Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Der 24. Juni ist der Tag Johannes des Täufers , der von sich selbst gesagt hat, er sei nicht der Messias, sondern die Stimme eines Rufers in der Wüste und der Wegbereiter des Herrn, der grösser sei als er. Seine Aussage: "Dieser muss wachsen, ich aber muss abnehmen" trug dazu bei, seinen Festtag ein halbes Jahr vor Weihnachten zu feiern. Dabei ist anzunehmen, dass dadurch vorchristliche Sommer- und Wintersonnwendfeste ersetzt wurden. Die altkirchliche Epistellesung des Johannistages stammt aus Jesaja 40, 1-5 und die Evangelienlesung aus Lukas 1, 57-80 mit der Erzählung der Geburt des Johannes und dem Lobgesang seines Vaters Zacharias.

Martin Luther hatte den Johannistag als kirchlich zu begründendes Fest beibehalten, und so wurde er auch zu Bachs Zeit noch immer begangen. Drei von Bach vertonte Johanniskantaten sind erhalten. Dabei bildet die Kantate BWV 7 Christ unser Herr zum Jordan kam , die im heutigen Konzert erklingt, insofern eine Ausnahme, als in ihr nicht Johannes der Täufer im Vordergrund steht, sondern - im Zusammenhang mit der durch ihn vollzogenen Taufe Jesu -   Luthers Lehre von der Taufe. Die Kantate BWV 7 ist eine Choralkantate aus Bachs zweitem Leipziger Amtsjahr über Luthers "geistliches Lied von unsrer heiligen Taufe, darin fein kurz gefasset: Was sie sei? Wer sie gestiftet habe? Was sie nütze? usw.". Und die Antworten auf diese Katechismusfragen lauten: 1. Bei der Taufe kommt zum Wasser - wie bei der Taufe Jesu im Jordan - Gottes Wort und Gottes Geist. Sie ist ein Werk der göttlichen Dreifaltigkeit. 2. Mit der Taufe Jesu beginnt sein Heilswerk zur Rettung der Menschen, das er am Kreuz vollenden wird. So ist das Taufwasser immer auch eine "rote Flut, von Christi Blut gefärbet, das allen Schaden heilet gut von Adam her geerbet, auch von uns selbst begangen". Und was ist 3. die vom Menschen erwartete Haltung? Weder Menschenwerk noch -heiligkeit, sondern Glauben, so wie Jesus am Schluss des Markusevangeliums (16,16) verheissen hat: "Wer da gläubet und getaufet wird, der wird selig werden."

Bachs Kantate beginnt mit einem gross angelegten Choralchorsatz über die unveränderte erste Strophe des Liedes. Die Choralmelodie liegt im Tenor. Es ist eine dorische Weise, die schon in der Reformationszeit mit Luthers Tauflied verbunden wurde. Dabei ist besonders eindrücklich, wie die letzte Zeile "Es galt ein neues Leben" fanfarenartig auf der oberen Oktave gesungen und der Oktavraum beim Wort "neu" sogar noch gesprengt wird. Der Orchestersatz ist ohne Beziehung zur Choralmelodie. Er setzt sich aus zwei gegensätzlichen Motiven zusammen, einem vielleicht vom Jordanwasser inspirierten Wellenmotiv und einem rhythmisch stark punktierten Thema. Auch in der Bassarie Nr. 2 "Merkt und hört, ihr Menschenkinder" könnten die herabstürzende Zweiunddreissigstel der Instrumentalbässe das Giessen des Taufwassers symbolisieren. Zu merken und zu hören gilt es aber, dass es nach Gottes eigener Aussage beim sakramentalen Reinigungsbad der Taufe gerade nicht nur um Wasser, sondern auch um Gottes Wort und Gottes Geist geht. Daran knüpft das Secco-Rezitativ Nr. 3 für Tenor an. In ihm wird das kurze Bibelwort: "Dies ist mein lieber Sohn, an diesem hab ich Wohlgefallen" zu einer längeren Rede Gottes über das Heilswerk seines Sohnes ausgestaltet, die ansatzweise bereits in Luthers Lied zu finden ist. Bach legt nun aber diese Worte nicht dem Bass als der Stimme Gottes in den Mund, sondern dem Tenor, den man hier vielleicht als Stimme eines Erzählers oder auch eines christlichen Verkündigers bezeichnen könnte. Dem Tenor ist auch die folgende gigue-artige Arie Nr. 4 zugeteilt, bei der zwei Solo-Violinen mitspielen. In ihr wird die Taufe als Werk der göttlichen Dreifaltigkeit beschrieben, woran es ohne Zweifel zu glauben gilt. Auffallend ist, wie oft in der zweiten Arienhälfte das Wort "Zweifel" wiederholt und durch Melismen geradezu hervorgehoben wird. Man fühlt sich an den von Martin Luther immer wieder thematisierten und von ihm selbst lebenslänglich ausgefochtenen Kampf zwischen Zweifel und Glauben erinnert.

In der Fortsetzung der Kantate steht dann aber die Bedeutung des Glaubens im Vordergrund. Dem Bassrezitativ Nr. 5 liegt Jesu Missions- und Taufbefehl aus Markus 16 zu Grunde. Es beginnt mit kurzen, die Singstimme stützenden Streicherakkorden und endet in einem jener höchst eindrücklichen Ariosi, mit denen Bach Bibelzitate zu vertonen liebte: "Wer glaubet und getaufet wird auf Erden, der soll gerecht und selig werden." Und ebenso eindrücklich setzt unmittelbar darauf die Altstimme ein. Der liedhafte Beginn der Arie Nr. 6 mit der Aufforderung: "Menschen, glaubt doch dieser Gnade" wird nur vom Continuo begleitet, worauf dann erst das Orchester zu spielen beginnt. Diese aus der Oper stammende musikalische Form ist auch schon als etwas der Kirchenmusik Fremdes bezeichnet worden, das Bach darum selten verwendet habe. Vielleicht kommt es aber nicht von ungefähr, dass er es nun gerade an dieser Stelle tut, um unter Vermeidung alles trocken Lehrhaften auf liebliche Weise zum Glauben zu locken. Den Abschluss der Kantate bildet die vierstimmig gesetzte letzte Strophe von Luthers Lied, in der noch einmal die sakramentale Bedeutung der Taufe zusammenfassend dargestellt wird.

Die zweite Kantate des heutigen Abends wurde am 7. Sonntag nach Trinitatis in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr aufgeführt. Das war damals der 11. Juli 1723, heuer wird es der nächste Sonntag sein. Das auf diesen Tag gehörende Evangelium ist die Geschichte von der wunderbaren Speisung jener viertausend Menschen, die drei Tage lang ohne Nahrung bei Jesus in der Wüste ausgeharrt hatten (Markus 8, 1-9). Nun ist freilich die Kantate BWV 186 Ärgre dich, o Seele, nicht in ihrem inhaltlichen Aufbau nicht ganz leicht zu verstehen. Das hängt damit zusammen, dass sie aus zwei verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt ist. So stammen der Chor Nr. 1 und die Arien Nr. 3, 5, 8 und 10 aus einer älteren Weimarer Kantate zum 3. Advent des Jahres 1716, für die Bach in Leipzig in der musiklosen Adventszeit keine Verwendung mehr hatte. In ihr geht es um die Anfrage: "Bist du, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?", die der Täufer Johannes aus dem Gefängnis an Jesus gerichtet hatte, und um die Antwort, die er darauf erhielt: "Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, der sich nicht an mir ärgert" (Matth. 11, 2-10). Bei der Wiederverwendung der Weimarer Kantate galt es nun, mit neuen Zwischentexten in Form von Rezitativen einerseits den Bezug zum neuen Evangelium herzustellen und andererseits immer auch den Anschluss an die bestehenden Arien zu finden, deren ursprünglicher Text von Salomo Franck allerdings zum Teil etwas umgedichtet wurde.

Es mag mit dieser Ausgangssituation zusammenhängen, dass die Kantate 186 weniger logisch aufgebaut zu sein scheint, als dass bestimmte Gedanken in ihr immer wieder auftauchen. So ist   öfters vom Mangel die Rede, einerseits als Grund für Verzagtheit wie damals beim Durchzug der Israeliten durch die Wüste, andererseits aber auch als Möglichkeit der Freiwerdung von der Welt - einer Welt übrigens, die nach Bildern des Alten Testaments als feindliche Wüste gesehen wird mit verschlossenem Himmel aus Erz und vertrockneter Erde aus Eisen. Überfluss und Reichtum, das Gegenteil von Mangel, werden als Angel des Satans bezeichnet, und wenn es nun auch auf Erden nicht ohne die Sättigung des vergänglichen menschlichen Leibes geht, so ist doch diejenige der Seele wichtiger. Sie wird durch das geistliche Manna, d.h. durch das Wort der Bibel, bewirkt. Auch darauf kommt der Kantatendichter immer wieder zurück. Einen "wortreichen Redner" nannte ihn der Bachforscher Philipp Spitta, und   äusserst bibelkundig war er obendrein. Nahezu zu allem, was er sagte, lassen sich biblische Anklänge finden, und durch das wörtliche Zitieren von Bibelstellen am Schluss aller Rezitative erhielt Bach auch in dieser Kantate die Möglichkeit zur Komposition höchst ausdrucksvoller Schluss-Ariosi. Bei den vier jeweils darauf folgenden Arien lässt sich - übrigens   ähnlich wie schon in der Kantate BWV 7 - eine allmähliche Steigerung der mitwirkenden Instrumente erkennen. Sie geht von der Continuoarie Nr. 3 über die Triosätze der Arien Nr. 5 und 8 bis hin zum Orchestersatz im tanzartigen Duett Nr. 10 "Lass, Seele, kein Leiden von Jesu dich scheiden, sei, Seele, getreu", das Spitta die "Perle" unter den vier Solostücken der Kantate genannt hat. Spitta meint, der in

c-moll stehende Zwiegesang zwischen Sopran und Alt trage den Rhythmus einer Gigue in sich und auch jene melancholische Grazie, die so manchen Bachschen Tanzstücken eigen sei.

Noch bleibt ein Wort zu den Rahmenstücken zu sagen. Die Kantate ist zweiteilig, und beide Teile werden mit einem im Jahr 1723 neu geschaffenen Choralchorsatz abgeschlossen. Dieser ist so gross angelegt, dass Alfred Dürr ihn als ein - für den Typus des Schlusschorals - recht differenziertes Gebilde bezeichnet hat. Gesungen werden die beiden Schlussstrophen des Liedes von Paul Speratus "Es ist das Heil uns kommen her", in denen von der Hoffnung auf Gottes Hilfe, auch wenn sie verborgen ist, und vom vollen Vertrauen auf seine Zusage die Rede ist. Und schliesslich sei das Augenmerk auch noch auf den Eingangschor gerichtet, dessen Aufforderung: "Ärgre dich, o Seele, nicht" mit dem erwähnten Jesuswort aus dem Evangelium vom dritten Advent zusammenhängt: "Selig, der sich nicht an mir ärgert." Das griechische Wort für Ärger heisst skandalon , und die Aufforderung, sich an Jesus nicht zu ärgern, meint im Neuen Testament und ganz besonders bei Paulus: sich nicht an der niedrigen Geburt des Gottessohnes zu ärgern, nicht an seiner Knechtsgestalt, nicht am Skandal seines Kreuzestodes. Nicht grundlos nimmt darum die erste Textzeile in Bachs Vertonung einen breiten Raum ein. Sie erscheint am Anfang, in der Mitte und am Schluss des rondoartigen Satzes, und sie wird dabei immer vom gesamten Instrumentarium begleitet, während die dazwischen liegenden Teile nur vom Generalbass gestützt werden. Bei der Übernahme des Chores in die neue Kantate BWV 186 wurde im Rezitativ Nr. 2 zwar recht geschickt an den bestehenden Text mit dem Hinweis angeknüpft, dass nicht nur die Christen Mangel und Not treffe, sondern auch deren Haupt. Dabei verlor aber die ursprüngliche Aussage von der zwar Ärgernis erregenden, heilsgeschichtlich aber wichtigen Herabkunft des Gottessohnes in die irdische Niedrigkeit und von seinem Gehorsam bis zum Tod am Kreuz ihre Brisanz und die insistierende Wiederholung des "Ärgre dich, o Seele, nicht" in Bachs Vertonung ihre tiefere Bedeutung. Bleibt die Freude, dass der Chorsatz, der nach Philipp Spitta in kunstvollen Details und in der Gestaltung des Ganzen die sichere Meisterhand erkennen lässt, dank seiner Wiederverwendung erhalten geblieben ist.  

Helene Werthemann