Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Die Thematik des Neujahrsgottesdienstes ist traditionell bestimmt von Rückblick und Ausblick, Lob und Dank. Zudem wird an diesem Tag die Beschneidung und Namensgebung Jesu gefeiert. Daraus erklärt sich die relativ grosse Freiheit in der Textbehandlung, die uns in den sechs erhaltenen Kantaten J.S. Bachs zu Neujahr entgegentritt. Zwei davon, "Singet dem Herrn ein neues Lied" (BWV 190, zum 1.1.1724) und "Jesu, nun sei gepreiset" (BWV 41, zum 1.1.1725) erklingen bei den heutigen Bachkantaten.

 

Singet dem Herrn ein neues Lied

Die Aufforderung, dem Herrn immer wieder ein neues Lied zu singen, findet sich insgesamt achtmal in der Bibel. Bach hat diesen Text bekanntlich in der gleichnamigen Motette verwendet, sowie in einem vierstimmigen Choralsatz. Die Kantate BWV 190 ist hingegen kaum bekannt, was hauptsächlich auf ihre fragmentarische Überlieferung zurückzuführen ist. Die autographe Originalpartitur erhält nur die Sätze 3-7, und auch die originalen Stimmen sind unvollständig: Von Satz 1 und 2 sind nur die vier Gesangsstimmen und die beiden Geigenstimmen erhalten. Die Kantate wurde aus Anlass des Jubelfestes zur 200-Jahr-Feier der Augsburger Konfession am 25.6.1730 umgearbeitet und wieder aufgeführt. Vermutlich ist das Originalmaterial bereits zu diesem Zeitpunkt auseinander gefallen (Smend 1951). In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Rekonstruktionsversuche angestellt, u.a. von Walter Reinhart (1948), Diethard Hellmann (1995), Ton Koopman (2005) und Masato Suzuki (2010). Wir folgen für unsere Aufführung in Satz 1 der Rekonstruktion von M. Suzuki, die uns der Carus-Verlag freundlicherweise als Vorabdruck zur Verfügung gestellt hat. In Satz 2 erklingt eine eigene Rekonstruktion der verloren gegangenen Continuostimme.

Es scheint lohnenswert, die einzelnen Aspekte einer solchen Rekonstruktion aufzuzeigen, um sich damit auch der Kompositionstechnik Bachs etwas annähern zu können.

1. Besetzung: Die Besetzung des Eingangschores wird - gemäss der Praxis in den meisten Kantaten Bachs - gleich gewesen sein wie im Schlusschoral, d.h. in diesem Fall gross und festlich mit dreifachen Trompeten und Oboen plus Pauken, Streichern und voll besetztem Basso continuo.

2. Form: Die Gesamtform ergibt sich aus den nahezu durchlaufenden Violinstimmen bzw. den in den erhaltenen Stimmen verzeichneten Pausen. Damit ist auch die maximale Länge der instrumentalen Vor- und Zwischenspiele bestimmt. Zudem sind durch die in den Singstimmen angelegte Fuge ("Alles, was Odem hat") gewisse Einsätze der anderen Stimmen vorgegeben.

3. Motivik: Die Eingangsmotivik (Ritornell) wurde vom ersten Choreinsatz ("Singet dem Herrn ein neues Lied") abgeleitet.

4. Klanggruppen: In einem grossbesetzten Chorus arbeitet Bach von seiner frühen Leipziger Zeit an vermehrt mit dem erweiterten Concerto-grosso-Prinzip, d.h. die vier Klanggruppen Chor, Streicher, Holz- und Blechbläser stehen im Dialog unter Verwendung von verwandten, aber instrumententypischen Motiven. Dabei kann sich auch eine Stimme von einer Klanggruppe lösen und solistisch auftreten (wie z.B. die 1. Trompete oder die 1. Violine).

5. Basso Continuo/Harmonik: Die Basso continuo-Stimme ist in weiten Teilen identisch mit der Chorbass-Stimme, kann aber zeitweise auch eine eigenständige Motivik entfalten, die den ganzen Satz von unten rhythmisch/motorisch trägt. Ebenso muss die Bassstimme die einzelnen Akkorde stützen und den harmonischen Weg, bzw. die Modulationen deutlich machen.

6. Ausarbeitung: Nun bleibt noch die konkrete Ausarbeitung der einzelnen Stimmen, wobei im Besonderen auf stiltypische Elemente der frühen Leipziger Zeit Bachs Rücksicht genommen werden muss.

Suzuki hat sich sehr sorgfältig mit der Bachschen Tonsprache auseinandergesetzt und auf der Grundlage der wenigen erhaltenen Stimmen eine äusserst gelungene Rekonstruktion geschaffen.

Bemerkenswert in dieser Kantate scheint Bachs Verknüpfung der Psalmtexte mit dem deutschem Te Deum "Herr Gott, dich loben wir" und freier Dichtung. Völlig überraschend wird an zwei Stellen des ersten Satzes das Te Deum vom ganzen Chor einstimmig intoniert und entfaltet dadurch eine schlagende Wirkung. Im zweiten Satz greift Bach diese Melodie vierstimmig auf. Dieser Choralsatz wird aber durch Rezitativpartien in der Abfolge Bass - Tenor - Alt unterbrochen bzw. kommentiert, was als Tropus-Technik in der Kirchenmusik schon seit dem frühen Mittelalter bekannt war.

In Art einer Polonaise, tänzerisch und kraftvoll ruft der Alt im 3. Satz, begleitet von den Streichern, zum Lobe Gottes auf. Im folgenden Bassrezitativ - der Mitte der Kantate - wird die Perspektive auf den Namen Jesu gelenkt. Daran schliesst sich ein zweiteiliges Duett von Bass und Tenor an, begleitet von einem nicht näher bezeichneten Obligatinstrument. Jede Vokalzeile beginnt mit dem Wort "Jesus"; der Bass nennt es zwölfmal und umspannt damit gewissermassen ein ganzes Jahr. In einem Streicheraccompagnato spricht der Tenor Segenswünsche aus. Die Passage "dass aufs neu sich Fried und Treu in unsern Grenzen küssen" spielt auf Psalm 85, 11 an, "dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen".

Der Schlusschoral - die zweite Strophe des Neujahrsliedes "Jesu, nun sei gepreiset" von J. Herman (1591) - erhält seine Pracht durch die Verdoppelung der Gesangsstimmen durch das volle Orchester und Trompeteneinwürfe an den Zeilenenden. Diese Kompositionsart hat Bach später (z.B. im Weihnachtsoratorium) noch weiter ausgebaut.

 

Jesu, nun sei gepreiset

Im darauffolgenden Jahr, am 1.1.1725 erklang diese Choralkantate BWV 41 in Leipzig, in der identischen Besetzung wie BWV 190. Als neue Klangfarbe tritt lediglich für den 4. Satz das Violoncello piccolo hinzu. Das Neujahrslied, dessen 2. Strophe wir bereits gehört haben, verwendet Bach hier als Klammer für den 1. und letzten Satz. Die 2. Strophe wird in den Sätzen 2-6 frei paraphrasiert.

Die auffällige Länge des Eingangschores ist wohl in den 14 Choralzeilen begründet, die Bach in voller Länge im Sopran unverziert erklingen lässt, samt der in Leipzig üblichen Wiederholung der letzten beiden Zeilen. Der Eingangschor zeigt eine grosse und zum Teil verwirrende Vielfalt, die sich aber bei genauer Analyse als planvolle Ordnung entpuppt.

Bach arbeitet mit einem synkopierten Pastoral-Motiv in den Trompeten, das von Fanfaren und Tonwiederholungen in den anderen Stimmen begleitet wird. Dieses Ritornell erscheint immer wieder, in verschiedenen Formen (A, B oder C). Die Choralzeilen werden paarweise vorgetragen, mit einem motettischen Satz der Unterstimmen. Durch einen plötzlichen Tempowechsel und eine homorhythmische Diktion werden die Choralzeilen "Dass wir in guter Stille   / das alt Jahr hab'n erfüllet" nachdrücklich markiert. Die folgende Tabelle möge eine Hilfe sein, die besondere Form dieses Satzes zu verstehen. Taktzahlen sind kursiv gedruckt.

 
   
   

Die erste Arie nach dem opulenten Eingangschor ist eine Pastoralgigue für Sopran und drei Oboen. Der tänzerische Gestus macht den Jahresanfang zu einem Kinderspiel und mag uns an das Goethe-Wort erinnern: "Aller Anfang ist leicht, und die letzten Stufen werden am schwersten und seltensten erstiegen." Der B-Teil dieser Arie wendet sich dann auch in die parallele Molltonart, um Gottes Beistand bittend, ohne den sich des Segens Überfluss nicht einstellen kann - musikalisch ausgedrückt durch überfliessende Diminutionen auf das Wort "Halleluja". Nach diesem in e-Moll endenden Teil bekommt die Leichtigkeit des Anfangs im Da Capo ein anderes Gewicht.

Nachdenklich betrachtet der Alt im folgenden Rezitativ Wohl und Leiden des Lebens. Der Text der nächsten Arie weist auf das Spannungsfeld zwischen dem äusseren "edlen Frieden für Leib und Stand" und dem inneren Frieden, der sich in der Begegnung mit Gottes Wort ereignet. Dafür wählt Bach die im gesamten Kantatenwerk nur viermal auftretende Kombination eines Tenors mit einem Violoncello piccolo. Die Instrumentalstimme wurde in einer Violinstimme notiert, was ein Hinweis darauf ist, dass diese Partie von einem Geiger gespielt wurde (vielleicht auf einem Schultercello, "Viola da spalla", wie Sigiswald Kuijken vermutet).

Das nächste, dreiteilige Bassrezitativ enthält ein eingeschobenes vierstimmiges Zitat aus der deutschen Litanei und beschäftigt sich im Sinne einer confutatio noch einmal mit dem Gegenargument: (1) Der in der vorigen Arie besungene "edle Friede" wird durch den Widersacher ständig gestört, doch Gott möge uns beistehen, (2) den Satan an die richtige Stelle zu verweisen (blockartiger Chorsatz, schwer "tretende" Bassfiguren), wodurch wir (3) gewiss sind, an der Herrlichkeit Gottes Anteil zu haben (chromatische Rückmodulation nach C-Dur).

Als Abschluss folgt die dritte Strophe des Neujahrsliedes, das dieser Kantate ihren Titel gegeben hat. Der von den Streichern und Holzbläsern verdoppelte vierstimmige Choralsatz wird durch zweitaktige Zeilenzwischenspiele der Trompeten erweitert, die noch einmal das Ritornell des Eingangssatzes aufgreifen.

Jörg-Andreas Bötticher