein für alle Mal Reich und Helden vor den Verlockungen der Wollust (8. Recitativo) und Herkules widersetzt sich hartnäckig der Wollust (9. Aria): "Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen!"
Daraufhin gehen Herkules und die Tugend ein Bündnis ein (10. Recitativo), das so "genau und fest vermählt" ist, dass man ohne den anderen dessen Wesen nicht erkennen könne. Das Bündnis wird innigst besungen (11. Aria Duetto): "Ich bin deine, Du bist meine, ich küsse dich, küsse mich, wie Verlobte sich verbinden, wie die Lust, die sie empfinden, treu und zart und eiferig, so bin ich." Das muss wahre Liebe sein!
Götterbote Merkur (Basso) erscheint (12. Recitativo accompagnato), die erzählte Geschichte lobpreist er als Metapher auf die Jugend und sich ankündigende Tugend des jungen Kurprinzen Friedrich. Ein Musenchor zum Abgesang (13. Chorus) jubiliert: "Lust der Völker, Lust der Deinen, blühe holder Friederich!" Also eben Huldigung – und zugleich untertänig und unterwürfig?

Dem Bach-Kenner beschleicht beim Hören der ersten Takte dieser Kantate bereits das Gefühl: "Das habe ich schon mal gehört". Und im Verlauf der gesamten Kantate wird dies zur Gewissheit: Diese Musik Bachs kennt man aus einem anderen Werk. Und tatsächlich hat Bach die Chöre und Arien mit Ausnahme des Schlusschores in seinem Weihnachtsoratorium wieder verwendet - die Erstaufführung hierzu fand 1734/35, also gut 12 Monate nach der Erstaufführung von BWV 213, statt. Hierauf soll nun nicht näher eingegangen werden, und doch ist es ein mit Verwunderung zu beobachtendes Phänomen, wie Bach diese Musik für einen völlig anderen, teilweise sogar konträren Kontext wieder verwendet. Wie kann die gleiche Musik zu "Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen" plötzlich zu den Worten "Bereite, dich, Zion mit zärtlichen Trieben" passen? Und hat Bach gar die Umarbeitung (Parodie genannt) schon von vornherein mit eingeplant? Dies wäre nun wahrlich eine einzigartige Huldigung – untertänig und unterwürfig!

"Ich denck aber immer, wenn unsre Kirchen-Musick heut zu Tage ein wenig lebhafftiger und freyer, c’est a dire, mehr theatralisch wäre, sie würde mehr Nutzen schaffen, als die gezwungene Composition, der man sich in der Kirchen ordinair [gewöhnlich] bedienet ..." (Gottfried Ephraim Scheibel, Zufällige Gedancken von der Kirchen-Music, Leipzig 1722).
Und Scheibel rechtfertigt seinen Aufruf mit einem Textbeispiel einer weltlichen Telemann-Arie, die unter anderem "der kleine Gott der Liebe" in "mein Jesus, der die Liebe" umdichtet, also das weltliche Sujet in ein geistliches. Johann Sebastian Bach hat mit dem Verfahren der Parodie erstmals in seiner Leipziger Zeit ab 1723 begonnen und hier ganz überwiegend eigene Werke verwendet - die Chöre und Arien des Weihnachtsoratorium bestehen zum Beispiel fast gänzlich aus bereits vorhandener weltlicher Musik. Die Ursache hierfür mag einerseits arbeitsökonomisch und andererseits aus dem Bewusstsein um das eigene Werk zu erklären sein. Musik, für einen einmaligen Anlass komponiert, konnte so nochmals wieder verwendet werden und zudem in einem geistlichen Werk eine endgültigere und übergeordnete Bestimmung erhalten. Interessanterweise hat Bach alle Varianten der Parodie mit Ausnahme der Umdichtung eines geistlichen in ein weltliches Sujet angewandt, eine zusätzliche Bestätigung Bachs religiöser Einstellung. Rechtfertigt Scheibel das Parodieren damit, dass der Grundaffekt gleich bleiben solle – "Es bleibt ein Affekt, nur die Objecta variieren" – so wechselt sich in Bachs Parodien oftmals gerade dieser Hauptaffekt. Im Beispiel von BWV 213 büssen die zu dem Wort ‚schweben’ passend bildhaften Koloraturen der Aria "Auf meinen Flügeln sollst Du schweben" im Weihnachtsoratorium zu dem Text "Ich will nur dir zu Ehren leben" als Bedeutungsträger ein, andererseits bekommt die fugierte Anlage der Arie als Sinnbild der Nachfolge Jesu eine neue Verständnisebene. Das bereits oben zitierte Beispiel der Arie "Ich will Dich nicht hören" aus BWV 213 hat im Vergleich zu der Arie "Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben" im Weihnachtsoratorium einen noch gegensätzlicheren Grundaffekt, diesen verdeutlicht Bach in BWV 213 vor allem durch den aufführungspraktischen Interpretationshinweis "violini unisono e staccato". Aus den Worten "Ich mag nicht, ich will nicht" wird im Weihnachtsoratorium dann "den Schönsten, den Liebsten", was sich vom Gedanken der intensivierten Wiederholung aus betrachtet nicht widerspricht, zumal eine Aufführung ohne das in BWV 213 geforderte "staccato" die Musik weicher, eben auch 'zärtlicher' erklingen lässt.

Das Phänomen der Parodie im Bach’schen œuvre kann nur spekulativ erklärbar sein, wie zum Beispiel die Vermutung, dass die Chöre und Arien des Weihnachtsoratorium schon von vornherein in der Komposition der weltlichen Kantaten zur weiteren Verwendung mit eingeplant wurden. Aber wenn man sich Bachs Parodien genauer ansieht, so hat er stets mit Sorgfalt ausgewählt und parodiert, sich auch kompositorisch teilweise zur umfassenderen Umarbeitung veranlasst gesehen, und wie im Beispiel der Alt-Arie "Schliesse, mein Herze" des Weihnachtsoratorium eine angefangene Parodie zugunsten einer neu komponierten Arie sogar verworfen. Man sollte hierbei also weniger mit Kriterien werten, die das eine über das andere stellen wollen, sondern vielmehr den Reichtum und die Vielschichtigkeit der Bachschen Musik bewundern, die dies überhaupt ermöglicht und die der Musikwissenschaftler Ludwig Finscher mit dem schönen Begriff der "Multivalenz" trefflich bezeichnet hat.

Markus Märkl, Juli / August 2011