Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Es entspricht einem romantischen Mißverständnis, daß das Werk großer Komponisten und Künstler in kontemplativer Versenkung und autonomer Zwiesprache mit ihrem Genius empfangen worden sei. Tatsächlich ist nahezu alle Musik vor der Mitte des 19. Jahrhunderts als Auftragsarbeit für routinemäßige Aufführungskontexte entstanden, bei denen Komponisten und ausführende Musiker meist in einer Person zusammenfielen und die Bereiche der Neukomposition, der Einrichtung älterer Stücke sowie der Darbietung fremder Werke eng miteinander verbunden waren. Für viele Kompositionen des Barock geht die nach Maßstäben des modernen Urheberrechts konstruierte Frage nach Autorschaft und Werkidentität an einer von Pragmatismus und Arbeitsökonomie geprägten Realität vorbei. Gerade die größten Tonsetzer der Musikgeschichte von Bach bis Brahms waren herausragende Kenner der musikalischen Tradition wie der kompositorischen Produktion ihrer Gegenwart, die für sie nie versiegende Inspirationsquellen darstellten. Das Maß an Repertoirekenntnis, das   Johann Sebastian Bach zur Verfügung stand, läßt sich allerdings nur noch ansatzweise rekonstruieren. Immerhin belegen die heute noch nachweisbaren Bestände seiner von Kirsten Beißwenger retrospektiv zusammengestellten "Notenbibliothek", daß Bach handschriftliche Musikalien und Notendrucke aus mehreren Jahrhunderten besaß.

Bachs eigenes geistliches Schaffen entstand insofern nicht im luftleeren Raum, sondern widerspiegelt eine zeitlich begrenzte Schwerpunktsetzung in seiner künstlerischen Biographie und Aufführungstätigkeit. Nachdem er auf den Organistenposten seiner Jugendzeit nur vereinzelt und in Weimar dann regelmäßig Kantaten komponiert hatte, entschloß er sich in seinen ersten Leipziger Jahren, tatsächlich einen großen Teil der wöchentlich benötigten Figuralstücke selbst zu komponieren. Zwischen 1723 und etwa 1727 entstanden so der Großteil seiner Kirchenkantaten, das Magnificat sowie die Frühfassungen seiner Passionen nach Johannes und Matthäus, ein Korpus an Werken, das er später nur noch ausnahmsweise erweiterte, im Laufe der Jahre jedoch beständig wiederaufführte. Neben diesem Bestand an Originalkompositionen bezog Bach aber bereits in diesen Jahren regelmäßig umgearbeitete Kantaten seiner Weimarer Zeit sowie Kompositionen anderer Meister in seine Kirchenmusiken ein. So führte er allein zwischen Februar und September 1726 nicht weniger als 18 (!) Kantaten seines Verwandten Johann Ludwig Bach (1677-1731) auf, der seit 1711 als Kapellmeister des Herzogs von Sachsen-Meiningen wirkte. Im Gegenzug ist es heute diesen Leipziger Abschriften zu verdanken, daß mit den gediegenen Kirchenkantaten und Ouvertürensuiten zentrale Teile des Oeuvres von Johann Ludwig Bach überhaupt noch erhalten sind.

Fast ausschließlich auf fremden Kompositionen beruhte das Repertoire an Motetten, das die Thomaner im Leipzig der Bach-Zeit sowohl zum Eingang des Gottesdienstes als auch für Kurrendeumgänge, Beerdigungen und sonstige Kasualien verwendeten. Neben altehrwürdigen Sammlungen wie dem "Florilegium Portense" von 1618/21 wurden dafür auch Stücke aus der von Johann Sebastian liebevoll zusammengetragenen Familientradition der Bache herangezogen (sog. "Alt-Bachisches Archiv"). Weniger vom Stilbefund als vom Anspruch und Umfang her unterscheiden sich diese Werke erheblich von Bachs eigenen Motetten, die wohl ausschließlich zu herausragenden Anlässen wie Trauerfeiern städtischer und schulischer Honoratioren komponiert wurden. Nachdem die Motette im 17. Jahrhundert in ihrer Bedeutung von der modernenen Form des Geistlichen Concerts überflügelt worden war, gelangte sie im sächsisch-thüringischen Raum um 1700 zu einer neuen Blüte. Während die Motetten älteren Stils vorwiegend vom linearen und wenig textorientierten Kontrapunktstil der Renaissance geprägt waren, orientierten sich die Motetten des Spätbarock an einer faßlichen Harmonik, einer abwechslungsreichen Abschnittsgliederung und plastischen Wortdeklamation sowie einem konzertanten Gestus. Eine meist einfach gehaltene, dafür aber effektvolle Doppelchörigkeit war dabei nahezu die Regel. Johann Ludwig Bachs Motette "Das Blut Jesu Christi" ist dafür ein klangschönes Beispiel. Sie lebt vom engräumigen Wechselspiel der beiden Chöre, verbindet dies jedoch mit einer an der Schütz-Tradition geschulten, nahezu makellosen Sprachvertonung. Abschnitte kontrapunktischer Verdichtung ("von allen Sünden") bleiben Episode im harmonisch orientierten Ablaufkonzept; teilweise finden sich wie in Johann Sebastian Bachs Motetten instrumental geprägte Passagen. Die in ihrer Schlichtheit berührende Motette schließt mit einer zweistrophigen Aria, die sich vom Text (Johann Rist, 1641) und der Vertonungsweise her als Choralsatz zu erkennen gibt. In dieser Reihung von konzertantem Dictum und abschließendem Liedsatz läßt sich eine Annäherung von moderner Kantatenform und althergebrachtem motettischen Modell beobachten, wie sie auch für zahlreiche Kantatensätze Bachs und seiner Zeitgenossen charakteristisch wurde. Zugleich weisen die leichte Zugänglichkeit und eminente Wortorientierung der Musik den Weg für das Überleben der Motette bis weit ins 19. Jahrhundert hinein.

Bedürfte es allein einer behutsamen Instrumentierung der Motette Johann Ludwig Bachs, um den gattungsmäßigen Charakter zu verändern, so wurde dieser Weg im Falle der Passionsmotette "Der Gerechte kömmt um" tatsächlich beschritten. Zugleich handelt es sich bei diesem Stück um eines der rätselhaftesten Puzzleteile der gesamten Bach-Überlieferung - lassen sich doch weder der Komponist der lateinischen Vorlage noch der Bearbeiter der deutschen orchestrierten Version mit letzter Sicherheit bestimmen. Zugrunde liegt ihr fraglos die fünfstimmige Motette "Tristis es anima mea", die 1832 im Nachlaßverzeichnis des Thomaskantors Johann Gottfried Schicht als Komposition von Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau (1660-1722) bezeichnet wurde. Doch sind an dieser Zuschreibung Zweifel angebracht. So lassen sich kaum stilistische Übereinstimmungen zu Kuhnaus sonstigen Kompositionen finden, und auch der Umstand, daß es sich um ein der katholischen Karfreitagsliturgie angehörendes Responsorium handelt, weist weniger nach Leipzig als etwa nach Dresden. Denkbar wäre allenfalls, daß es sich um ein von Kuhnau von dort mitgebrachtes Stück handelt, wobei der reife stile antico der Komposition eher an eine Entstehung um 1730 denken läßt.

Noch komplexer stellt sich die Überlieferung der deutschen Neufassung des Stückes dar. Sie bildet einen Teil der heute in Berlin aufbewahrten Komposition "Wer ist der, so von Edom kömmt". Der auf dem Handschriftentitel befindliche Zusatz "Mit vortreffl. Chören u. Fugen von C. H. Graun" ist insofern irreführend, als gerade die markanten "Fugen" und "Chöre" wie auch manche Arien und Choräle des Werkes nicht von Carl Heinrich Graun herrühren. Vielmehr konnte dank der Nachforschungen von John W. Grubbs und anderen nachgewiesen werden, daß es sich bei der Passionskantate um ein Pasticcio handelt, das zwar auf einer Passion Grauns beruht, jedoch zahlreiche weitere Sätze u.a. von Georg Philipp Telemann, Johann Sebastian Bach sowie von dessen Schwiegersohn Johann Christoph Altnickol enthält. Diese Form des Neuarangements war ein im 18. Jahrhundert übliches Verfahren, das es u.a. Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg gestattete, seine eigentlich nur vier Passionen durch geschickt gewählte Einlagestücke Jahr für Jahr in immer neuem Aufputz zu präsentieren. Verschiedene Indizien weisen nun auf eine Entstehung unseres Pasticcios im Umfeld des späten Bach. Dazu gehört die Einbeziehung mindestens einer authentischen Bach-Komposition - des Eingangschores der Kantate "Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott" BWV 127 - sowie die Beteiligung Altnickols, aber auch der Umstand, daß das Manuskript sich im Nachlaß Carl Philipp Emanuel Bachs befand. Auch hat es in den 1750er Jahren Aufführungen des Werkes im thüringischen Frankenhausen gegeben, die von einem früheren Leipziger Thomasschüler geleitet wurden. Macht man sich von der quellenmäßig nicht mehr haltbaren Vorstellung frei, Bach habe in seiner Funktion als Stadtkantor ausschließlich eigene Werke und auch nur Kompositionen von allerhöchstem Niveau aufgeführt, dann kann man das Pasticcio als ein gutes Beispiel für eine Leipziger Passionsdarbietung in Bachs späterer Zeit betrachten. Ebenso wahrscheinlich ist allerdings die Möglichkeit, daß die Zusammenstellung erst nach 1750 von einem oder mehreren Bach-Schülern vorgenommen wurde und damit eher das Überleben einzelner Stücke des Meisters in einem stilistisch verwandelten Umfeld verkörpert.

Ein besonders merkwürdiger Satz innerhalb des rätselhaften Pasticcios stellt der auf der Motette "Tristis est anima mea" beruhende und dabei von f- nach e-Moll transponierte Chorsatz "Der Gerechte kömmt um" dar. Auch dieser weist textlich nach Leipzig - gehörte es doch dort zu den bis ins 19. Jahrhundert unverrückbaren Traditionen, am Karfreitag mit Jacobus Gallus' Motette "Ecce quomodo moritur justus" die lateinische Version des Textes darzubieten. Daß es sich um eine meisterhafte Bearbeitung handelt, steht außer Zweifel. Neben den fünf Singstimmen ist ein Streichersatz ergänzt, der die Vokalpartien weitgehend verdoppelt, zu Beginn und in der Mitte jedoch mit eigenständigem Material hervortritt. Dazu tritt ein Oboenpaar, das durchgehend auftaktige Seufzerfiguren spielt und im Zusammenspiel mit dem schwer atmenden Continuorhythmus dem Satz den Charakter eines Lamento verleiht. Art und Klangbild dieser Bearbeitung ähneln in auffälliger Weise dem zweifelsfrei von Bach stammenden Motettensatz "O Jesu Christ, meins Lebens Licht" BWV 118, so daß durchaus an Bach als Bearbeiter zu denken wäre. In jedem Fall handelt es sich bei "Der Gerechte kömmt um" um eine Motette von außergewöhnlicher Schönheit, die mit ihrem erhabenen Aufbau und edlen Klageton zutiefst zu ergreifen vermag.

Im Zentrum des heutigen Konzertes steht mit Antonio Lottis Missa sapientiae eine Komposition, die auf ein weiteres Problemfeld der Bach-Forschung und Bach-Aufführungspraxis verweist. Während die Komposition und Darbietung von Kantaten seit jeher im Zentrum des Interesses stand, geriet in Vergessenheit, daß im Leipziger lutherischen Gottesdienst der Bach-Zeit auch ein erheblicher Bedarf an lateinischen Kyrie-Gloria-Messen (sog. Missae breves) sowie an Sanctus bestand. Bachs nicht vor Mitte der 1730er Jahre zusammengestellte vier "lutherische Messen" BWV 233-236 sowie seine fünf Sanctus-Vertonungen bzw. Bearbeitungen können dafür keinesfalls ausgereicht haben; mit welchem Repertoire der Thomaskantor diesem liturgischen Erfordernis Rechnung trug, ist daher noch weitgehend unerforscht. Die als Teile seiner ehemaligen Notenbibliothek ermittelten Messen u.a. von Palestrina, Bassani, Durante und Peranda zeigen dabei, daß konfessionelle Prägungen im Bereich der lateinischen Kirchenmusik keine ausschlaggebende Rolle spielten und katholisches Repertoire weithin Verwendung fand. Zu diesem Bestand gehört auch die sogenannte Missa sapientiae , ein ursprünglich wohl nicht zusammengehöriges Kyrie-Gloria-Paar von Antonio Lotti (1666/67-1740), das Bach von seinem Dresdener Kollegen Jan Dismas Zelenka in einer für die dortige Kirchenmusik eingerichteten Fassung erhielt. Der mit der Operndiva Santa Stella verheiratete und zeitlebens in Venedig tätige Lotti wurde 1717 vom Dresdener Hof engagiert, um die Hochzeitsfeierlichkeiten des Kurprinzen Friedrich August mit der habsburgischen Erzherzogin Maria Josepha musikalisch auszugestalten. Wenn auch Lottis Dresdener Aufenthalt bereits 1719 endete, so erwies sich über die Komposition der Hochzeitsoper "Teofane" hinaus seine Tätigkeit vor allem für die Etablierung einer konzertanten (katholischen) Kirchenmusik am Hofe als segensreich. Für die jüngeren Kollegen der Hofkapelle wie auch für die protestantischen Amtsträger im Lande war Lotti zweifellos ein wichtiges Vorbild, wie eine Denkschrift Johann Kuhnaus zur Reform der Leipziger Gottesdienstmusik von 1720 zeigt. Kuhnau schreibt dort über Lottis Kirchenstil und dessen Messen im besonderen: "Hingegen hat er in seinen Kirchen Stücken eine admirable Gravität, starcke und vollkommene Harmonie und Kunst neben der besonderen Anmuth sehen laßen."

Die Missa sapientiae, von der auch Georg Friedrich Händel ein Exemplar besaß, das er für mehrere seiner Oratorien ausschlachtete, belegt diese Qualitäten in herausragender Weise. Während Lottis kirchenmusikalisches Vermächtnis im 19. Jahrhundert eher in streng kontrapunktischen Arbeiten von der Art der beiden berühmten Crucifixus gesehen wurde, zeigt sie den venezianischen Kapellmeister als souveränen Meister eines gemäßigt modernen Konzertatstils. Lottis Kunst besteht dabei weniger in der Erfindung außergewöhnlicher melodischer oder satztechnischer Konstellationen, sondern in der soliden Ausarbeitung und effektvollen Verwendung einfacher Stilmittel. Der charakteristische Zug der Messe ist daher weniger die Extravaganz, sondern die topische Musterhaftigkeit sämtlicher Teile des Werkes. Die Palette der Satztypen reicht dabei im ersten Teil von einem wuchtig-akkordischen Kyrie I über ein kammermusikalisch dimensioniertes Christe bis zu einem Kyrie II im strengen Satz des stile antico. Das von einer solistischen Trompete gekrönte Gloria i st ebenfalls als Nummernmesse gehalten, die die Ensemblesätze Gloria in excelsis (ausgedehnter Konzertsatz), Gratias agimus tibi (akkordischer Satz), Domine Deus (stark sequenziell ausgerichtete Fuge), Qui tollis peccata mundi (harmonische Klangaufschichtung über wuchtig schreitendem Instrumentalfundament; nicht unähnlich dem Motettensatz "Der Gerechte kömmt um"), Qui sedes (Akkordsatz mit chromatischer Anreicherung) und Cum sancto spiritu (konzertante Fuge mit drei Themen) als Rahmen nutzt. Demgegenüber fungieren die ganz oder überwiegend solistischen Abschnitte Laudamus (Verbindung von mehrchöriger Anlage, Konzertsatz und Fuge), Domine Deus (Sopransolo mit obligaten Holzbläsern über ostinatem Baßfundament), Domine fili (Terzett mit obligaten Violinen) und Quoniam (virtuoses Perpetuum mobile mit zahlreichen Klang- und Farbwechseln) als kontrastierende Abschnitte reduzierter Besetzung und Satzdichte. Die in Zelenkas Bearbeitung erweiterte und verfeinerte Bläserbesetzung vermag diese abwechslungsreiche Struktur noch plastischer hervorzuheben.

Wie das eröffende g-Moll-Kyrie weist die gesamte Missa eine zupackende gestische Qualität auf, die von einem nicht zuletzt von der venezianischen Mehrchörigkeit geprägten Klangsinn sowie einem Gespür für innere Beschleunigung und dramatische Zuspitzung zeugt. Der Übergang eines akkordischen Beginns in eine durchbrochene Auffächerung des Satzgefüges scheint eine von Lotti generell favorisierte Strategie zu sein. Hinter dem noch deutlich an das 17. Jahrhundert erinnernden Notenbild (zwei Violen im Kyrie) insbesondere auch der vokalen Solopassagen kann man allenthalben bereits die virtuosen Linien und die affektmäßige Wucht der spätbarocken Kirchenmusik eines Heinichen, Zelenka und gelegentlich auch Bach und Händel erkennen. Auffällig ist dabei Lottis Bevorzugung weiträumiger ostinater Baßformeln sowie seine Neigung zu lapidaren Instrumentalmotiven und Continuoritornellen mit kadenzierender Wirkung. Zweifachvertonungen desselben Textes wie etwa im Gratias I und II greifen szenischen Techniken Zelenkas voraus. Die Nähe zu manchen Werken Vivaldis erklärt sich sicher aus der gemeinsamen Bindung an die Musikpflege der venezianischen Ospedali. Bachs in der ersten Hälfte der 1730er Jahre entstandene Abschrift folgt im wesentlichen der Vorlage Zelenkas. Allerdings hat es sich der Thomaskantor nicht nehmen lassen, im Domine Fili einen Takt einzufügen, den herauszuhören aber wohl kaum möglich ist (T. 48a).

Anselm Hartinger