Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Wer mich liebet
zu zwei Pfingstkantaten Johann Sebastian Bachs

Die Entstehungsgeschichte der Kantate für Pfingstsonntag BWV 59 ist nicht in allen Details gesichert: sie muss spätestens für Pfingsten 1723, dem Jahr von Bachs Amtsantritt in Leipzig, entstanden sein, kam aber erst im darauffolgenden Jahr in der Thomaskirche zur Aufführung. Die reduzierte Besetzung (nur zwei Solisten, Chor nur in einem Choral sowie keine dritte Trompete und keine Holzbläser, wie das bei einer Kantate für einen solch hohen Anlass zu erwarten  wäre), die Kürze und die relative Anspruchslosigkeit an die Ausführenden führten zur Annahme, sie könnte 1723 an der Universitätskirche in Leipzig erklungen sein, ohne dass sich eine solche Aufführung belegen lässt. Eventuell geht die Komposition auch schon vor das Jahr 1723 zurück. Auf alle Fälle nahm Bach Teile daraus im darauffolgenden Jahr 1725 für die gleichnamige Pfingstkantate BWV 74 auf, nun mit vier Solisten und Chor sowie ergänzt um eine dritte Trompete und Holzbläser.

Theologischer Hintergrund

Die beiden Kantaten mit unterschiedlichen Textvorlagen von Erdmann Neumeister (von 1714) bzw. Christiane Mariane von Ziegler (wohl für diesen Anlass und in engem Kontakt mit Bach 1725 gedichtet) nehmen auf die gleiche Tageslesung aus dem Johannesevangelium Bezug. Es handelt sich dabei um das Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern beim letzten Abendmahl: Jesus spricht in geheimnisvollen Andeutungen, die von seinen Jüngern in ihrer vollen Bedeutung noch nicht erfasst werden können, von seinem bevorstehenden Tod und der Wiederkunft: "Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Stünde es anders, würde ich euch gesagt haben: Ich gehe, um euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich weggegangen bin, um euch die Stätte zu bereiten, werde ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin." (Joh. 14, 2-3)*. Nach Beendigung seiner eigenen irdischen Präsenz in menschlicher Gestalt wird Jesus seinen Jüngern im Pfingstereignis einen anderen Anwalt (in der griechischen Bibel: Paraklet) zur Seite stellen: "Und auf meine Bitte wird euch der Vater einen anderen zum Anwalt geben, der für immer bei euch bleiben soll: den Geist der Wahrheit" (Joh 14, 16-17). In einem trinitarischen Verständnis ist dieser Spiritus paraclitus aber kein Ersatz für Jesus, sondern in Wesenseinheit der verherrlichte Jesus selber, der zurückkommt. So kann er denn beim letzten Abendmahl auch zu den Jüngern sagen: "Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen; ich komme wieder zu euch. Bald wird die Welt mich nicht mehr sehen, doch ihr werdet mich sehen, weil ich lebe, und auch ihr leben werdet. An jenem Tag sollt ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch." (Joh 14, 18-20). Und auf die erstaunte Frage eines Jüngers, weshalb er sich nur ihnen, nicht aber der Welt zeigen wolle, antwortet Jesus: "Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort bewahren; so wird mein Vater ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm Wohnung nehmen." (Joh 14, 23). Dieses letztzitierte Jesuswort liegt den Eröffnungssätzen der beiden Kantaten zugrunde. Es spricht in konzentrierter Form zentrale Glaubensinhalte an: die Logos-Thematik, die Wesenseinheit von Gottvater und Sohn (und letztlich auch des Heiligen Geistes), die Wiederkunft Gottes an Pfingsten sowie die Metaphorik der Wohnung (im doppelten Sinn einerseits des menschlichen Herzens als Wohnstätte Gottes aber andrerseits auch des Himmels als ewige Wohnstätte für gläubige Christen). Dieser komplexe theologische Hintergrund ist unabdingbar zum Verständnis nicht nur der textlichen, sondern auch der musikalischen Exegese, die in den beiden Kantaten mit je anderen Schwerpunkten erfolgt.

Die frühere Kantate von 1723/24 (BWV 59)

Bereits in den jeweiligen Eröffnungssätzen lassen sich andere Akzente beobachten, obwohl Text und Musik weitgehend identisch sind. Für die frühere Kantate BWV 59 hat Bach den Text als Duett für Sopran und Bass mit Begleitung von zwei Trompeten, Pauken und Streichern konzipiert. Der Text wird von den beiden Gesangsstimmen in fünf Durchgängen gebracht: viermal mit kanonischer Versetzung und beim fünften Mal in Parallelbewegung. Dabei wird der eröffnende Relativsatz "Wer mich liebet" stets auf dem gleichen Motiv vorgetragen, das vom Ausgangston weg in einer punktierten Figur zur Oberquart geht, um wieder zum Ausgangston zurückzukehren. Dieses Motiv, das zu Beginn des Orchestervorspiels die ganze Kantate eröffnet und im weiteren Verlauf immer wieder im Orchester aufgegriffen wird, ist eines der musikalisch prägenden Elemente dieses Satzes. Aber nicht nur durch seine Prägnanz und Häufigkeit – im ersten und vierten Durchgang wird es als einzige Wortwiederholung innerhalb der einzelnen Durchgänge in einer rhetorischen Intensivierung von jeder Stimme zweimal, also insgesamt viermal gebracht – erhält es besonderes Gewicht, sondern auch dadurch, dass es vom übrigen Text stets durch Pausen abgehoben ist und langsamer deklamiert wird. Mit dem Einsatz von "der wird mein Wort" wechselt nämlich der Deklamationsrhythmus von der Viertel- zur Achtelebene (also prinzipiell jede Silbe mit dem rhythmischen Wert eines Achtels): mit einem absteigenden Dreiklang (also in Gegenbewegung zum ersten Motiv), der später ebenfalls vom Orchester übernommen und zum zweiten wichtigen Motiv dieses Satzes wird. Es beginnt nicht etwa – wie man vielleicht erwarten würde – auftaktig mit Betonungen auf "der wírd mein Wórt halten", sondern volltaktig mit rhetorischen Betonungen auf "dér wird meín Wort halten". In allen fünf Durchgängen wird "halten" extrem gelängt (fünf Achtel auf der ersten Silbe), was nicht nur eine anschauliche Wortausdeutung ist, sondern auch den ersten theologischen Kernpunkt dieses Jesusworts hervorhebt. Analog werden durch subtile Varianten in den an sich rhythmisch weitgehend identischen fünf Durchgängen die weiteren Kernpunkte mittels Durchbrechen der Achteldeklamation hervorgehoben. Im zweiten Durchgang wird die Wiederkunft Gottes durch eine lange Koloratur über neun Achtel auf "[und wir werden zu ihm] kommen" veranschaulicht – eine Koloratur, die in eine musikalische Linie eingebunden ist, die vom hohen c’ zum tiefen c hinunter und wieder zurück nach oben führt. Zusätzliches Gewicht erhält diese Stelle dadurch, dass sie entgegen den anderen Durchgängen durch Pausen vom vorhergehenden Teil getrennt ist und dass das hohe c’ im Sextsprung (und nicht stufenweise, wie sonst) erreicht wird. Im dritten Durchgang wird, neben der analogen Veranschaulichung des Kommens, wie sie sich auch im zweiten Durchgang findet, "[und mein] Vater [wird ihn lieben]" mit einer Längung auf sechs, statt der in den anderen Durchgängen üblichen zwei Achtel hervorgehoben. Der vierte Durchgang entspricht dem ersten und bringt ausser dem "halten" kein Durchbrechen der Achteldeklamation. Im fünften Durchgang wird dann schliesslich mit der Längung von "[und] Wohnung [bei ihm machen]" der letzte Kerngedanke rhetorisch akzentuiert.

Fragment oder ungewöhnliche Lösung?

Bei aller Reduktion der äusseren Mittel schafft Bach hier also einen höchst subtilen, vielschichtigen und äusserst rhetorischen Satz. Das anschliessenden Rezitativ kann man sich als eine in ihrer Unmittelbarkeit sehr anschauliche, subjektive Reaktion des gläubigen Individuums auf die soeben angesprochenen Mysterien vorstellen: in einem ersten Accompagnato-Teil wird der Gedanke, dass sich die Dreifaltigkeit die Herzen der Gläubigen als Wohnstätte ausgesucht hat, vertieft. Dies wird als Ausdruck der Liebe Gottes verstanden, aus der die Verpflichtung resultiert, ihn ebenso sehr zu lieben. Diese letzte Konsequenz vertont Bach als nur noch vom Continuo begleitetes, kurzes Arioso, in dem in einer eindringlichen, dreimaligen Wiederholung der im Beginn der Kantate exponierte Gedanke "Wer mich liebet" aufgenommen und differenziert wird. Der Gedanke der Wiederkunft Gottes an Pfingsten in Gestalt des Heiligen Geistes, um "Herz, Mut und Sinn" der Gläubigen als dessen Wohnstätte zu erfüllen, wird in einem prächtigen Choral auf die erste Strophe des Luther-Liedes "Komm, Heiliger Geist, Herre Gott" (1524) aufgenommen. In der Bass-Arie mit obligater Violine wird schliesslich die Metaphorik der Wohnung weiter entfaltet: die Welt als aktueller Wohnort der Gläubigen kann es mit all ihrer Pracht doch nicht mit der Herrlichkeit aufnehmen, die Gott ihnen damit beschert, dass er in ihren Herzen wohnt – und noch viel weniger mit der Herrlichkeit des Himmels als zukünftiger Wohnung der Gläubigen.
Diese Arie steht am Schluss des erhaltenen Materials. Wollte Bach dieses kleine, aber höchst feine Werk tatsächlich auf eine solch formal unkonventionelle Art mit der Aussicht auf den himmlischen Frieden abschliessen? Allerdings enthält die Bassstimme den Vermerk "Chorale segue". Und Neumeisters Textvorlage, die überdies zwei weitere, von Bach nicht vertonte Texte bietet, bringt zum Schluss tatsächlich den Choral "Gott heil'ger Geist, du Tröster" (die dritte Strophe von "Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort"). In der heutigen Aufführung schliesst deshalb dieser Choral an, wie ihn Bach im Schlussatz seiner Kantate BWV 6 vertont hat.

Die Umarbeitung in der späteren Kantate von 1725 (BWV 74)

Für das Pfingstfest im darauffolgenden Jahr hat Bach eine Kantate auf einen Text von Christiane Mariane Ziegler komponiert. Ziegler stellt ihrer Dichtung das gleiche Jesuswort wie Neumeister voran. Bach komponiert diesen Satz denn auch nicht neu, sondern arbeitet die bestehende Komposition um: Er ergänzt eine dritte Trompete und verteilt den Streichersatz bisweilen alternierend auf neu hinzugenommene Holzbläser (zwei Oboen und Oboe da caccia sowie wohl ein Fagott im Continuo) und Streicher, bisweilen kombiniert er die beiden Gruppen. Den Vokalsatz ergänzt er stellenweise zur Vierstimmigkeit, indem er aus Instrumentalstimmen die neuen Vokalstimmen macht, stellenweise übernimmt er die originale Duettstruktur, teils in anderer Besetzung. Bis auf wenige, kleine Ausnahmen erklingt aber jede Note der älteren Komposition, jedoch in anderer Gewichtung. Ein Blick auf den ersten Vokaleinsatz ist dafür erhellend: In BWV 59 wird das Eröffnungsmotiv "Wer mich liebet" vom nur continuobegleiteten Sopran gesungen und vom Bass imitiert, um dann in einem vierstimmigen Orchestersatz als Überleitung zu einer Wiederholung der vokalen Eröffnung, diesmal mit Umspielungen des Orchesters, aufgenommen zu werden. Insgesamt wird der Text also viermal vorgetragen. Durch die Sparsamkeit des musikalischen Satzes tritt die melodische Kontur des Motivs umso schärfer hervor. In der späteren Kantate BWV 74 ist das Eröffnungsmotiv in einen vierstimmigen Vokalsatz eingebunden, die Imitation ist einem ebenfalls vierstimmigen Streichersatz übertragen und die originale Streicherüberleitung den Hozbläsern, bevor der Text analog zur früheren Fassung von zwei sich imitierenden Vokalstimmen (hier Sopran und Alt) mit Orchesterumspielungen gebracht wird. Der Text wird in der späteren Fassung also nur dreimal vorgetragen, zudem verliert das Eröffnungsmotiv durch die verstärkte Integration in einen musikalischen Satz etwas an Kontur, wie überhaupt der Unterschied zwischen Achteldeklamation und rhetorischer Längung in der späteren Fassung durch die dichtere Faktur bisweilen etwas in den Hintergrund tritt. Insgesamt ist die spätere Fassung musikalisch reicher, die Rhetorik ist aber vermittelter, vergleichbar etwa dem Unterschied zwischen einem Kupferstich und einem Gemälde. Dass dem nicht ausnahmslos so ist, zeigt der dritte Durchgang, bei dem Bach in der späteren Fassung von den zusätzlichen Stimmen im Vokalsatz profitiert, um das Motiv der absteigenden Dreiklangsbrechung zum Text "der wird mein Wort halten" aus dem Orchester in die Gesangsstimmen zu verlegen und so einen vierstimmigen, imitierenden Vokalsatz zu erreichen (gegenüber der Duettstruktur und zwei instrumentalen Stimmen mit diesem Motiv in der früheren Fassung).

Dreiteilige Anlage

Der neuen Gewichtung im Eröffnungssatz entsprechen andere Akzente in Text und Musik der Fortsetzung von BWV 74.  Bei der anschliessenden Arie handelt es sich musikalisch zwar um eine Transposition und Umbesetzung für Sopran und Oboe da caccia der Bass-Violin-Arie aus der früheren Version. Der Text konzentriert sich nun aber auf den Aspekt des Herzens der Gläubigen als Wohnung und greift mit den Versen "Denn wer dich [...] liebt [...], dem ist der Vater zugetan" einen der Kernpunkte des Eröffnungszitats auf. Mit der Änderung vom lyrischen Wir in BWV 59 zu einem lyrischen Ich in BWV 74 erreicht Ziegler eine ähnliche subjektive Unmittelbarkeit wie das – von Bach im übrigen ebenfalls dem Sopran als häufigem Repräsentanten der gläubigen Seele zugedachten – Rezitativ (Nr. 2) in der früheren Kantate. Die Ähnlichkeit der dramaturgischen Funktion wie des allgemeinen Duktus scheint auch im Textbeginn mit der Interjektion "O, was sind das vor Ehren" (BWV 59) bzw. der zweimaligen Aufforderung "Komm, komm" (BWV 74) auf. Dementsprechend kürzer und neutraler kann das anschliessende Rezitativ in BWV 74 gehalten werden.
An dieser Stelle schiebt Ziegler ein weiteres Jesuswort aus dem unmittelbaren Kontext der Evangelienlesung des Tages ein (Joh 14, 28), das mit der Thematik des Weggehens und der Wiederkunft an Pfingsten gedanklich einen zweiten Teil der Kantate eröffnet. Wie so oft bei Jesusworten wird es vom Bass vorgetragen, und zwar als eine continuobegleitete Arie. Daran schliesst eine ausgedehnte konzertierende Arie für Tenor und Streicher (mit prominenter Rolle der ersten Violine) an, deren Textbeginn analog zur Arie Nr. 2 mit dem doppelten Hortativ "Kommt! kommt!" die freudige Reaktion auf das Jesuswort darstellt – diesmal nicht des Individuums, sondern der Gemeinschaft der Gläubigen.
Einen dritten Teil der Kantate eröffnet Ziegler wiederum mit einem Bibelzitat. Es handelt sich um den Beginn des 8. Abschnitts von Paulus’ Brief an die Römer: "Es gibt demnach kein Verdammungsurteil mehr für die, die mit Jesus Christus eins geworden sind." Der Zusammenhang mit der Evangelienlesung und dem Pfingstereignis wird deutlich, wenn der Kontext dieses Zitats berücksichtigt wird. So heisst es weiter im Römerbrief: "Wenn aber der Geist Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird Gott, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber auferwecken durch die Kraft seines Geistes, der in euch wohnt." (Römer 8, 11). In Weiterführung des Gedankens von Jesu Opfertod und der Wiederkunft des Geistes, um in den Herzen der Gläubigen Wohnung zu nehmen, wird hier aber nicht die Aussicht auf eine Wohnstätte im Himmel thematisiert, sondern vielmehr ex negativo die Errettung vor den Schrecknissen ewiger Verdammung. Diese werden im A-Teil der anschliessenden Da capo-Arie des Alts eingehend und eindrücklich geschildert, während im B-Teil ebenso eindrücklich das Verlachen der Machtlosigkeit der "höllischen Ketten" dargestellt wird. Im abschliessenden Choral kommt zum Ausdruck, dass die Gläubigen diese grosse Gnade nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch Christi Sühneopfer erlangen können, womit der Bogen zum die Kantate eröffnenden Evangeliumszitat zurück geschlagen wird.

Philipp Zimmermann

 

* Bibelzitate werden in diesem Text der unmittelbareren inhaltlichen Verständlichkeit wegen in der Übersetzung von Ulrich Wilckens gegeben und weichen deshalb vom Wortlaut in Bachs Kantatentext ab.