Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Einführung in die Kantaten vom 12. September 2010

Was Gott tut, das ist wohlgetan
Diese Choralkantate entstand für den 15. Sonntag nach Trinitatis, der 1724 auf den 17. September fiel. An diesem Sonntag wurde ein Ausschnitt aus der Bergpredigt gelesen, in dem Jesus die Jünger auffordert, sich nicht zu sorgen, sondern "am ersten nach dem Reich Gottes zu trachten" (Mt 6, 24-34). Das Lied "Was Gott tut" von Samuel Rodigast (1649-1708), einem Schulrektor des Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin, scheint bei Bach besonders Anklang gefunden zu haben, hat er es doch als Grundlage für drei Kantaten (BWV 98-100), acht Choräle sowie für zwei Orgelchoralbearbeitungen verwendet.

Aus dem Lied spricht eine grenzenlose Zuversicht und ein absolutes Gottvertrauen. Eine solche Haltung der Ergebenheit kommt uns auch im Bild der Vögel am Himmel oder der Lilien auf dem Felde entgegen. Bach entscheidet sich dafür, die beiden Eckstrophen unverändert zu übernehmen. Die vier inneren Verse sind eine freie Umdichtung unter weitgehender Beibehaltung der originalen Reime. Ein choralkundiger Gottesdienstbesucher wird ohne weiteres sofort die entsprechenden Choralverse wiedererkannt haben.

Konzertierende Motette  
Die Kantate beginnt mit einem 16-taktigen, freudigen Streicherritornell, worauf die einfachbesetzten Blasinstrumente Traverso und Oboe d'amore mit ihrer ersten Soloepisode folgen. Mit diesem Kompositionsmuster könnte Bach nun weiterfahren und würde in der Abwechslung von Tutti- und Solo-Abschnitten ein völlig typisches Muster eines italienischen Concertos à la Vivaldi erreichen. Umso überraschender ist - auf der Grundlage dieser Hörerwartung - dann jedoch der Einsatz des Soprans mit der Choralmelodie in langen Notenwerten. Die Unterstimmen wiederholen in der Art einer thüringischen Motette den Choraltext in kleineren Notenwerten. Auf diese Weise verknüpft Bach ein modernes mit einem traditionellen Kompositionsmodell und erweitert so den Spielraum der Interaktionen zwischen den Klanggruppen. Erwartungsgemäss setzen nach Ende der ersten Choralzeile die Streicher wieder mit ihrem Ritornell ein, können es aber nicht zu Ende spielen, sondern müssen den zweiten Teil an die Bläser abgeben. Es entstehen vielfältige Dialoge und Überschneidungen; dabei wird die eher strenge Motettenschreibart des Chores aufgelockert mit einem instrumentalen fröhlich-tänzerischen Daktylus-Motiv, das sich wie ein roter Faden durch den ganzen Satz zieht.

Erschüttere dich nur nicht
Das folgende Bassrezitativ endet in einem kleinen Arioso, welches durch Überbindungen und die Richtung ändernde Figuren anschaulich zeigt, wie Gott das Unglück wenden kann. In Satz 3 wird wieder einmal mehr deutlich, dass Bach seine Sänger und Musiker hinsichtlich der technischen Schwierigkeiten kaum geschont hat. Der Flötenpart ist aufgrund der enormen Phrasenlänge und des nahezu voll ausgeschöpften Umfangs (e1-e3, im Eingangssatz sogar bis g3) einer der anspruchsvollsten im Bachschen Kantatenwerk. Zu der Zeit dürfte diese Partie vom Jurastudent und Bachschüler Friedrich Gottlieb Wild ausgeführt worden sein, dem Bach 1727 attestierte, dass er sich "vor verständigen Musicis mit besonderem Applausu" habe hören lassen. Begründet wird solch virtuoses, mit Chromatik durchsetztes Laufwerk durch das Erschüttern und Verzagen der Seele, "wenn der Kreuzeskelch so bitter schmeckt". Interessanterweise stellt Bach zuerst den negativen Affekt in seiner ganzen Schärfe dar und setzt den Hörer zunächst der ganzen Erschütterung aus, um dann die Hauptaussage mit den zwei kleinen Worten "nur nicht" umzudrehen. Das Geheimnis wird im B-Teil gelüftet: Im Schmerz, im Kreuz ist eine Süssigkeit verborgen, die nur der schmeckt, der diesen Kreuzweg geht.

Auch das zweite Rezitativ fliesst in ein Arioso, das durch das lange Melisma auf dem Worte "erscheinet" deutlich macht, dass sich der verborgene Sinn des Leides erst nach und nach erschliesst. Auf diese tröstliche Kadenz in D-Dur könnte nun der Schlusschoral folgen. Trotzdem schleichen sich immer wieder Zweifel ein, ob der eingeschlagene Kreuzweg wirklich der richtige sei. Wie Jesus auch in der Bergpredigt verschiedene Bilder verwendet, um den Jüngern die Haltung der Gelassenheit zu vermitteln, doppelt Bach mit Satz 5 nach: Im Sinne einer confutatio, einer Beschäftigung mit den Gegenargumenten, fügt er hier ein eindrückliches Quintett für zwei Holzbläser, Sopran, Alt und Basso continuo ein. Das Thema drückt sich gleichsam schmerzhaft klopfend ins Ohr und bleibt in einer Septimdissonanz hängen, bevor es durch den Einsatz der nachfolgenden Stimme "erlöst" wird. Im weiteren Verlauf gibt es wenig Tröstliches; ja, es wird geradezu unerträglich aber auch unausweichlich, sich diesem absoluten Nullpunkt auszuliefern. Nur für kurze Momente – in der Darstellung des "künftig Ergötzlichen" – wendet sich der harmonische Verlauf in die Richtung von Dur-Tonarten und lässt erahnen, dass die Kantate ja eigentlich zuversichtlich begonnen hat. Ein reich bewegter, aber fröhlicher Choralsatz, bei dem wie auch im Eingangssatz der cantus firmus durch ein Corne – gemeint ist vermutlich eine Tromba da tirarsi oder ein Cornetto – eine stärkere Leuchtkraft bekommt, schliesst diese Kantate ab.

 

Wilhelm Friedemann
Den 300. Geburtstag von Wilhelm Friedemann (1710-1784), Johann Sebastian Bachs ältestem Sohn, nehmen wir zum willkommenen Anlass, eine Kantate aus seiner Feder in der Reihe der Bachkantaten aufzuführen. Allerdings sind die Kantaten Wilhelm Friedemanns noch nicht komplett ediert, zudem ist für den heutigen 15. Sonntag nach Trinitatis keine Kantate überliefert. Aus diesem Grund haben wir uns nach dem Motto "jeder Sonntag ist ein kleines Osterfest" ausnahmsweise für die sehr repräsentative und festliche Osterkantate "Erzittert und fallet" entschieden. Mit diesem Konzert wird gleichzeitig auch das sich über einige Monate erstreckende Basler Festival Wilhelm Friedemann Bach 300 eröffnet (siehe separaten Flyer).

Trotz der wenigen Dokumente aus dem Familienleben Bachs zeigen die erhaltenen Musikalien wie z.B. das für den 9-jährigen angelegte Clavier-Büchlein, dass Vater Bach seinem Erstgeborenen eine grundlegende und äusserst anspruchsvolle Musikausbildung angedeihen liess. Zudem scheint Friedemann schon früh in die musikalische Arbeit seines Vaters einbezogen worden zu sein. Die ganze Familie und fähige Schüler mussten Woche für Woche beim Anfertigen der Kantatenstimmen mithelfen. Friedemanns Tätigkeit in diesem Rahmen ist ab 1724 belegt. Nach dem Unterricht an der Thomasschule studierte er zunächst Jura, Philosophie und Mathematik an der Universität Leipzig. Seine musikalischen Studien führte er mit Geige bei Johann Gottlieb Graun in Merseburg fort. Als Organist wirkte er ab 1733 an der Sophienkirche in Dresden, bevor er 1746 an die Liebfrauenkirche zu Halle wechselte, wo er mehr als doppelt so viel verdiente. Zu seinen Aufgaben gehörte ab jetzt auch die regelmässige Komposition von Figuralmusik. Aus dieser Zeit sind 21 Kantaten erhalten; vermutlich hat er jedoch weit mehr komponiert. Zudem soll er mehrfach Kompositionen seines Vaters ausgeliehen und in Halle aufgeführt haben. Dass dies durchaus nichts Anrüchiges und unter den Kantoren im mitteldeutschen Raum weit verbreitet war, zeigt eine aktuelle Studie von Michael Maul. Ab und an scheint Friedemann allerdings auch wegen Parodien auf Werke seines Vaters des Plagiats bezichtigt worden zu sein, wie Friedrich Marpurg in einer Anekdote berichtet. Wiederholte Streitigkeiten an seinem Arbeitsplatz in Halle veranlassten Wilhelm Friedemann 1764 zur Kündigung. Die restlichen Lebensjahre verbrachte er unstet mit erfolglosen Bewerbungen um verschiedene Organistenstellen. Diese Erfolglosigkeit wurde in den Bewerbungsprotokollen bisweilen seinem schwierigen Charakter zugeschrieben. Andererseits erwarb er sich in zahlreichen Orgelkonzerten vor allem gegen Ende seines Lebens den Ruhm, der "grösste lebende Orgelvirtuose und Improvisator" gewesen zu sein. Carl Friedrich Cramer beklagt bei seinem Tod 1784, Deutschland habe "in ihm seinen ersten Orgelspieler und die musikalische Welt überhaupt einen Mann verloren, dessen Verlust unersetzlich ist".

Erzittert und fallet
Die Entstehung der Osterkantate "Erzittert und fallet" ist gemäss Peter Wollny auf die Zeit der späten 1750er Jahre eingrenzbar. Der unbekannte Textdichter thematisiert in mystisch- empfindsamer Weise das Ostergeschehen und seine Wirkung auf den Einzelnen: (1) die Furcht der erschreckten Grabwächter bei der Auferstehung, (2) Jesu sanften Liebesblick, (3) die Stärke und Lust der Liebe (gewissermassen als theologische Erklärung), (4) die (mystische) Vereinigung mit dem Auferstandenen, (5+6) die Heilsgewissheit trotz der permanenten Bedrohung. Dabei dominiert die individuelle Perspektive: Jesu Auferstehung ist kein objektiv-abstraktes Ereignis, sondern meint mich und will von mir in seiner lebensverändernden Kraft ergriffen werden.

Die Kantate ist in der autographen Partitur und autographen Stimmen erhalten. Aus dem Stimmenbefund lässt sich erkennen, dass die Chöre mehrfach besetzt waren. Wilhelm Friedemann bedient sich einer (scheinbar) grossen Orchesterbesetzung von 2 Trompeten, Pauken, Traversi, Oboen, Streicher, Fagott und Basso continuo. Offenbar hatte er in dieser Kantate aber nur zwei Bläser zur Verfügung, die jedoch in der Lage waren, nacheinander Trompete, Traversflöte und Oboe zu spielen. In unserer Aufführung werden die Bläserstimmen in den Chorsätzen teilweise verdoppelt.

Durch den Verzicht auf ein Orchestervorspiel im Eingangschor und den unbegleiteten Choreinsatz gelingt es Bach, plastisch und unmittelbar packend die österlichen Urkräfte zu entfesseln. Erzittern, fallen, brausen: Die musikalischen Figuren gleichen hier Erdstössen und Blitzen; alles wirbelt durch die Luft.   Bläserfanfaren kündigen den Lebensfürsten an, der sich im B-Teil von einer Wolke umgeben zeigt. Dabei dienen die ausgreifenden Arpeggio-Figuren der Streicher sowohl der Darstellung der rauschenden Wolken, als auch der Erinnerung an die Schläge und die Verspottung Christi. Trotz der starken Dramatik baut Friedemann keine überraschenden Fermaten oder Trugschlüsse ein;   d.h. er reisst die Musik nicht auseinander, sondern bewahrt mittels der Da-Capo-Form eine Eindringlichkeit der Aussage, die den Hörer nach 140 Takten an einen Punkt führt, wo er aufgewühlt und fragend am leeren Ostergrab steht.

In dieser grösstmöglichen Offenheit lässt Bach zwei Traversi eine heiter-schmeichelnde Arie für Tenor und Basso continuo beginnen. Jesus, der Siegesfürst zeigt sich nun als nahbare Person mit menschlichen Attributen: sanfte, reizende Blicke, deren Lieblichkeit Friedemann durch neckische Triolen in Terzenparallelen vertont. In einem Doppelrezitativ verkündet zunächst der Tenor wie ein Evangelist – begleitet von kämpferischen Bassfiguren – die Osterbotschaft, bevor der Sopran als menschliche Seele das daraus entstehende innerliche Vergnügen hervorhebt. Das folgende Liebesduett für Oboe (d'amore), Sopran (Seele) und hohen Bass (Christus) bildet den Mittel- und Ruhepunkt dieser Kantate. Wilhelm Friedemann wird wohl etliche Stücke seines Vaters in diesem Genre der Brautmystik in Erinnerung gehabt haben. Aber er geht noch einen Schritt weiter im melodischen Gestus und führt die sehnsuchtsvollen, aufwärts gebundenen Motive ("Komm, mein Hirte - Ja, ich komme") nicht nur bis zur Sexte wie sein Vater, sondern sogar bis zur Duodezime (d.h. über ein Intervall von 12 Tönen). In anschaulicher Symbolik lässt er den Bass in seiner Schlussfigur zu den Worten "mein Erbarmen eilt zu dir" eine Tonleiter abwärts singen, während der Sopran gleichzeitig in Gegenbewegung aufsteigt: "Meine Sehnsucht eilt zu dir". So gestärkt stellt sich die Seele in einem weiteren, stark modulierenden Doppelrezitativ mutig dem Tod entgegen. In diesen Ton stimmt auch der Alt als Letzter mit ein. Kleine musikalische Figuren bilden das Lachen und die am Stein zerschellenden Wellen ab. Daran schliesst sich die von zwei Violinen begleitete Sopranarie an, eine virtuose Bravourarie, die bis ins h2 hinaufführt und den schäumenden Wellen und Schreckensflammen die durch Christus gewonnene innere Ruhe entgegenstellt. Unweigerlich mag man hier an die entsprechende Stelle in der Bachmotette "Jesu, meine Freude" denken: "Tobe, Welt, und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh".

Den Abschluss bildet der kraftvolle, aber schlicht gesetzte Osterchoral "Heut triumphieret Gottes Sohn". Der von der Osterbotschaft ergriffene Mensch gliedert sich ein in die Gemeinschaft der lobenden und dankenden Jünger.

Jörg-Andreas Bötticher