Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Weihnachten wurde wie die beiden andern Hochfeste Ostern und Pfingsten in Leipzig nach alter Tradition auch zu Bachs Zeit noch an drei Tagen gefeiert, d.h. am 25., 26. und 27. Dezember. Auf den letzten dieser Tage gehören die beiden Kantaten BWV 64 und BWV 133, die im heutigen Konzert erklingen. Der Inhalt dieses dritten Weihnachtstages wurde im Wechsel entweder durch die Weihnachtsgeschichte bestimmt oder aber durch die Gestalt Johannes des Evangelisten, dessen Gedenktag der 27. Dezember ist. Johannes war der Lieblingsjünger Jesu. Beim Abendmahl hatte er an dessen Brust gelegen, und kurz vor dem Tod hatte der Gekreuzigte zwischen seiner Mutter Maria und dem Jünger Johannes mit den Worten: "Das ist dein Sohn - das ist deine Mutter" ein enges Mutter-Sohn-Verhältnis hergestellt. Der als Evangelium des Tages verlesene Abschnitt aus Johannes 21, 20-24 hatte unter den Jüngern zur Annahme geführt, Johannes werde vor der Wiederkunft des Herrn nicht sterben, was aber im Johannesevangelium sofort zurecht gerückt wurde: Jesus habe nicht gesagt: "Er stirbt nicht", sondern er habe dem fragenden Petrus geantwortet: "So ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?"

In der ganzen abendländischen Kirchen- und Theologiegeschichte spielte das johanneische Gedankengut eine grosse Rolle. Es wurde durch das Johannesevangelium und die Offenbarung des Johannes bestimmt, besonders aber auch durch die drei dem Johannes zugeschriebenen Briefe, dessen erster zur Zusammengehörigkeit von Gottesliebe und Bruderliebe, von Gotteserkenntnis und Sittlichkeit, von Geburt aus Gott und sündenfreiem Leben geradezu klassische Formulierungen gefunden hat. Die Versöhnung Gottes durch Christi Blut sowie das Bleiben in Gott und die Abkehr von der Welt sind weitere wichtige Stichworte, und es ist bemerkenswert, in wie vielen Kirchenliedern und geistlichen Werken wörtliche Zitate aus dem 1. Johannesbrief oder mindestens Anklänge daran vorkommen. Das gilt nun in besonderem Mass auch für die Kantate BWV 64 Sehet, welch ein Liebe hat uns der Vater erzeiget, die Bach in seinem ersten Leipziger Amtsjahr für den 27. Dezember 1723 vertont hat. Der Text war von einem unbekannten Dichter geschaffen worden in Anlehnung an eine 1720 in Gotha gedruckte zweiteilige Kantate von Magister Johann Oswald Knauer aus Schleitz. Dabei gewichtete der Verfasser der Bachkantate die beiden von Knauer im ersten und zweiten Teil seiner Kantate separat behandelten Gedanken der Gotteskindschaft bzw. der Weltabsage unterschiedlich stark, und er liess sie vor allem nahtlos aufeinander folgen. Dadurch erklärt sich der fast abrupte Übergang von der Weihnachtsfreude in Satz 1 und 2 zur Weltverachtung und Himmelssehnsucht in den übrigen Sätzen, der uns heute befremdlich erscheinen mag, der aber, wie Alfred Dürr ausführte, für das Denken und das Empfinden der Barockzeit charakteristisch war.

Den Eingangschor über 1. Johannes 3,1: "Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget" vertonte Bach in der eher altertümlichen Form einer Motette, bei der die Instrumente über einem teilweise selbständigen Bass mit den Singstimmen zusammen gehen. Bei den durch einen Posaunenchor verstärkten fugenartig einsetzenden Stimmen fällt immer wieder die Hervorhebung des hinweisenden Wortes "Sehet" auf, bis sich dann in den letzten Takten des Satzes alles in sehr eindrücklicher Weise zusammenfindet. Mit einem Trugschluss wird die Fuge beendet, worauf das Wort "dass" auf einen verminderten Septakkord gesungen wird und dann nach einer Pause das abschliessend bestätigende "...wir Gotteskinder heissen" vierstimmig erklingt. Mit der darauf folgenden Schlussstrophe "Das hat er alles uns getan" von Martin Luthers Weihnachtslied "Gelobet seist du, Jesu Christ" wird die Thematik der Gotteskindschaft beendet, und die Kantate wendet sich darauf in den Sätzen 3 bis 8 der bei Knauer im zweiten Teil seiner Kantate im Vordergrund stehenden Bedeutung der Weltabkehr und Himmelssehnsucht zu. Im Altrezitativ   Nr. 3 "Geh, Welt, behalte nur das deine" wird die Flüchtigkeit des irdischen Besitzes durch auf- und absteigende Tonleitern im Continuo dargestellt, und noch einmal wird darauf als Nr. 4 eine Choralstrophe eingefügt: "Was frag ich nach der Welt und allen ihren Schätzen". Es ist ein besonderes Merkmal dieser Kantate, dass in ihr zweimal schlichte vierstimmige Choralstrophen zwischen die Rezitative und Arien eingestreut wurden - eine Form, die bei Bach nicht sehr häufig vorkommt. In der gavottenartigen Sopranarie Nr. 5 wird der Gegensatz zwischen der Vergänglichkeit der irdischen Dinge, die "wie Rauch" vergehen, und dessen, was fest steht, thematisiert. Bei den Sechzehntel-Figurationen der Violine wird man an die Tonleitern vom Rezitativ Nr. 3 erinnert, mit der die Flüchtigkeit der Welt symbolisiert wurde. Umgekehrt weisen die langen Noten unüberhörbar auf das feste und ewige Stehen Bleiben hin. Im Bassrezitativ Nr. 6 spricht das Gotteskind, dem niemand den ihm im Glauben zugeteilten Himmel rauben kann. Hier findet sich vielleicht der extremste Ausdruck für die gewünschte Abkehr von der Welt: "Nur dies, nur einzig dies macht mir noch Kümmernis, dass ich noch länger soll auf dieser Welt verweilen, denn Jesus will den Himmel mit mir teilen." In diesen Himmel richtet die Altarie Nr. 7 ihren Blick: "Von der Welt verlang ich nichts, wenn ich nur den Himmel erbe." Sie strahlt - in G-Dur stehend - mit ihrem 6/8tel-Rhythmus und der konzertierenden Oboe d'amore Leichtigkeit und Zuversicht aus, während dann der Grundton der Weltverachtung mit dem Schlusschoral wieder erreicht wird: "Gute Nacht, o Wesen, das die Welt erlesen, mir gefällst du nicht." Es ist die 5. Strophe des Jesusliedes "Jesu, meine Freude".

Auch die Kantate BWV 133 Ich freue mich in dir und heisse dich willkommen" gehört auf den dritten Weihnachtsfeiertag, aber diesmal zu den Weihnachtslesungen. Es sind dies jene   grossartigen Texte, die nach altkirchlicher Tradition ihren Platz in der dritten Messe des ersten Weihnachtstages haben und die in der lutherischen Kirche auf den 27. Dezember übertragen wurden. Die Epistel aus Hebräer 1,1-14 preist mit Zitaten aus dem Alten Testament die Erhabenheit des Gottessohnes, der als "Glanz von Gottes Herrlichkeit und als Ebenbild seines Wesens" über den Engeln steht. Als Evangelium wird der Prolog des Johannesevangeliums (Joh. 1, 1-14) gelesen: "Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort... Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit." Die Kantate BWV 133 wurde im Rahmen des Choralkantatenjahrgangs geschaffen und am 27. Dezember 1724 zum ersten Mal aufgeführt. Das ihr zu Grunde liegende Lied, in welchem ein über die Geburt des Gottessohnes sich freuendes Ich redet, stammt von Caspar Ziegler (1621-1690), einem musikbegabten Theologen, der nach dem Studium der Rechte auch als Professor für Jurisprudenz in Wittenberg tätig war. Das Lied, in welchem die Menschenfreundlichkeit Gottes und die Unbegreiflichkeit seiner Menscherdung thematisiert werden, besteht aus vier Strophen. Deren erste und letzte sind in Bachs Kantate unverändert beibehalten, während die beiden mittleren je zu einer Arie und einem Rezitativ ausgestaltet wurden. Auch in diesen Sätzen wurde am Wortlaut des Liedtextes weitgehend festgehalten, sei es wörtlich, sei es in Anklängen. Er wurde aber tropiert, d.h. durch Einschübe erweitert. Dies geschah vielleicht am Eindrücklichsten in der Arie Nr. 2, wo der Umdichter durch die Wendung im Lied "Nun kann die Welt genesen" an die Aussage Jakobs nach dem Kampf mit dem Engel in 1. Mose 32, 32 erinnert wurde und sie assoziativ einfügte: "Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen."

Der Eingangschor Nr. 1 erhält seinen Charakter durch einen freudig bewegten Orchesterpart, in den hinein der Choral vom Chor in einem schlichten vierstimmigen Satz gesungen wird. Nur beim Ausruf: "Ach, wie ein süsser Ton!" wird das Zeilenende durch Textwiederholungen gedehnt, und am Schluss wird die Grösse des "grossen Gottessohnes" hervorgehoben. Die Altarie Nr. 2 beginnt mit einem dreifachen aufmunternden "Getrost!" und redet dann vom heiligen Leib, der Gottes unbegreifliches Wesen fasst. Mit diesem heiligen Leib ist derjenige der Jungfrau Maria gemeint, und es ist vielleicht kein Zufall, dass diese Arie von der Altstimme gesungen wird, haben doch Untersuchungen des Bachschen Weihnachtsoratoriums ergeben, dass der Altstimme als Stimme von Maria, diesem Urbild des Glaubens und der Hingabe, eine besondere Bedeutung zukommt. Im Mittelteil der Arie folgt das erwähnte Jakobswort aus 1. Mose 32, 32, versehen mit dem Zusatz "wie wohl ist mir geschehen", dessen kreisende Achtelfigur den ganzen Satz beherrscht. Klingt darin wohl Marias "fiat - mir geschehe, wie du gesagt hast" aus der Verkündigungsszene nach? Im Tenorrezitativ Nr. 3 wird musikalisch zwischen dem Choraltext und den Texteinschüben dadurch unterschieden, dass die wörtlichen Choralzitate mit "Adagio" bezeichnet werden. Die Choralmelodie selbst ist aber meist nur andeutungsweise verwendet. Textlich wird noch einmal auf eine Szene aus dem Alten Testament zurückgegriffen, nämlich auf Adams und Evas Verstecken vor Gottes Angesicht nach dem Sündenfall. Gerade diese Situation ist aber an Weihnachten durch Gottes erbarmendes Erscheinen auf Erden aufgehoben worden.   "Von Angesicht zu Angesicht" ist er nun im kleinen Jesuskind zu sehen. Von grosser Lieblichkeit ist die Sopranarie Nr. 4, bei der die Violine eine wichtige Rolle spielt. Im Mittelteil, der im 12/8-Takt steht und mit "Largo" überschrieben ist, schweigt der Basso continuo. Die Violine II und die Viola bilden als Unterstimme mit der Violine I und dem Sopran zusammen einen Triosatz, worauf dann als Da capo der erste Teil der Arie wiederholt wird. Inhaltlich wichtig ist, dass die in den Ohren lieblich klingende Weihnachtsbotschaft bis ins Herz des Menschen hineindringen soll. Daraus kann dann im Bassrezitativ Nr. 5 die tröstliche Gewissheit geschöpft werden, dass die vom Tod rettende Kraft des Namens Jesu bis in die Gruft hinunter reicht. Das Rezitativ, das analog dem Rezitativ Nr. 3 als Secco-Rezitativ gestaltet ist, mündet in ein Adagio, dessen Text ein wörtliches Choralzitat ist. Auf geradezu extreme Weise findet darin die Gewissheit des ewigen Lebens ihren Ausdruck: "Wer Jesum recht erkennt, der stirbt nicht, wenn er stirbt, sobald er Jesum nennt". Mit der vierstimmig gesetzten Schlussstrophe des Liedes wird das Werk beendet.

Die beiden Kantaten des heutigen Abends haben als gemeinsames Merkmal, dass Bach bei ihrer Vertonung auf das grosse Festorchester mit Pauken und Trompeten verzichtet hat. Auch der Chor wurde nach den vielen Diensten über die Festtage nicht übermässig beansprucht. In ihrer etwas stilleren Art liessen die Kantaten damals das Hochfest ausklingen, am heutigen dritten Advent aber sollen sie - zusammen mit den drei grossen Choralbearbeitungen für Orgel BWV 659, 660 und 661 aus den "18 Chorälen von verschiedener Art" - Ausdruck der adventlichen Erwartung und der Vorfreude auf Weihnachten sein:   

Nun komm, der Heiden Heiland,
Der Jungfrauen Kind erkannt,
Des sich wundert alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.


Helene Werthemann