Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   
BWV 3
Ach Gott, wie manches Herzeleid I

Georg Philipp Telemann: TWV 4:18
Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras
(Lamentatio auf die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens)
 
   

Von Herzeleid und Todesüberwindung -
Gedanken zu zwei Kantaten Bachs und Telemanns

Die von Bach vertonten Kantatenlibretti zu den ersten Sonntagen nach Epiphanias sprechen nahezu sämtlich von Verlassenheit, Herzensangst und Resignation. Jene für das christliche Heilsverständnis grundlegende Erfahrung einer auf unabsehbare Zeit herausgeschobenen Wiederkehr des Erlösers wird einmal im Kirchenjahr mit zwar vorbekannter, aber dennoch schwer erträglicher Konsequenz Realität: auf die freudenreichen Festtage der Geburt und Erscheinung des Herrn folgt mit schockierender Eile die von Vorahnungen der Passion und des eigenen Sterbens durchzogene Erkenntnis, wieder allein auf sich selbst und die eigenen schwachen Kräfte zurückgeworfen zu sein. Das in den dieser Zeit angehörenden Texten unablässig beschworene Verlangen nach Nähe und Herzensgewißheit, das sich im Bild des verlorenen Jesuskindes verdichtet, korrespondiert mit der schmerzlichen Einsicht, wie "schmal" und "trübsalsvoll" doch der eigene Weg zum Himmel bleibt. Allen weihnachtlichen Verheißungen zum Trotz gehen die kaum ausgesprochenen Segenswünsche der Neujahrsnacht keineswegs von selbst und manchmal überhaupt nicht in Erfüllung.

Bachs zarter und auf verinnerlichte Weise trauriger Adagio -Eingangschor läßt hieran von Beginn an keinen Zweifel aufkommen. Über einem lastend liegenden Baßton, der ausdrücklich nicht mit einer Harmonie ausgefüllt werden soll ( tasto solo ), errichten Streicher und Oboen d'amore ein von Seufzern und weitgespannten Melodiebögen geprägtes Klanggerüst, dessen zum Himmelszelt aufstrebende Bewegung immer wieder in sich zusammenzusinken und stehenzubleiben scheint. Im Grunde kommt der Satz zu keinem Zeitpunkt richtig ins Laufen: hier wird etwas bedauernd hingenommen, an dem sich nichts ändern läßt. Fast bedürfte es des Textes nicht, so sprechend eindringlich ist allein schon die Musik des Vorspiels, das länger wirkt, als es die dafür aufgewendeten 11 Takte erwarten ließen.

Mit dem Einsatz des Chores, der die klagende Geste der Holzbläser für seine Vorimitationen übernimmt, wird dann die zunächst nur angedeutete chromatische Einfärbung der Orchestermotivik unmittelbar verständlich und dabei nach und nach auf die Spitze getrieben: es ist das pure Herzeleid, das hier nicht einfach nur zur Sprache gebracht wird, sondern das dem betenden Sänger in der zweiten Choralzeile unmittelbar "begegnet".

Passenderweise hat Bach den cantus firmus in diesem außergewöhnlich verzagt anmutenden Satz denn auch nicht wie üblich dem Sopran, sondern dem Baß anvertraut, dessen Stimme von einer Posaune sowie vom Continuo nochmals eine Oktave tiefer verdoppelt wird.

Die verwandte Anlage der zweiten Doppelzeile des Chorals wird dann zum Ende in berührender Weise geweitet, wenn Bach den Sopran unüberhörbar zum Himmel "wandern" läßt - womit er nach dem trübsalsvollen Erdenlauf eine doch tröstliche Aussicht eröffnet. Auch die sanft verschlungenen Kantilenen der Oboen d'amore erzeugen bei aller Tragik eine an Bachs Kantaten zum zweiten Ostertag und zu Quasimodogeniti, namentlich BWV 6 und 42, erinnernde Stimmung. Im Grunde ist dies folgerichtig, eröffnet doch Jesus seinen Gefährten auf dem Wege nach Emmaus und später den in Trauer zurückbleibenden Jüngern das Verständnis für seinen Fortgang und weckt damit die zaghafte Hoffnung auf eine Wiederkehr in Freude. Was der manchmal auch trockene Evangelientext an diesen Stellen nicht auszudrücken vermag, lassen Bachs Oboen umso heftiger hörbar werden.

Ganz von der Stimmung des irdischen Widerstreits zwischen Leidenschaft und Glaube geprägt ist hingegen der zweite Satz, ein kämpferischer Choral mit solistischen Einschüben. Den Dialog zwischen tradierter Liedaussage und subjektiver Auslegung hat Bach auch durch den Wechsel zwischen ruppiger Continuo-Begleitung und ausdrucksstarkem Rezitativsatz unterstrichen. Eine in ihrer Außergewöhnlichkeit gerade typisch Bachsche Lösung hat unser Meister mit der folgenden Arie realisiert. Reduziert auf eine Baßstimme und Continuo und versehen mit einer unnachahmlich vertrackten Musik, verweist bereits das vollständige Aussparen jeder hohen Lage auf den dunklen Text und vor allem auf ein inwendiges Geschehen, das sich verborgen im Herzen des Beters abspielt. Man möchte hierin einen Demutsspiegel sehen - sowohl "Höllenangst und Pein" als auch der im Glauben an Jesu gefundene "Freudenhimmel" bleiben lutherisch-schicklich als stiller Trost im Inneren verborgen. Und so ist denn auch die Musik des folgenden Duettes von einer entrückten Exstatik geprägt, die zwischen einem dicht und beweglich gearbeiteten Baß und einer aus Oboen und Violine farbig zusammengesetzten Oberstimme förmlich eingepreßt ist. Dieser Satz hat deshalb dem äußeren Anschein zum Trotz   nichts Gemütliches an sich, sondern er ist mit einer Spannung angefüllt, die in beinahe jedem Moment aus den Singstimmen hervorbrechen könnte, die hier von etwas erzählen möchten, das den Rahmen der Lehre mehr als sprengte. Umso passender und haltgebender wirkt die abschließende Choralstrophe "Erhalt mein Herz im Glauben rein, so leb und sterb ich dir allein", die das Thema der Heilandssehnsucht im schlichten vierstimmigen Satz nochmals aufgreift.

Während die Originalstimmen der Kantate als Teil der von Bachs Witwe Anna Magdalena der Thomasschule übergebenen Thomana-Stimmensätze noch heute in Leipzig aufbewahrt werden, gehört die autographe Partitur zum Bestand der Sammlung Wilhelm in Basel. Fünfzehn erhaltene Takte einer Generalbaß-Aussetzung zur Arie Nr. 3, die früher für eine Handschrift Johann Sebastian Bachs gehalten wurden, stammen tatsächlich von Bachs Schüler Christian Friedrich Penzel und stehen offenbar in Zusammenhang mit dessen Aufführungsprojekten nach 1750.

 
   
   

Unter Georg Philipp Telemanns mehr als 1600 Kantatenkompositionen finden sich neben manchen hochstehenden Routinearbeiten immer wieder herausragende und dabei meist völlig unbekannte Meisterwerke. Zu ihnen gehört auch die Kantate "Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras" TWV 4:18. Das vermutlich durch die Notensammlung der sächsischen Fürstenschule zu Grimma überlieferte Werk wurde dort zwischen 1729 und 1736 mehrfach aufgeführt. Von der Besetzung und Formanlage her handelt es sich allerdings um einen deutlich älteren Typus. Der fünfstimmige Streichersatz mit zwei Bratschen sowie der große Anteil von Ensemblesätzen würden eher auf eine Entstehung kurz nach 1700 deuten. Während die beiden Rezitative als Accompagnati mit begleitenden Streichern gehalten sind, bleiben die Tenorarie und das Duett einem von der Melodik und Satzanlage her relativ schlichten, dabei aber einprägsamen und anrührenden Duktus verbunden, der völlig frei von den weiträumigen Ritornellstrukturen und galanten Einsprengseln späterer Kantatentypen zu sein scheint.

Der Eingangssatz des Werkes folgt einem für etliche Kantaten und vor allem auch die gedruckten Jahrgänge Telemanns typischen Muster - ein Tenorsolo mit eigenständiger Instrumentalbegleitung wird abgelöst von einer vierstimmigen Chorfuge. Die Musik des Satzes ist dabei offenkundig von der Semantik der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit allen Daseins geprägt. Gewiß nicht zufällig wird die Kantate in der Grimmaer Quelle denn auch als "Lamentatio über die Hinfälligkeit des menschlichen Lebens" bezeichnet. Der ernste Duktus des Beginns, die in den leeren Raum hinein verhallenden Figuren der ersten Violine sowie später die Schzehntel-Repetitionen aller Streicher verweisen auf die verlaufende Zeit, die auch die schönste Blume abknickt und vor deren unerbittlicher Macht nichts bleibt.

Höchst eigenwillig ist die Chorfuge gehalten, die mit ihren leeren Tonräumen und ihrer fahlen Klangfarbe unwillkürlich das Bild eines Totentanzes evoziert. Telemann vermag es dabei, wie schon seine biblische Vorlage sowohl das Bild selbst als auch dessen Aussage zu illustrieren - man vermeint förmlich, den Wind zu hören, wie er die Spreu dahinwirbelt, und versteht dies unmittelbar als Aussage über das menschliche Leben. Die reduzierte Stimmenzahl und der Verzicht auf die Continuostütze lassen das Verschwinden aller Erinnerung als Sinnbild der verlaufenden Zeit besonders plastisch hervortreten ("und ihre Stätte kennet sie nicht mehr"). Von den Träumen und Hoffnungen der Menschen bleibt nichts als ein ferner Klang, wenn einmal die stille Wucht des Vergessens darüber gegangen ist.

Nach dem Rezitativ, das die poetischen Bilder des Eingangschores in eine eher moralphilosophisch-argumentive Sprache verwandelt, kehrt die Tenorarie zum fragilen Ton des Eingangssatzes zurück. Singstimme, Continuo und Violine intonieren einen sarabandenartigen Triosatz, dessen resignierte Grundstimmung durch dissonante weite Sprünge der Violinpartie in bedrängende Todesnähe umschlägt. Die altertümliche Satzanlage und Motivik mit ihren zahlreichen Hemiolen paßt insgesamt sehr gut zu einem Text, der stark von der Gedankenwelt des alttestamentarischen Buches Kohelet inspiriert scheint.

Demgegenüber hat das Duett "Jesu lehre mich bedenken" einen zupackend-tänzerischen Charakter. Daß bei den Worten "daß ich einsten sterben muß" stärker auf das dialogische Moment beider Singstimmen gesetzt wird, mag den Prozeß des inneren Nachsinnens illustrieren, der der Annahme der unabänderlichen Botschaft vorausgeht. Auch hier wird der partielle Verzicht auf die Continuobegleitung als Gestaltungsmittel eingesetzt, das auf das Erschrecken verweist, wenn auch erst "einsten", so doch um so gewisser "sterben" zu müssen. Der Mittelteil des Duettes nimmt konzertante Züge an, wenn von der kämpferischen Überwindung des "bittern Todesschuß" die Rede ist.

Die beiden Chorfugen "Herr, lehre uns bedenken" und "So wird des Lebens End recht seliglich betracht" sind nicht nur textlich eng verwandt, sondern auch musikalisch aufeinander bezogen. Beide teilen nicht nur die a-Moll-Tonalität, eine verwandte Continuomelodik und die Bevorzugung des fallenden Dreiklangs mit schmerzhafter oberer Sexte, sondern auch die Konzeption als (hier und da inkonsequent gehandhabte) Permutationsfuge, die stets mehrere Themen gleichzeitig behandelt und nacheinander durch die Stimmen wandern läßt. Die Streicher werden dabei nicht durchgängig und allein zur Verdoppelung der Singstimmen eingesetzt, sondern dienen als zusätzlicher Chor der Hervorhebung einzelner Stellen und einer freien "Orchestrierung" des Satzgewebes. Es handelt sich trotz begrenzter Stückdauern um weiträumig ausgearbeitete und sehr eindrückliche Kompositionen. Beide Chorfugen enden überdies mit einer akkordischen Passage, die den jeweiligen Schlüsseltext nochmals deutlich hervorhebt.Wie Telemann seine Sänger hier rufend Abschied von der Welt nehmen läßt, ist über alle Zeit und Satzkunst hinweg anrührend und für jedermann verständlich.

Ein zweistrophiger Schlußchoral, der die menschliche (Erb-)Sünde als Urgrund des Todes benennt und damit die Brücke von der Buße zur Sterbereitung schlägt, schließt eine Komposition ab, die trotz unterschiedlicher Satzanlagen und einer möglicherweise auch mehrstufigen Entstehung wie aus einem Guß wirkt.

"Und was für Kunst dein Kiel aufs Notenblatt getragen, das wird von Meistern selbst nicht ohne Neid betracht." Als der auch als Dichter mit einer bemerkenswerten Produktivität gesegnete Georg Philipp Telemann 1751 dieses Zeilenpaar prägte, meinte er damit den im Vorjahr verstorbenen Johann Sebastian Bach. Doch könnte man dieses Dictum mit guten Gründen auch auf sein eigenes Schaffen beziehen, das in seinen besten Teilen den Vergleich mit keinem anderen Tonsetzer der Zeit zu scheuen hat.

                                                                                                            Anselm Hartinger