Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Falsche Welt, dir trau ich nicht

Ausgehend von der Frage der Pharisäer nach dem Zinsgroschen (Mt 22, 15-22), dem Evangelium auf den 23. Sonntag nach Trinitatis, entwickelt Bach mit seinem unbekannten Textdichter in der Kantate BWV 52 einen Zorn auf die Arglist der Welt: Skorpione und falsche Schlangen stehen für die Unredlichkeit, Falschheit, Heuchelei und Raserei. Nur Gott kann und wird mir als Freund beistehen. Der ganze Text, einschliesslich des Schlusschorals ist in Ich-Perspektive formuliert. Ob dies der Grund für Bach war, die Kantate zum 24.11.1726 als Solokantate zu konzipieren oder ob es ursprünglich personelle Besetzungsprobleme waren, lässt sich nicht eruieren. Auffallend ist, dass er das im Text ständig präsente Spannungsfeld Ich-Welt auch in seiner musikalischen Umsetzung vielfältig und plastisch erscheinen lässt.
Bereits die Einleitungssinfonie, der erste Satz des 1. Brandenburgischen Konzertes BWV 1046 zeigt durch seine "verwirrende Vielfalt" (H.-J. Schulze) der solistisch oder in Gruppen konzertierenden Instrumente etwas vom Reiz und den (falschen) Verlockungen der Welt. Die Tatsache, dass Bach hier eine Komposition mit weltlichem Zusammenhang in eine Kantate übernimmt, könnte ja schon als bedeutungsvolle Absicht gewertet werden. Dies greift allerdings zu kurz angesichts der Menge von (weltlichen) Instrumentalsätzen, die Bach seinen Kantaten voranstellt (wie beispielsweise für die Kantaten 29, 146, 174). Diese Praxis wirft viel eher ein Licht auf Bachs Auffassung, dass alle Musik nur "zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths sey", sonst sei sie "keine eigentliche Music sondern nur ein teufflisches Geplärr und Geleyer" (J.S. Bach, Gründlicher Unterricht des Generalbasses, Manuskript, verfasst vom Bachschüler Carl-August Thieme 1738).
Wer die Sinfonie hört, wird weder auf Grund der Melodieführung, der rhythmischen Gestalt noch der Harmonieentwicklung Verdacht schöpfen, dass mit dieser Musik nicht eine wohlproportionierte Aussage erreicht und tugendhafte Affekte angesprochen werden sollen. Um so überraschender ist das auf einem verminderten Septakkord einsetzende erste Rezitativ, in dem Bach sofort zur Sache geht und die "Falschheit" mit Trugschlüssen und "fremden progressionibus" ausdrückt. Noch deutlicher wird er in der folgenden Arie für zwei Geigen. Sie besteht aus kurzen, atemlosen 16tel-Figuren und Sprüngen, die richtungslos bald dahin, bald dorthin zeigen. Sie erscheinen wie aus dem Zusammenhang gerissene Fragmente aus der Sinfonia. Festzuhalten vermag man sich einzig am Dreitonmotiv des Soprans "Immerhin", das wie ein Fels in der Brandung steht und die einzige Perspektive aufzeigt, die mir noch bleibt: Gott bleibt doch mein Freund. Mit dem nächsten Rezitativ wird diese Hoffnung bestärkt, indem Bach die arios gesetzte Aussage "Gott ist getreu" sieben Mal fast beschwörend und quasi mantraartig wiederholt. Die folgende, von drei Oboen begleiteten Arie wirkt durchwegs positiv-ermutigend. Die Seele oder der hier ringende Mensch hat die Kraft gewonnen, sich von der Welt abzusetzen und dazu den Mut, dies bekenntnishaft auszudrücken: "Ich halt es mit dem lieben Gott". In diesem neuen Verhältnis zur Welt lässt sich der Spiess nun umdrehen und sogar selber Spott treiben. Für die Vertonung des Wortes "Spott" verwendet Bach wiederum 16tel-Figuren, die entfernt an melodische Bausteine aus der Sinfonia erinnern. Im fünfstimmigen Schlusschoral muss unser Beter endlich nicht mehr allein bleiben, sondern wird unterstützt von den drei vokalen Unterstimmen, dem vollen Orchester des Eingangschores und einer zusätzlichen Stimme in Altlage, die vom 2. Horn gespielt wird.


Wachet auf, ruft uns die Stimme

Die letzten Sonntage des Kirchenjahres thematisieren die Hoffnung auf eine neue Erde und einen neuen Himmel, die Wiederkunft Christi und die Frage, wie sich ein Christ angemessen darauf vorbereiten solle. Dafür bieten die Lesungen des nur nach einem frühen Osterfest (und damit äusserst selten) vorkommenden 27. Sonntag nach Trinitatis willkommene Anhaltspunkte: Der 1. Thessalonicherbrief spricht von der Bereitschaft für den jüngsten Tag und das Evangelium aus Mt. 25, 1-13 mit dem Gleichnis von den fünf klugen und den fünf törichten Jungfrauen, die auf ihren Bräutigam warten, bringt eine Geschichte, die in ihrer eindrücklichen Metaphorik kaum zu überbieten ist.
Traditionellerweise wurde (und wird) am letzten Sonntag des Kirchenjahres das Lied "Wachet auf, ruft uns die Stimme" gesungen, und so dürfte es für Bach naheliegend gewesen sein, dieses Lied als Grundlage für die auf diesen Sonntag zu komponierende Kantate zu wählen. Melodie und Text dieses Chorals stammen von Philipp Nicolai (1599).


Philipp Nicolai

Der 1556 in Hessen geborene Nicolai musste an verschiedenen Orten mindestens viermal das Wüten der Pest erleben. Früh verliert er seine Mutter und drei seiner Geschwister. Er studiert in Erfurt und Wittenberg Theologie, die Lehre der Gegenwart Christi im Abendmahl (Ubiquität) wird zu seinem theologischen Hauptthema. Als Pfarrer ist er in Unna tätig, bis er 1601 zum Hauptpastor von St. Catharinen gewählt wird. Allen theologischen Anfeindungen und persönlichen Schicksalsschlägen zum Trotz wird ihm die Begegnung mit Christus zu einer Kraftquelle, aus der heraus er 1599 seinen "Frewden Spiegel deß ewigen Lebens" als eine Art Trostbuch für seine Gemeinde in Zeiten der Pest veröffentlichen kann. Das Buch enthält eine "Gründtliche Beschreibung deß herrlichen Wesens im ewigen Leben / sampt allen desselbigen Eygenschafften vnd Zuständen / auß Gottes Wort richtig vnd verständtlich eyngeführt. Auch fernere / wolgegründte Anzeig vnd Erklärung / was es allbereit für dem jüngsten Tage für schöne vnd herzliche Gelegenheit habe mit den außerwehlten Seelen im himmlischen Paradeiß. Allen betrübten Christen / so in diesem Jammerthal / das Elendt auff mancherley Wege bauwen müssen / zu seligem vnd lebendigem Trost zusammen gefasset." Diesem Meditationsbuch fügt Nicolai die zwei "geistlichen Brautlieder" bei: "Wachet auf, ruft uns die Stimme" und "Wie schön leuchtet der Morgenstern".
Beide Gesänge sind deutlich aus dem Geist der christlichen Brautmystik heraus gedichtet und sind sowohl inhaltlich als auch melodisch stark miteinander verbunden.
Dank ihrer vielfältigen melodischen Gestalt, bestehend aus Dreiklangsfiguren, verbundenen Linien und Quart-Sekund-Fortschreitungen, geben beide Choräle willkommenen Anlass, mit diesem thematischen Material variationsreich umzugehen.

 
   
 

Grosse Beliebtheit hat der Choral "Wachet auf" nicht zuletzt durch Bachs eigene gleichnamige Bearbeitung für Orgel erreicht (BWV 645), die er zusammen mit fünf anderen Orgelkompositionen 1748/49 von Georg Schübler verlegen liess. Die Technik der Bearbeitung ist erstaunlich einfach: Bach überträgt den dreistimmigen Originalsatz Note für Note auf die Orgel. Dabei wird die Streichermelodie von der rechten Hand, und der gesungene Tenor-Cantus firmus von der linken Hand gespielt, während das Pedal die Basso continuo-Stimme übernimmt. Im heutigen Konzert hören wir die Bearbeitung vor dem Original. Als Vorbereitung auf die Choralkantate wird anschliessend der Choral mit der "Kantatengemeinde" im Stile der Bachzeit mit Begleitung durch die grosse Orgel gesungen: feierlich langsam, mit Fermaten an allen Zeilenenden, die von der Orgel mit kleinen Zwischenspielen und Überleitungen ausgeschmückt werden.
Für die am 25.11.1731 erstmals erklungene Kantate BWV 140 nimmt Bach die drei Choralverse Nicolais als Eck- und Mittelpfeiler seiner Komposition und erweitert diese um je ein Rezitativ und ein Duett, sodass folgende Form entsteht:

Chorus Vers 1
Rezitativ (Tenor) - Duett (Sopran/Bass)
Choral Vers 2 (Tenor)
Rezitativ accompagnato (Bass) - Duett (Sopran/Bass)
Choral Vers 3

Die eingeschobenen Texte sind voller biblischer Bezüge. Zu jedem einzelnen Satz lässt sich eine Bibelstelle nachweisen. So entsteht ein dichtes Geflecht mit Verbindungen zwischen alt- und neutestamentarischem Bibeltext, Choraltext und einer mystischen Metaphorik, die auf die Vereinigung mit Christus hin gedeutet wird.
Die Kantate wird mit einem feierlichen, grossangelegten Chorus eröffnet (205 Takte!). Der punktierte Rhythmus erzeugt eine ouvertürenartige Stimmung der Erwartung. Der in den ersten zwei Takten insgesamt 12x angeschlagene Ton es deutet auf die in der ersten Choralzeile erwähnte Mitternachtsstunde. Die erste Violine führt das leicht verzierte und durch einen Anapäst-Rhythmus (kurz-kurz-lang) energetisch aufgeladene Dreiklangsmotiv der 1. Choralzeile ein. Dieses zieht sich fortan durch das ganze Stück, häufig im Dialog zwischen Geige und Oboe. Nach 16 Takten setzt der Chor ein, wobei der - durch ein Horn verstärkte - cantus firmus im Sopran in grossen Notenwerten liegt und die Unterstimmen die einzelnen Choralzeilen jeweils imitatorisch vortragen. Beim "Alleluja" ändert Bach die Satztechnik: die drei Unterstimmen übernehmen die 16tel-Figuren der Instrumentalstimmen und beginnen mit einer dreistimmigen Fughette, die durch ihre melismatischen Bewegungen wie ein überschäumender Jubel wirkt. Die letzten Choralzeilen sind wieder motettisch gesetzt und kulminieren in der Aufforderung "Wir müssen ihm entgegen gehen". Das mit dem Anfang identische Orchesternachspiel bekommt somit einen affirmativen Charakter, in dem sich Erwartung und nahe Erfüllung verbinden. Der Tenor als Erzähler leitet über in den ersten Dialog zwischen der jungfräulichen Seele (Sopran) und Christus (Bass). Bemerkenswert ist Bachs Einsatz eines Violino piccolos, das nach einer sehnsüchtig-verlangenden Eröffnungsfigur (aufsteigende Sexte) in drängende Diminutionen ausbricht, die an die flackernde Flamme eines Öllämpchens erinnern können. Den autographen Stimmen zu Folge soll diese etwas kleinere und um eine kleine Terz höher gestimmte Violine ausserdem noch in den Sätzen 1, 5 und 7 gespielt werden. Bach hat das Instrument ansonsten nachweisbar nur in drei weiteren Werken verwendet (BWV 96, 102, 1046).
In Satz 4 vertont Bach die zweite Choralstrophe als Triosatz mit der leicht verzierten Choralmelodie im Tenor und einem äusserst eingängigen Streicherritornell, dessen melodisch-rhythmische Gesten dem Affekt der zweiten und dritten Textzeile entnommen sind. Man spürt förmlich, wie das Herz "vor Freude springt" und wie Zion, bzw. die Seele Christus entgegeneilen möchte. Im folgenden Bassrezitativ, in dem Bach durch die Streicherbegleitung (wie in der Matthäuspassion) Christus in einer Gloriole erscheinen lässt, spricht der Bräutigam die Einladung zur Vereinigung, zur unio mystica aus. Christus zeigt sich aber nicht als unnahbarer König, sondern als Freund und Geliebter, der sich verständnisvoll auf die Ängste und die Betrübtheit der Seele einlässt (besonders beachtenswert die völlig aussergewöhnliche Akkordmodulation auf "betrübtes Aug"). Das nächste, von der Oboe begleitete Duett feiert diese Liebesverbindung. Der vollbesetzte Schlusschoral bringt die dritte Choralstrophe, die im Gloria das Lob durch Engel und Menschen und damit die himmlische und die irdische Kantorei vereint. Dieser Gesamtklang, überhöht vom leuchtenden Glanz des die Choralstimme oktavierenden Violino piccolos, ist extrem sinnlich, und lässt doch erahnen, welche - alle Sinnlichkeit transzendierende - Freude uns in der Gegenwart Christi erwartet.

Jörg-Andreas Bötticher