Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

"Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen" (BWV 48)

Die Kantate "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen" (BWV 48) ist ein in mehrerlei Hinsicht eigenartiges Werk (wenn es auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit anderen Kantaten des ersten Leipziger Jahrgangs teilt, in dem es zum 19. Sonntag nach Trinitatis am 3. Oktober 1723 erstmals aufgeführt wurde). Martin Petzold bezeichnete es treffend als "eine Art theologisches Ratespiel", in dem die Hörer zu Textassoziationen und damit zu Meditation angeregt werden. So besteht der einleitende lange Satz textlich aus einer einzigen Frage – "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen vom Leibe dieses Todes?" –, die der Chor mit strengen, aber immer wieder variierten kanonischen Einsätzen insgesamt sechsmal vorträgt. Die melodischen Seufzer- und Klagemotive charakterisieren ihre Brisanz, die scheinbar unablässigen Wiederholungen intensivieren die Ausweglosigkeit. In dieses dichte Gewebe hinein erklingt nun eine instrumentale – und gleichfalls im Kanon – von Horn (bzw. Zugtrompete) und Oboe vorgetragene Melodie. Spätestens hier beginnt das Ratespiel, konnte und sollte man hier doch den Choral "Herr Jesu Christ, du höchstes Gut" erkennen. Dies beantwortet und kommentiert gleichsam die Frage des Chors, ist aber nur für den Eingeweihten zu verstehen. Da dieselbe Melodie auch mit dem Text "Herr Jesu Christ, ich schrei zu dir" bekannt war, ergeben sich noch weitergehende Assoziationsmöglichkeiten (vor allem dann auch zu den weiteren Sätzen).

Die einleitende Fragezeile stammt aus dem Römerbrief (Römer 7,24) und steht nur in indirekter Beziehung zum Epistel und Evangelium des Sonntags. Dort geht es um die Ermahnung, den alten Menschen abzulegen und den neuen anzuziehen (Epheser 4,22-28), und um die Heilung des Gelähmten (Matthäus 9,1-8), also ein Beispiel für die Kraft des Glaubens und die Macht Gottes. Auch das anschliessende Rezitativ nimmt noch nicht direkt Bezug auf diese Thematik, sondern vergleicht die Sünden mit einem Gift, das zum Tode führt ("O Schmerz, o Elend, so mich trifft ..."). Gemeint ist, dass die Bedrohung der Seele gegenüber dem Tod des Körpers ungleich schwerwiegender ist. Die ausgeschriebene Streicher-Begleitung bringt die Drangsal der mit grossen und unbequemen Intervallsprüngen rezitierenden Singstimme mit drastischen Harmonien zur Geltung.

Unerwartet schliesst sich ein Choral ("Solls ja so sein") an, der die eigenwillige Harmonisierung in der Begleitung insbesondere in der Schlusszeile "laß mich hie wohl büssen" weiterträgt. Textlich bestätigt werden die Reflektionen des Rezitativs, in dem die Annahme der irdischen Mühen mit der Bitte um eine Vergebung der Sünden verbunden wird. Die folgende, recht kurze Alt-Arie "Ach lege das Sodom der sündlichen Glieder" mit obligater Oboe ist musikalisch frei von jeder Mühsal und Bedrohung, ganz im Gegenteil liefert ein schwungvolles Thema den Rahmen für die Bitte, nur den sündigen Körper zu strafen, die Seele aber zu schonen (jene mit dem sündigen Sodom, diese aber mit dem himmlischen Zion vergleichend).

Erst im Tenor-Rezitativ "Hier aber tut des Heilands Hand ..." wird der eingangs ja sozusagen nur 'unausgesprochen' präsente Heiland erstmals explizit genannt und seine besondere Rolle im Heilsgeschehen aufgedeckt. Die aufgehellten Harmonien am Ende ("er weiss im geistlich Schwachen den Leib gesund, die Seele stark zu machen") leiten zur Arie über, in der dies nochmals bestätigt wird. Musikalisch raffiniert und den Satz auch vorantreibend wirkt ein besonderes rhythmisches Spiel: Der im Dreiviertel-Takt notierte Satz wechselt regelmässig in ein Metrum, in der zwei solche Takte in einen gedachten Takt mit doppelter Zählzeit zusammengefasst werden (Hemiole genannt). Dadurch verschiebt sich die rhythmische und musikalische Gliederung immer wieder von sozusagen 2 x 3 hin zu 3 x 2, was eine gewisse Widerständigkeit und auch eine Destabilisierung der Orientierung bewirkt. Alle Zweifel ausgeräumt werden aber spätestens im Schlusschoral "Herr Jesu Christ, einiger Trost" – und dies mit der gleichen Melodie wie die der instrumentalen Einschübe im Eingangssatz ("Herr Jesu Christ, du höchstes Gut" bzw. "Herr Jesu Christ, ich schrei zu dir"). Hier nun lösen sich alle Fragen – die eindeutige Antwort auch in Bezug auf die Sonntagsthematik liegt in den ersten drei Worten des Chorals.


"Widerstehe doch der Sünde" (BWV 54)

Die Kantate "Widerstehe doch der Sünde" (BWV 54) ist ein vergleichsweise sehr kurzes Werk, bestehend aus nur zwei Arien für Altus und Streicher, verbunden durch ein dazwischen stehendes Rezitativ. Bevor die Librettovorlage des Darmstädter Hofpoeten und -bibliothekars Georg Christian Lehms in dem 1711 gedruckten Gottgefälliges Kirchen-Opffer entdeckt wurde, wurde in der Forschung sogar ein möglicher Verlust von weiteren Sätzen vermutet. Tatsächlich sind die drei Teile aber in sich inhaltlich sehr kohärent, behandeln sie doch in konziser Weise das Thema 'Ermahnung zum reinen Lebenswandel', wie es für 'Oculi' - das ist der vierte Sonntag vor Ostern, der Name leitet sich von dem Beginn des entsprechenden Einleitungsgesangs (Introitus) der lateinischen Messe ab ("Meine Augen sehen stets auf den Herrn"; Ps. 25,15) – vorgesehen war. Bach führte diese Kantate möglicherweise am 4. März 1714 in Weimar auf – das wäre nur zwei Tage nach seiner Ernennung zum dortigen Konzertmeister gewesen. Laut seiner Anstellungsverpflichtung musste er "Monatl. neue Stücke ufführen", also jeweils Kantaten für den Hofgottesdienst liefern und mit der Hofkapelle aufführen. "Widerstehe doch der Sünde" wäre demnach sein erstes 'Pflichtstück' gewesen. Und wie ein genauer Blick zeigt, entpuppt sich die scheinbare kleinformatige Kantate als ein kunstvoll konzentriertes Kleinod, das einem solchen Anlass durchaus angemessen wäre; Bach selbst schätzte sie so sehr, dass er sie 1731 in der heute leider verschollenen Markus-Passion wieder aufgriff. (Allerdings kommt auch ein späterer Termin in Weimar in Betracht.)

Schon der Beginn des Orchesters ist fulminant mit seinen pointierten Dissonanzen, den pochend vorantreibenden Achteln der Unterstimmen sowie den schmeichelnden Melodiefiguren. Bezogen auf den Text könnten die dissonanten Schärfen als aufrüttelnde Ermahnung verstanden werden, dem Gift der Sünde zu widerstehen, das durch die wie eine Schlange biegsame Melodik ausgedrückt ist. Dieses zentrale Textwort 'widerstehen' wird aber auch durch einen langen Halteton des Altus dargestellt, der dem um ihn herum bewegten Orchester buchstäblich widersteht. Im zweiten Abschnitt der Arie zeigt der Einsatz der Orchesters nach der Textzeile "denn die Gottes Ehren schänden, trifft ein Fluch, der tödlich ist", dass die scharfen Dissonanzen des Eingangs auch als der drohende Fluch verstanden werden können. Wie so oft in den Werken Bachs gibt es wohl viele Möglichkeiten der Interpretation – eindeutig ist stets nur die von ihm beabsichtigte Wirkung.

Das Rezitativ nutzt weidlich die Möglichkeiten der musikalischen Rhetorik. Der Text verbalisiert die nur äusserliche und daher falsche Schönheit der Sünde, enthüllt also die verführerischen Klänge der vorangehenden Arie. In drastischen Bildern in Text und Musik werden etwa der "leere Schatten und übertünchtes Grab" geschildert, mit fahlen Klängen und in tiefster Stimmlage. Die trügerische Verlockung der "Sodomsäpfel" – das sind nur schön anzusehende, aber ungeniessbare Früchte – entlarvt sich durch den 'teuflischen' Intervallschritt einer verminderten Quart und Dissonanz zur Begleitung. Die Sünde sei schliesslich wie ein "scharfes Schwert, das uns durch Leib und Seele fährt", wobei die Basslinie der Continuostimme wie eben ein solches Schwert in kleinen Notenwerten den Tonraum durchschneidet.

Der abschliessende Satz ("Wer Sünde tut, der ist vom Teufel") ist charakterisiert durch den starken Effekt der Chromatik, also der in Halbtonschritten absteigenden Melodie. In der Form einer Fuge agieren die beiden Streicher- wie die Vokalstimme, wobei die Sogwirkung der chromatischen Linie die gefährliche Verführungsmacht der Sünde bzw. der Teufels darstellt. Der melodische Duktus der Singstimme ändert sich aber jeweils zu den Textzeilen "Doch wenn man ihren schnöden Banden ... widerstanden", die mögliche Überwindung auch in Musik darstellend. Wie die sich aber immer wieder einschleichenden Anklänge an die Chromatik zeigen, gelingt das Lösen vom sündigen Tun nur bedingt.


"Ach! Ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe" (BWV 162)

Das bekannte Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Matthäus 22,1-14) hält für den Gläubigen eine ambivalente Botschaft bereit: Gott sei wie ein König, der zur Hochzeitsfeier seines Sohnes einlud. Wer die wiederholte Einladung nicht annahm, wurde von seinen Soldaten getötet. Nachdem er X-Beliebige zu seinem Feste bringen liess, entdeckte er in der Festgesellschaft einen Mann ohne entsprechendes Festkleid und fragte ihn, wie dieser ohne ein Hochzeitskleid habe Einlass finden können? Da der Mann keine Antwort geben konnte, liess ihn der König hinaus in die Finsternis werfen, wo ihm das sprichwörtliche Heulen und Zähneknirschen sein werde: "Denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt." Die kostbare Einladung Gottes ist demnach nicht ungestraft abzulehnen, auch ist sie nicht umsonst, denn man muss vorbereitet vor sein Angesicht treten. Nicht zufällig war der 20. Sonntag nach Trinitatis, an dem das Gleichnis das Sonntagsevangelium bildete, in Leipzig nach alter Tradition der bevorzugte Tag für den Abendmahlsgang.

Johann Sebastian Bach griff für die Kantate am 10. Oktober 1723 – also in seinem ersten Leipziger Amtsjahr - auf ein bereits früher in Weimar geschriebenes Werk zurück ("Ach! Ich sehe, itzt, da ich zur Hochzeit gehe" erklang vermutlich am 25. Oktober 1716). Aus der Leipziger 'Wiederaufnahme' erklären sich auch die Unterschiede in den erhaltenen Stimmensätzen, musste Bach die Instrumentalstimmen wegen des anderen Stimmtons an beiden Orten in neuer Transposition schreiben; auch ergänzte er für Leipzig eine bemerkenswerte "corno da tirasi"-Stimme (gemeint ist hier ein Horn mit einem ausziehbaren Zugmechanismus, um den benutzbaren Tonvorrat auf dem Naturtoninstrument zu erweitern), die ausgesprochen eloquente Aufgaben zu lösen hat und wohl die herausragenden Fähigkeiten eines Leipziger Stadtpfeifers widerspiegelt.

Aus Weimar stammt auch das Libretto, entnahm Bach es der Sammlung von Kantatenlibretti des Weimarer Hofbeamten, Salomon Franck (Evangelisches Andachts-Opffer, Weimar 1715). Franck griff direkt auf das Gleichnis des Sonntagsevangeliums zurück und handelt es mit poetisch starken Ausdrücken ab. Gleich in der Eingangsarie bringen gehäufte Kontrastpaare die widersprüchlichen Erwartungen des geladenen Hochzeitsgastes zum Ausdruck ('Wohl und Wehe', 'Seelengift und Lebensbrot', 'Himmel und Hölle', 'Leben und Tod'). Bach unterstützt diese Dichotomien durch eine mit vielen Sprüngen geführte Vokalstimme in Basslage, die innerhalb eines dichten imitatorischen Satzes der Instrumente markant bleibt, wobei die negativen Begriffe mittels Tieflage und Dissonanzen untermalt sind. Auch im anschliessenden Tenor-Rezitativ ("O großes Hochzeitsfest") werden die textlichen Kontrastpaare (Himmel und Thron gegenüber Erde und Füssen) ähnlich markiert, wie sich eine ganze Reihe von weiteren musikalisch-rhetorischen Auszeichnungen finden (wie etwa das gedehnte 'ewig' oder das stark dissonante 'verflucht'). Inhaltlich ist dieses Rezitativ wichtig, wird hier doch das Gleichnis aufgelöst.

Die Sopran-Arie "Jesu, Brunnquell aller Gnaden" stellt eine Reflektion der Mittlerrolle Jesu dar, der gegenüber dem schrecklich strafenden Gott helfen kann. Die Vertonung kombiniert wirkungsvoll die Anrufe "Jesu" und später "nach dir" mit den Pausen und Dissonanzen zu "ich bin matt, schwach und beladen" über einem bewegten Continuo im flüssigen 12/8-Rhythmus. Offen ist die Frage, ob durch die geschilderte Überlieferungsgeschichte hier eine instrumentale Oberstimme verloren gegangen ist, die hier in der Einleitung und in den Ritornellen agieren sollte. Wenn ja, dann könnten entweder eine oder zwei Violinen gespielt haben - in den erhaltenen Stimmen gibt es aber keinen Hinweis darauf - oder auch der fähige Stadtpfeifer des Einleitungssatzes etwa mit einer Oboen- oder Traversopartie beauftragt gewesen sein. Denkbar wäre aber auch ein entsprechend reich ausgeführtes Continuo, wie es etwa von Bachs Zeitgenossen Johann Heinrich Heinichen beschrieben wird.

"Mein Jesu, laß mich nicht unbekleidet kommen", ein Alt-Rezitativ, spielt wieder direkt auf das Gleichnis an ("mit Schrecken habe ich vernommen, wie du den kühnen Hochzeitsgast ... verworfen und verdammet hast"), nun allerdings Jesu mit dem strafenden König gleichsetzend. Auch wird nun das geforderte Kleid genauer charakterisiert – gefertigt aus der Seide der Unschuld, der Purpur von Christi Blut ist der rechte Schmuck –, mit dem der Gläubige zum Abendmahl gehen kann. Das folgende Duett von Alt und Tenor "In meinem Gott bin ich erfreut" – übrigens wiederum ohne obligate Instrumentalstimme –, der auf den Schlusschoral "Ach, ich habe schon erblicket" vorausblickt und die Glaubenszuversicht betont. Inwieweit die dem Choral zugrundeliegende Melodie "Alle Menschen müssen sterben" durch abermaliges Mahnen eine weitere Bedeutungsebene einzieht, sei dahingestellt.

Martin Kirnbauer