Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Die beiden im heutigen Konzert erklingenden Kantaten stammen aus der frühesten Leipziger Zeit Johann Sebastian Bachs. "Siehe zu, dass deine Gottesfurcht" BWV 179 entstand für den 11. Sonntag nach Trinitatis, der 1723 - im Entstehungsjahr dieser Kantate - auf den 8. August fiel. "Nimm von uns, Herr" BWV 101 ist für den 10. Sonntag nach Trinitatis, der heuer auf den heutigen 8. August fällt. Dazwischen erklingt mit "Vater unser im Himmelreich" BWV 682 aus dem "Dritten Theil der Clavier Übung" ein Vorspiel zu derjenigen Choralmelodie, die der Kantate BWV 101 musikalisch zugrunde liegt.

Die Kantate "Siehe zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei" BWV 179 gehört zum ersten Jahrgang von Kirchenkantaten, den der neu berufene Thomaskantor für Leipzig komponiert hat. Der unbekannte Dichter eröffnet den Text mit dem mottoartigen Bibelzitat (Sir 1, 34) des Eingangschors. Dem folgen in engem Bezug zum Evangelium des Tages - dem Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18, 9-14) - zwei Rezitative mit Arien: zuerst das negative Beispiel des "aufgeblasnen", überheblichen Pharisäers (Rez. 2 & Aria 3), darauf das positive Beispiel des demütigen, schuldbewussten Zöllners (Rez. 4 & Aria 5). Den fazitartigen Schluss bildet analog zum Beginn wiederum als Zitat die erste Strophe des Kirchenliedes "Ich armer Mensch, ich armer Sünder" von Chr. Tietze auf die Melodie "Wer nur den lieben Gott lässt walten".
Für den Eröffnungschor bietet Bach alle Mittel seiner kontrapunktischen Kunst auf. Er beginnt den Satz mit einer Gegenfuge, bei der jeder Fugeneinsatz mit seiner Umkehrung beantwortet wird - gleichsam wie die falsche, selbstgerechte Gottesfurcht des Pharisäers in Tat und Wahrheit genau deren Gegenteil, nämlich Heuchelei ist, oder wie am Ende der Evangelienlesung sentenzenartig zusammengefasst wird: "Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden. Und wer sich selbst erniedriget, der wird erhöhet werden." (Lk 18, 14) Ein scheinbar lockereres Zwischenspiel auf die zweite Texthälfte "und diene Gott nicht mit falschem Herzen" ist in Tat und Wahrheit ein strenger Quintkanon - wiederum also ein Spiel mit Schein und Sein. Im weiteren Verlauf des Satzes wird das bisher exponierte Material nach allen Regeln der kontrapunktischen Kunst durchgeführt.
Das Rezitativ über die "laulichten Laodicäer" (Anspielung auf den Brief an die reiche, aber zu selbstbewusste Gemeinde Laodizea aus der Offenbarung Apc 3, 14-22) und "aufgeblasnen Pharisäer" mündet in eine Arie, in der die beiden Oboen und die erste Geige unisono mit dem Solotenor dialogisieren. Der Grundaffekt dieser Arie wird neben der aparten Instrumentalfarbe vor allem durch die zahlreichen Synkopen bestimmt, etwa gleich zu Beginn, wo in eine Synkope des Basses auf der Viertelebene eine Synkope der Oberstimmen auf Achtelebene verschachtelt ist. Die fahle Klangfarbe und die unstabile rhythmische Grundlage denunzieren so den falschen Glanz der Sodomsäpfel, einer Frucht, die von aussen wie ein Granatapfel aussieht, innen aber nur mit einem pulverartigen Staub gefüllt ist.
Das positive Gegenbild folgt im zweiten Teil der Kantate, wiederum mit einem Rezitativ - diesmal mit ariosen Passagen durchsetzt - und einer ergreifenden Sopranarie mit Begleitung von zwei Oboe da caccia, die nun sozusagen die echte, aufrichtige, demütige Art des Betens darstellt.
Im Schlusschoral macht sich der Textdichter bzw. in diesem Fall der Textkompilator die doppelte Botschaft des überlieferten Kirchenliedes zunutze: Schuldbekenntnis im Text ("Ich armer Mensch, ich armer Sünder") und Gotteszuversicht in der Melodie ("Wer nur den lieben Gott lässt walten"). Dazu hat Bach einen wundervoll dichten Choralsatz komponiert und setzt so dieser Kantate - von der er die Sätze 1, 3 und 5 in seinen lutherischen Messen wiederverwendet hat - ein letztes Glanzlicht auf.

Die Kantate "Nimm von uns, Herr, du treuer Gott" BWV 101 gehört zum Choralkantaten-Jahrgang aus Bachs zweitem Leipziger Amtsjahr. Im Rahmen dieses ehrgeizigen Grossprojekts hat Bach zusammen mit einem unbekannten Textdichter für jeden Sonntag im Kirchenjahr eine Kantate geplant, die weniger auf der Evangelienlesung des Tages, als vielmehr auf einem Kirchenlied basiert. Für den Text werden dabei im Eröffnungs- und Schlussatz die erste und letzte Strophe des Liedes im vollen Wortlaut übernommen, während die dazwischenliegenden Sätze mehr oder weniger freie Bearbeitungen der Binnenstrophen darstellen.
Das Lied "Nimm von uns, Herr", das der Kantate BWV 101 zugrunde liegt, wurde in Leipzig traditionellerweise am 10. Sonntag nach Trinitatis gesungen, an dem die christliche Kirche bereits seit dem Mittelalter in Übernahme eines älteren jüdischen Festes der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und damit der Heimsuchung der Menschheit durch einen strafenden Gott gedachte. Das Lied selber wurde von Martin Moller, einem der Begründer der evangelischen Erbauungsliteratur, 1584 während einer Pestepidemie auf die Melodie von "Vater unser im Himmelreich" gedichtet. Die Pest wurde damals vielfach ebenfalls als göttliche Heimsuchung und Strafe des Himmels für sündhaftes Verhalten der Menschheit verstanden. Mollers Text geht seinerseits auf eine lateinische Vorlage zurück, die er in einer sehr freien Bearbeitung pietistisch umdeutet. Den sieben Strophen von Mollers Lied entsprechen die sieben Teile des Kantatentexts. Dabei hat der sehr subtil arbeitende Dichter in symmetrischer Anlage verschiedene Bearbeitungstechniken eingesetzt, von der unveränderten Übernahme der vollständigen Anfangs- und Schlussstrophe über die tropierende Erweiterung ganzer Liedstrophen bis zu freien Paraphrasen, wobei Bach in der Vertonung gleiche Textverfahren jeweils mit der gleichen musikalischen Form (Chor, Rezitativ-Arioso, Arie) verbindet:

1 unveränderte Übernahme  >  Eingangschor
2 Paraphrase  >  Arie
3 Tropierung  >  Rezitativ - Arioso
4 Paraphrase  >  Arie
5 Tropierung  >  Rezitativ - Arioso
6 Paraphrase  >  Arie (Duett)
7 unveränderte Übernahme  >  Choral


Im Eingangschor wird der Text von Mollers Lied auf die Choralmelodie vom Sopran in langen Notenwerten versweise vorgetragen, jeweils mit Vorimitationen der unteren Stimmen in kürzeren   Notenwerten. Die Oberstimmen des Orchesters sind in zwei Chöre aufgeteilt: zwei Oboen und Oboe da caccia einerseits, zwei Violinen und Viola andrerseits. Dialogisierend oder antiphonal übernimmt das Orchester Einleitung, Nachspiel und Zwischenspiele zwischen den einzelnen Versen, wobei sich zur Vorbereitung der Chor-Einsätze die Struktur stets vereinfacht, häufig verbunden mit einem auftaktigen Seufzermotiv, das neben einer weitgespannten, gesanglichen Linie und einem pochenden Viertelmotiv das musikalische Hauptmaterial des Orchestersatzes bildet.
Häufig ist zu lesen, der zweite Satz brächte keine Zitate aus dem Liedtext. Eine Gegenüberstellung von Mollers 2. Strophe mit der Paraphrase des Kantatentexts ist dabei sehr erhellend für den Umgang des Dichters mit der Vorlage und zeigt deutlich, wie geschickt er durch Umstellungen, Auslassungen, Ergänzungen und Umdichtungen die Vorlag anders akzentuiert, ja eigentlich umgedeutet und dem neuen Kontext angepasst hat.

 
   
Moller   BWV 101
2. Aria
     
Erbarm dich deiner bösen Knecht,   Handle nicht nach deinen Rechten
Wir bitten Gnad und nicht das Recht;   Mit uns bösen Sündenknechten,
    Lass das Schwert der Feinde ruhn!
Denn so du, Herr, den rechten Lohn    
    Höchster, höre unser Flehen,
Uns geben wollst nach unserm Thun,   Dass wir nicht durch sündlich Tun
So müsst die ganze Welt vergehn   Wie Jerusalem vergehen!
Und kann kein Mensch für dir bestehn.    
   

Durch die Umformulierung des eröffnenden Imperativs "Erbarm dich" in den verneinten Imperativ "Handle nicht", durch das Auslassen der Gnadenbitte in Vers 2 und durch die Umstellung der ersten beiden Verse wird im Kantatentext nicht mehr das Bild eines gütigen, erbarmungsvollen, emotional erlebbaren Gottes wie im Lied, sondern dasjenige eines fernen, hieratischen, strengen Richters vermittelt, was interessanterweise wieder viel näher an Mollers lateinischer Vorlage liegt. Auch die Änderung von "Herr" (Moller, Vers 3) zu "Höchster" (BWV 101, Vers 4) unterstreicht dieses andere Gottesbild. Selbst so kleine Umformulierungen wie "deine Rechte" (gegenüber dem abstrakten "das Recht") werfen im Rückblick ein neues Licht auf die im ersten Vers der ersten Strophe angesprochene Treue Gottes: nicht mehr die erbarmungsvolle Treue zu den Menschen steht im Vordergrund, sondern die Treue zu seiner Funktion als Ordnung schaffender und strafender, sozusagen sich selber treue Gott. Der im Kantatentext neu eingefügte dritte Vers mit den - im ganzen Lied Mollers nie erwähnten - "Feinden" ist einerseits eine Anknüpfung an die Aufzählung der Geisseln Gottes am Ende der ersten Strophe, andrerseits schafft er auch einen Bezug zur Evangelienlesung des Tages: "Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden [...] dich belagern und an allen Örten ängsten." (Lk 19, 43) Ebenso ist die Konkretisierung von der "ganzen Welt" zu "Jerusalem", das aufgrund seines "sündlichen Tuns" untergehen musste, ein Hinweis auf die Evangelienlesung und allgemein die Thematik dieses Sonntags.
Diese paar Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, wie klug und beziehungsreich der Kantatentext gemacht ist. Bach hat viele der Vorgaben aus dem Text in seiner Komposition aufgegriffen: angefangen vom strengen, leicht archaisierenden Ton (vgl. Eingangschor) und der starken Präsenz der Liedmelodie, über musikalische Wortausdeutungen - etwa die lange gehaltenen Töne des Solisten in der Aria Nr. 2 auf "ruhn", der Fall Jerusalems, das Flehen etc. - bis hin zu Formalem. So entsprechen etwa der Gliederung des Textes der Aria Nr. 2 in zwei mal drei Verse (gegenüber einer Gliederung in drei mal zwei Verse in Mollers Lied) zwei annährend gleich lange Teile (27 bzw. 28 Takte) mit einem instrumentalen Vorspiel, das am Schluss notengetreu wiederholt wird und einem kurzen instrumentalen Zwischenspiel. Wie die Kantate als Ganzes, ist also auch diese Arie streng symmetrisch angelegt. Die verspielte, virtuose Soloflöte schafft dabei ein spannendes Gegengewicht zur formalen und inhaltlichen Strenge.
Für den dritten Satz hat der Dichter das Verfahren des Tropierens, also des Einschiebens neuer, kommentierender Zeilen zwischen die einzelnen Verse, gewählt. Bach greift das auf, indem er die Zitate aus dem Lied als Arioso auf eine diminuierte Fassung der Liedmelodie komponiert, während er die Einschübe als Secco-Rezitativ vertont. Wenn hier im Text auch vermehrt der Akzent auf einem barmherzigen, helfenden Gott liegt, so vergegenwärtigt Bach in musikalisch subtiler Weise doch auch das andere Gottesbild, indem er in einem Satz praktisch ohne Wortwiederholungen einzig "straf uns nicht" in einem eindringlichen, dramatischen Aufschwung zum höchsten Ton der Choralmelodie sowie "[dein Zorn und Grimm] fern von uns [sei]" rhetorisch wiederholt.
Die zentrale Bass-Arie beginnt mit einem "Vivace" bezeichneten, konzertanten Vorspiel der beiden Oboen und der Oboe da caccia, dessen Verve beim Einsatz des Sängers mit der ersten Choralzeile - der in diesem Satz einzigen vollständig zitierten Liedzeile - abrupt gebremst wird, nur um nach zwei Takten wieder den Anfangsschwung aufzunehmen, diesmal unter Beteiligung des Sängers als vierter, konzertierender Partner. In raschem Wechsel zwischen konzertanten, ariosen und rezitativischen Passagen setzt sich diese eindrückliche Arie fort, wobei nicht nur der Sänger stellenweise quasi instrumental am konzertierenden Geschehen beteiligt ist, sondern umgekehrt die Oboen auch quasi vokal die Choralmelodie anklingen lassen.
Der tropierte fünfte Satz ist analog zum dritten komponiert, diesmal jedoch ohne jegliche Wortwiederholungen.
Im Vorspiel des Duetts Nr. 6 wird die Choralmelodie zuerst in der Oboe da caccia, dann in der Traversflöte gebracht, jeweils umspielt vom anderen Instrument, bevor sich die beiden Instrumente losgelöst von der Choralmelodie ineinander verschlingen. Das Vorspiel liefert damit das Muster und die musikalische Motivik für den Rest dieses Satzes im Siciliana-Rhythmus, in dem auch die Singstimmen die Choralmelodie bringen (bevorzugt bei textlicher Nähe zum Lied), sie umspielen oder frei eingesetzt sind.
Ihren Abschluss findet diese beeindruckende Kantate in einem schlichten Choral.
Bach selber hat offenbar dieser Komposition besondere Wertschätzung entgegengebracht. So ist mindestens eine spätere Aufführung der Kantate dokumentiert, bei der die Soloflöte der Tenorarie durch eine Violine ersetzt worden ist. Ausserdem hat Bach auch aus dieser Kantate zwei Sätze für seine lutherischen Messen wiederverwendet.

Philipp Zimmermann