Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   
   

Die Kantaten, die am heutigen Sonntag Misericordias Domini, dem zweiten Sonntag nach Ostern, erklingen, umfassen die ganze nachösterliche Freudenzeit bis hin zum Sonntag Exaudi, dem letzten vor Pfingsten. Es ist die Zeit, in der nach dem Bericht des Neuen Testaments der auferstandene Jesus bei seinen Jüngern geweilt hat. Dadurch wurde nun auch die Auswahl der altkirchlichen Evangelienlesungen bestimmt. Es sind Ausschnitte aus jenen johanneischen Reden, die Jesus zwar vor seinem Tod gehalten hat, die nun aber in sinnvoller Weise ihren liturgischen Platz in den Gottesdiensten der 40 Tage dauernden Abschiedszeit erhalten haben.  

Der noch nahe bei Ostern liegende Sonntag Misericordias Domini trägt auch den Namen "Gut-Hirt-Sonntag"; denn von Jesus als dem Guten Hirten ist sowohl in der Epistel aus dem 1. Petrusbrief   2, 21-25, als auch im Evangelium aus Johannes 10, 12-16 die Rede. Das Bild von Gott als einem guten Hirten stammt aus dem Alten Testament. Es wurde vom Neuen Testament aufgenommen, und gibt nun auch dem heutigen Sonntag sein eigentliches Gepräge. In der Kantate BWV 85 "Ich bin ein guter Hirt" , die am 15. April 1725 in Leipzig zum ersten Mal aufgeführt wurde, werden als zwei wichtige Eigenschaften des guten Hirten hervorgehoben, dass er 1. seine Schafe in sicherer Hut hält und dass er 2. sein Leben für sie lässt. Beide Gedanken stammen aus dem Evangelium des Sonntags, und sie ziehen sich durch die ganze Kantate hindurch wie zwei Stränge, die manchmal getrennt, manchmal eng miteinander verwoben sind. Der Eingangarie "Ich bin ein guter Hirt, ein guter Hirt lässt sein Leben für die Schafe" liegt ein wörtliches Zitat aus Johannes 10, 12 zu Grunde. Sie ist der Bassstimme als der Stimme Christi zugeteilt. Der Satz ist - in ernstem c-moll stehend - keine Hirtenmusik, vielleicht darf aber doch die wunderbare Oboenstimme als pastorale Anspielung verstanden werden. Im Continuo wird bereits im Eingangsritornell das Kopfthema viermal zitiert, das dann von der Singstimme mit dem dazugehörenden Text "Ich bin ein guter Hirt" vorgetragen wird. Auch die Arie Nr. 2 für Alt steht noch in Moll. In ihr wirkt mit durchgehenden reichen Figurationen ein Violoncello piccolo mit. Die Arie ist dreiteilig, und in jedem Teil wird jeweils der ganze 4-zeilige Text gesungen. In ihm wird bestätigt, dass Jesus wirklich der gute Hirte sei, "denn er hat bereits sein Leben für die Schafe hingegeben" ­- was als Rückbezug auf das im Kirchenjahr noch nicht weit zurückliegende Karfreitagsgeschehen verstanden werden kann. Und es wird darin ebenfalls bestätigt, dass niemand diesem Hirten die Schafe rauben kann, wobei gerade das Wort "rauben" als potentielle Gefahr von Bach besonders sprechend vertont wird. Mit dem Satz Nr. 3, einer Choralbearbeitung für Sopran, zwei Oboen, Streicher und Continuo wird der Durchbruch in den Durbereich erreicht. Textlich liegt die erste Strophe des Liedes "Der Herr ist mein getreuer Hirt" von Cornelius Becker zu Grunde. Es ist eine Nachdichtung des 23. Psalms. Als Melodie ist diejenige des Liedes "Allein Gott in der Höh sei Ehr" verwendet, die vom Sopran in verzierter Form gesungen wird. Heiter und gelöst ist die Stimmung, da die Schäflein ja - wie schon im Psalm ausgedrückt - auf die sichere Hut und das sichere Geleit ihres Hirten zählen können.

Mit dem Rezitativ Nr. 4 für Tenor wird auf das Sonntagsevangelium zurückgegriffen. Darin werden dem guten Hirten die "Mietlinge" gegenüber gestellt, denen die Schafe nicht gehören und die darum vor dem gefährlichen Wolf ängstlich fliehen. Die Geschichte wird aber in der Kantate insofern abgeändert, als hier die Mietlinge nicht fliehen, sondern schlafen, während der Hirte wacht. Er kann darum dem "Höllenwolf", d. h. dem Teufel, den Rachen zuhalten - was wohl als eine Anspielung auf jenen Engel zu verstehen ist, der einst in der Löwengrube die Rachen der den Propheten Daniel bedrohenden Bestien zugehalten hat. Das Rezitativ ist ausinstrumentiert, und zweimal wird der gesungene Text ausdrucksstark unterstrichen, so wenn einerseits vom Wachen des guten Hirten die Rede ist und andererseits vom Fliessen der Lebensströme. Die darauf folgende Arie Nr. 5 für Tenor "Seht, was die Liebe tut" gehört nach Alfred Dürr zu den "eindrucksvollsten Arien des an Schönheiten gewiss nicht armen Bachschen Kantatenwerks". Mit ihrem wiegenden 9/8-Takt ist sie eine eigentliche Pastoralmusik. In verhältnismässig tiefer Lage bilden die unisono spielenden Streichinstrumente die Obligatstimme, über der der Tenor hoch liegt, ja an textlich wichtigen Stellen besonders hoch. So beim dreimaligen aufsteigenden "Seht" zu Beginn und am Schluss der Arie und so vor allem bei der Zeile "Er hat am Kreuzesstamm vergossen für sie sein teures Blut". Textlich sind die beiden Stränge: Schutz der Schafe und Tod für sie noch einmal eng miteinander verbunden. Besonders bedeutsam ist aber in dieser Arie die Betonung, dass alles Tun des Hirten aus Liebe geschieht: "Seht, was die Liebe tut". Die Kantate endet mit der 4. Strophe "Ist Gott mein Schutz und treuer Hirt" des Liedes "Ist Gott mein Schild und Helfersmann" von Ernst Christoph Homburg. Dabei hat die letzte Choralzeile "Ich habe Gott zum Freunde", die wiederholt wird, ein besonderes Gewicht, gründet sie sich doch auf die Zusage Jesu in Johannes 15, 13f.: "Niemand hat grössere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde."

Der Sonntag Exaudi liegt am Ende der nachösterlichen Freudenzeit zwischen Himmelfahrt und Pfingsten, und noch einmal wird an ihm als Evangelium ein Abschnitt aus den Abschiedsreden Jesu verlesen. Darin sagt Jesus den Gläubigen Verfolgung voraus, verheisst ihnen aber auch die Sendung des Trösters, d.h. des Heiligen Geistes (Schluss von Johannes Kapitel 15 und Beginn von Johannes Kapitel 16). Auf diesen Sonntag sind zwei Kantaten von Bach erhalten, nämlich BWV 44 aus dem Jahr 1724 und   BWV 183 aus dem Jahr 1725, die beide gleichlautend mit dem Jesuswort aus dem Sonntagsevangelium beginnen: "Sie werden euch in den Bann tun" . In ihrem weiteren Verlauf werden aber die Akzente etwas verschieden gesetzt, ähnlich wie dies wohl auch in der Predigt geschah, verlangten doch fast notwendigerweise die Jahr für Jahr gleich bleibenden Bibeltexte immer wieder einen neuen Zugang und eine neue Auslegung.

Die Kantate BWV 44 , mit der das heutige Konzert beginnt, ist mit den Sätzen: Bibelzitat - Arie - Choral - Rezitativ - Arie - Choral formal gleich gebaut wie die Kantate "Ich bin ein guter Hirt". Da aber das Bibelzitat mehrteilig ist, verwendet Bach für dessen Vertonung die traditionelle Reihungsform der Motette, die es ihm erlaubt, die verschiedenen Textteile einzeln auszudeuten. So folgt auf den Anfangsteil: "Sie werden euch in den Bann tun", der - ergänzt durch zwei Oboen - von der Tenor- und der Bassstimme gesungen wird, mit Taktwechsel, Beschleunigung des Tempos und dem Einsatz der Streicher der Chorteil "Es kömmt aber die Zeit", bei dem vor allem die Chromatik beim Wort "töten" deutlich hörbar ist. Die darauf folgende Altarie mit obligater Oboe beschreibt die bedrohte Situation der Christen auf Erden, "bis sie selig überwunden", so wie dies auch in der als Continuosatz komponierten Choralbearbeitung "Ach Gott, wie manches Herzeleid" für Tenor geschieht: "Der schmale Weg ist trübsalvoll, den ich zum Himmel wandern soll". Auch hier wird im Continuo die Chromatik zur Darstellung von Herzeleid und Trübsal eingesetzt. Im Bassrezitativ Nr. 5 bekommt die die Christen bedrohende Gefahr einen Namen. Es ist der Antichrist, dem Christi Lehre zuwider ist und der erst noch glaubt, mit seinem bösen Tun Gott gefällig zu sein. Die Wende erfolgt nun aber am Schluss des Rezitativs mit dem Wort "allein" und mit dem aus dem Gedicht "Anke von Tharau" stammenden Bild vom Palmenbaum, der gerade in den Unbilden der Witterung besonders stark ist: "Recht als ein Palmenbaum über sich steigt, je mehr ihn Hagel und Regen angreift", so gleichen nun auch "die Christen denen Palmenzweigen, die durch die Last nur desto höher steigen". Hoch hinauf geht dabei auch die Bassstimme! Auch in der Sopranarie "Es ist und bleibt der Christen Trost, dass Gott für seine Kirche wacht" herrscht eine gelöste Stimmung; denn ungefährlich bleiben die sich türmenden Wetter, und bald hat nach den Trübsalstürmen die Freudensonne wieder gelacht. Unüberhörbar ist, wie Bach auch hier alle wichtigen Wörter durch Melismen hervorhebt. Mit dem vierstimmigen Choral "So sei nun Seele deine", der auf die Melodie "O Welt, ich muss dich lassen" gesungen wird, wird die Kantate abgeschlossen.

Während man sich als Autor dieser Kantate einen Theologen denken könnte, der von christlicher Lehre spricht und für den Gott der Wächter der Kirche ist, stimmt die das heutige Konzert beschliessende Kantate BWV 183 einen anderen Ton an. Ihr Text stammt von Marianne von Ziegler, den Bach mit einigen Änderungen übernommen hat. Sprachlich zeichnet sich dieser Text dadurch aus, dass alle seine Aussagen in der Ich-Form gehalten sind und darum etwas sehr Persönliches haben. Inhaltlich kommt hinzu, dass in ihr nun auch von dem im Evangelium verheissenen Heiligen Geist die Rede ist. Auch diese Kantate beginnt mit dem Dictum aus Johannes 10, 12: "Sie werden euch in den Bann tun" , das als Jesuswort von der Bassstimme gesungen wird. Es ist aber jetzt nur ein kurzes 5-taktiges Rezitativ, das freilich durch die Mitwirkung der Bläser zum Accompagnato-Rezitativ wird. In der in Moll stehenden und mit Molt' adagio überschriebenen Tenorarie Nr. 2 "Ich fürchte nicht des Todes Schrecken", bei der ein Violoncello piccolo mitspielt, erweist sich das Ich allem Ungemach gegenüber als furchtlos und verspricht, gern und willig nachzufolgen. Im ausinstrumentierten Altrezitativ Nr. 3 wiederholen die Bläser durchgehend das Motiv, das in der Gesangsstimme zum Text "Ich bin bereit" erklingt. Was den Menschen so zuversichtlich seine Bereitschaft bis zur völligen Hingabe seines Lebens erklären lässt, ist der versprochene Beistand des Heiligen Geistes, "gesetzt, es sollte mir vielleicht zu viel geschehen". An ihn richtet sich die Sopranarie Nr. 4 "Höchster Tröster, heiliger Geist", und sie beschreibt diesen Geist mit Texten aus der Bibel, so nach Psalm 86,11 als Geist, "der mir die Wege weist, darauf ich wandeln soll", und nach Römer 8, 26 als Geist, der die Menschen in ihrer Schwachheit beim Beten vor Gott aufs Beste vertritt. Die Arie steht im gelösten 3/8-Takt. In ihr wird nach Albert Schweitzer "das zuversichtliche Dahinziehen auf der Todeswanderschaft von einer heiteren Tanzmusik begleitet". Im Schlusschoral von Paul Gerhardt, der nach der Melodie des Liedes "Helft mir Gotts Güte preisen" gesungen wird, wird noch einmal der Gedanke der Stellvertretung des Heiligen Geistes beim menschlichen Singen und Beten aufgenommen.

Abschliessend sei gesagt, dass es zu Bachs Zeit nicht möglich gewesen wäre, die drei Kantaten BWV 44, 85 und 183 in einem einzigen Gottesdienst aufzuführen. Durch ihre Reihenfolge im heutigen Konzert entsteht nun aber eine innere Verbindung zwischen ihnen, bei der es vom Schluss der einen Kantate zum Beginn der nächsten organisch weitergeht. Etwas wie ein grosser Bogen spannt sich über sie, der kirchenjahrmässig von Ostern bis Pfingsten reicht, textlich und musikalisch aber vom dunklen Anfang: "Sie werden euch in den Bann tun" über die alles begründende Mitte: "Seht, was die Liebe tut" zum hellen Schluss führt: "bis der geholfen habe, der allein helfen kann" .                        

Helene Werthemann