Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

"Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild" -
Bachs Ratswechselkantaten BWV 119 und 120

Für Johann Sebastian Bach, der ein gläubiger Lutheraner und Untertan zahlreicher Herrschaften war, gehörte die Vorstellung einer gerechten und gottgefälligen Obrigkeit zu den unhinterfragbaren Grundlagen seines Lebens und Denkens. Daß der im Umgang mit Amtleuten, Konsistorien, Fürsten und Königen erfahrene Musiker in der Lage war, seine Interessen auch höheren Orts beharrlich zu vertreten, hat er im Laufe seines Berufslebens häufig unter Beweis gestellt. Trotz mancher aktenkundig gewordener Auseinandersetzungen war Bach jedoch kein aufsässiger Querulant. Was immer er von einer wahrhaft "musikergebenen Obrigkeit" erwartet haben mag - das von ihm eingeforderte Recht bemaß sich stets am Herkommen und den Schranken seines Standes. Bachs mit französischen und lateinischen Versatzstücken gespickte Bittschreiben und Eingaben sind von einer ausgeprägten Beflissenheit, die nur übertrieben finden kann, wer die Autoritätsverhältnisse des barocken Obrigkeitsstaates aus dem Blickwinkel eines romantisch-freien, dafür jedoch oft brotlosen Künstlers betrachtet.

Eine Besonderheit der Verfassungsordnung des Alten Reiches war die starke Stellung unabhängiger Städte, die im Reichtag neben geistlichen und weltlichen Fürsten eine eigene Kurie bildeten. Vor allem die politisch auf den Kaiserhof ausgerichteten Freien Reichsstädte kultivierten eine eigene Repräsentationskultur, die ihre im 18. Jahrhundert eingetretene faktische Mindermacht durch die Betonung ihrer unabhängigen Regierungstradition kompensierte und dafür auch musikalisch alle Attribute einer souveränen und von Gott verliehenen Herrschaft in Anspruch nahm. Gegenüber dem schmeichlerischen Ton fürstlicher Huldigungsmusiken wird in den Libretti solcher kommunaler Staatsmusiken häufiger von den friedensstiftenden Wirkungen der Obrigkeit und damit vom "Gemeinen Besten" her argumentiert. Die Berufung auf den göttlichen Ursprung jedweder Herrschaft konnte die Verwurzelung des Stadtregimentes in der Schwurgemeinschaft gleichberechtigter Bürger nicht vergessen machen - weniger die Person als das Amt standen im Mittelpunkt städtischer Regierungsapologetik.

Bereits Bachs erste datierbare Vokalkomposition war mit dem Mühlhäuser Rat einer städtischen Obrigkeit gewidmet. Mit dem 1708 gedruckten mehrchörigen Konzert "Gott ist mein König" BWV 71 erarbeitete sich Bach eine für den Umgang mit derlei kommunalen Autoritäten geeignete Tonsprache, die trotz späterer stilistischer Modernisierung seine sämtlichen Ratskantaten durchzieht.

Als Bach 1723 in den Dienst des Leipziger Rates trat, konnte er an seine Mühlhäuser Erfahrungen anknüpfen. Zwar unterstand Leipzig als landständische Stadt dem sächsischen Kurfürsten, der bei der Auswahl der lokalen Amtsträger das letzte Wort hatte und in Gestalt von Stadtkommandant und Festung Pleißenburg über ein militärisches Faustpfand am Ort verfügte. Doch war es angesichts der Bedeutung der im deutschen Sprachraum führenden Messe- und Buchstadt nur konsequent, dass sich auch die Leipziger Oberen eine standesgemäße musikalische Repräsentation leisteten. Dazu gehörte das tägliche Abblasen der Stadtpfeifer vom Rathausturm, für das Sammlungen wie Johann Pezels "Hora decima" und Gottfried Reiches "24 Quadricinia" entstanden sind. Vor allem wurde jedoch die Tradition des sogenannten "Ratswechsels" mit größtmöglicher Festlichkeit begangen. Mit diesem Akt der politischen Folklore gab sich die verfestigte Oligarchie aus Kaufmanns- und Beamtengeschlechtern den Anschein der alten kommunalen Freiheitstradition. Tatsächlich wurde jedoch der Rat keineswegs neu "gewählt" - vielmehr war das aus 30 auf Lebenszeit bestimmten Ratsherren sowie drei Bürgermeistern bestehende Gremium intern so ausdifferenziert, dass jeweils zwei "ruhende" Räte im beratenden Wartestand verblieben, während ein im Jahresturnus wechselnder "sitzender" Rat pro forma die Regierungsverantwortung trug. Diese institutionalisierte Rotation wurde alljährlich am Bartholomäustag Ende August mit einem Festgottesdienst in der Nikolaikirche begangen, eine Tradition, die noch bis zur sächsischen Staatsreform 1830/31 nachweisbar ist. Als Stadtkantor oblag Bach die Präsentation einer anlaßbezogenen Festmusik, wofür er bis 1749 Jahr für Jahr offizielle Aufforderungen erhielt.

Das Concerto. auf die Rathswahl in Leipzig 1723 "Preise, Jerusalem, den Herren" BWV 119 stellte Bachs erste Leipziger Ratswechselkantate dar. Und wie in den Figuralstücken seines ersten Leipziger Jahrganges war es ihm sichtlich darum zu tun, eine eindrückliche Visitenkarte abzuliefern. Mit vier Trompeten und Pauken, zwei Blockflöten, drei Oboen (zugleich Oboen da caccia in einigen Sätzen), Streichern, vier Singstimmen und Generalbaß gehört die Kantate zu Bachs größtbesetzten Anlagen überhaupt - hier wurde das Maximum an Prachtentfaltung realisiert, das mit den städtischen Dienstensembles mobilisierbar war. Auch hinsichtlich der Formgebung scheint Bach alles getan zu haben, damit sich die Leipziger Notabeln als kleine Könige fühlen konnten - verlieh er mit der Wahl einer Ouvertüre der Zeremonie doch einen unverkennbar höfischen Anstrich. Daß Bach sein städtisches Amt - zum manchmal nicht geringen Verdru ß seiner Vorgesetzten - auf "Kapellmeister-Art" zu führen gedachte, machte er somit von Beginn an unmissverständlich deutlich. Zugleich stellte Bach mit der Komposition einer Ouvertüren-Kantate wie schon 1714 im Fall seiner ersten Kantate für den Weimarer Hofgottesdienst (BWV 61) sowie zu Beginn des Choralkantatenjahrganges 1724 (BWV 20) auch sein Wirken für den Leipziger Rat unter eine demonstrativ "eröffnende" Signatur.

Daß er für den glanzvollen Eingangssatz auf eine ältere instrumentale Vorlage zurückgriff, ist wahrscheinlich; ob dies auch für den Mittelteil der Ouvertüre gilt, der den eigentlichen Vokalsatz enthält, hingegen umstritten. Der virtuose und dank der durchlaufenden Continuobewegung ausgesprochen schlagkräftige Chorsatz "Preise, Jerusalem" geht bei aller Wucht sensibel auf die einzelnen Textglieder ein; hinter den Abschnitten mit reduzierter Stimmenzahl lassen sich noch die Trioepisoden der Ouvertürenform erkennen.

Nach diesen prachtvoll in Szene gesetzten Psalmversen werden im Rezitativ "Gesegnet Land! glückselge Stadt" die Wirkungen der göttlichen Gnade in einer das Bibelwort paraphrasierenden Argumentation beschrieben, wobei der Lobpreis von "Güte und Treue" die konsensorientierte und verrechtlichte Basis des städtischen Zusammenlebens anklingen lässt. Die charakteristische Färbung zweier Oboen d'amore verleiht der Tenorarie, die sich erstmals direkt an die Leipziger wendet, einen nahezu pastoralen Einschlag ("Wohl dir, Du Volk der Linden").

Das folgende Accompagnato setzt das gesamte Bläser-Instrumentarium ein, um neben der Repräsentation von Herrschaft auch ihre innere Begründung in der politischen Weisheit und christlichen Verantwortung der Regierenden hervorzuheben. Nach einer lärmigen Fanfare, die gewissermaßen die Fassade eines mauernumwehrten Gemeinwesens abbildet, dunkelt sich der Klang durch den Eintritt der Holzbläser genau in jenem Moment ein, in dem von "Herz" und "Gewissen" als den Instanzen der Erkenntnis und Rechtfertigung frommer Regierender sowie von der Dankbarkeit der demütig Beherrschten die Rede ist. Selbst mit dem abschließenden Tusch der Trompeten wird dieser nach innen gerichtete Blickwinkel nicht aufgegeben. Vielmehr wird erst vor diesem Hintergrund verständlich, warum Bach das folgende majestätische Dictum "Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild" nicht mit typisch "herrscherlichen" Attributen respektive "lauten" Instrumenten versehen, sondern in verinnerlichter Weise mit zwei unisono geführten Blockflöten besetzt hat. Ob er damit das behagliche Leben unter einem fürsorglichen Regiment ausdrücken oder durch die Besetzung mit Blockflöten als Sinnbildern der Vergänglichkeit die Ratsherren an die Begrenztheit ihrer auf Zeit verliehenen Autorität erinnern wollte, muß offenbleiben. Im letzteren Fall hätte der Text weniger die Funktion gehabt, den versammelten Untertanen die überweltliche Legitimation der Obrigkeit in Erinnerung zu rufen, sondern eher den Oberen selbst den Maßstab der Gottebenbildlichkeit als sittliche Forderung im Sinne eines "Regentenspiegels" vorzuhalten. Daß das folgende Rezitativ weniger die Macht und Pracht, sondern die Last des Amtes betont, deutet vielleicht in diese Richtung.

Dann aber ist es genug der Ermahnungen: mit dem attacca-Übergang in einen großangelegten Konzertsatz für Chor und große Instrumentalbesetzung wird unbeschwertem Festjubel Raum gegeben. Wie sich in Bachs souveräner Entfaltung der Satzanlage die Prinzipien eines mehrchörigen Gruppenkonzertes, einer Chorfuge sowie einer da-capo-Arie miteinander verbinden, ist große mitreißende Kunst, die die vor allem im Mittelteil bestenfalls durchschnittlichen und in den sächsischen Dialekt einschlagenden Verse weit übersteigt.

Das Alt-Rezitativ schlägt dann den Bogen zurück zum verhaltenen Gebet des Schlußchorals, dessen Instrumentalbesetzung aufgrund des Verlustes der Originalstimmen von Christine Fröde als Band-Herausgeberin der Neuen Bach-Ausgabe hypothetisch rekonstruiert werden mußte. Mit dem Verzicht auf obligate Trompetenpartien hat Bach seiner Kantate zu einem Schluß von gesammeltem Ernst verholfen und damit ein Werk abgerundet, das für die Leipziger Staatsmusik des Spätbarock neue Maßstäbe setzte. Daß Bach die Komposition in späteren Jahren erneut darbot, ist angesichts der geringen Zahl von ihm komponierter Ratswechselkantaten denkbar, bisher jedoch nicht nachzuweisen.

Dafür erlebte die Kantate unter den Stabführung Felix Mendelssohn Bartholdys am 23. April 1843 eine bemerkenswerte Wiederaufführung. Im Festkonzert zur Einweihung des ersten Leipziger Bachdenkmals, das als repräsentativer Querschnitt durch Bachs Schaffen angelegt war, vertrat die Kantate die gottesdienstliche Figuralmusik. Mit Rücksicht auf den gewandelten Zeitgeschmack sowie aufgrund aufführungspraktischer Probleme wurde sie jedoch unter Auslassung beider Arien und des Chores "Der Herr hat Gut's an uns getan" auf vier Sätze verkürzt und im Detail stark vereinfacht. Daß Mendelssohn, der zunächst die Darbietung des Kantatenchores "Nun ist das Heil und die Kraft" BWV 50 geplant hatte, sich mit der Ratskantate für die ihm just am 13. April 1843 vom Stadtrat verliehene Ehrenbürgerwürde bedanken wollte, ist nicht unwahrscheinlich. Dabei sang mit dem Bariton und Quellenforscher Franz Hauser der seinerzeitige Besitzer der Originalpartitur die Basspartie. Angesichts der gravierenden Textänderungen Mendelssohns konnte Hauser sicher nicht aus dem Bachschen Autograph selbst vortragen. Ob er es wohl beim anschließenden Festbankett im Hotel de Baviere dem anwesenden greisen Bach-Enkel Wilhelm Friedrich Ernst gezeigt hat?

Während sich die Entstehungsgeschichte von BWV 119 recht gut nachvollziehen lässt, gehört die Ratswechselkantate "Gott, man lobet dich in der Stille zu Zion" BWV 120 zu den von der Überlieferung und Fassungschronologie her undurchsichtigsten Fällen im Bachschen Kantatenoeuvre. Bachs jahrzehntelange Beschäftigung mit dem Material der Einzelsätze hat zu einer im Nachhinein kaum noch auflösbaren Verschränkung von Parodiebeziehungen geführt, die nicht nur verschiedene gottesdienstlichen Anlässe einbezieht, sondern sich auch auf den Bereich der Orchester-, Kammer-   und weltlichen Vokalmusik erstreckt und bis in Bachs späte Vervollständigung der h-Moll-Messe hineinreicht.

Bereits der Entstehungszeitraum der Kantate ist ungeklärt. Zwar deutet der Schriftbefund der autographen Originalpartitur auf die Jahre 1742 bis 1744. Doch hängt es von der Bewertung der nachgewiesenen bzw. aufgrund sprachrhythmischer Übereinstimmungen vermuteten Parodiebeziehungen zur undatierten Trauungskantate "Herr Gott, Beherrscher aller Dinge" (BWV 120a) sowie zur am 26. Juni 1730 anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Augsburgischen Konfession aufgeführten Kantate "Gott, man lobet Dich in der Stille" (BWV 120b) ab, ob man eine frühe Fassung der Ratswahlversion bereits für 1729 annehmen möchte.

Hinsichtlich der Eingangsarie hat Friedrich Smend die Herkunft aus einem Köthener Violinkonzert vermutet, wofür die Solostimme, die in der Tat an Originalkonzerte und Bearbeitungen Bachs erinnert, gewisse Anhaltspunkte liefert. Doch gehen diese solistische Linie wie auch die Satzanlage so feinsinnig auf den textlichen Gegensatz von "Loben" und "Stille" ein, daß auch eine Neukonzeption vorstellbar erscheint. Die geringe Zahl von autographen Korrekturen in der Originalpartitur der frühen 1740er Jahre besagt diesbezüglich nichts, da ungeklärt ist, ob es sich bei ihr nicht nur um die geringfügig revidierte Abschrift einer verschollene Vorlage zu allen drei erhaltenen Parodiefassungen handelt.

In jedem Fall dürfte die im Kontext einer großbesetzten Festmusik ungewöhnliche Strategie, dem prachtvollen Eingangschor zunächst eine weit ausgesponnene Soloarie mit Begleitung von Streichern und Oboen d'amore vorzuschalten, auf die in der Textzeile "man lobet dich in der Stille" enthaltene kompositorische "Regieanweisung" zurückzuführen sein. Umso wirkungsvoller ist dann der Einsatz des großen Orchesters und Chores mit den D-Dur-Akkordbrechungen auf "Jauchzet ihr erfreuten Stimmen". Bach hat den Rahmenteil dieses Da-capo-Chorsatzes später in überarbeiteter Form dem "Et expecto" II der h-Moll-Messe zugrundegelegt. In der Umtextierung zu "Amen" ging allerdings die schlüssige Nachzeichnung des zum Himmel-"Steigens" in den Takten 23ff. und 42ff. verloren.

Wie in BWV 119 leitet auch in BWV 120 ein Binnensatz - das Baß-Rezitativ Nr. 3 "Auf, du geliebte Lindenstadt" ­ - vom zeitlos gültigem Psalm zur konkreten Segensbitte für die lokale Obrigkeit über. Die folgende Arie verweist mit ihrer virtuosen Stimme für Violino concertino erneut auf die Sphäre des Konzerts. Anders als im Falle des Eingangssatzes lässt sich hier jedoch eine Vorlage identifizieren - es ist der Mittelsatz der zweiten Frühfassung der Sonate für Cembalo und Violine G-Dur BWV 1019a, der in Bachs letzter Revision der Doppelsonate durch das robuste Allegro für Cembalo solo ersetzt wurde. Inwieweit dieser Sonatensatz wiederum auf eine heute verlorene Arie für Sopran, obligates Instrument und Continuo zurückging, lässt sich nur vermuten. Dessenungeachtet ist die schimmernde Violinkantilene perfekt geeignet, das Bild des vom Himmel herabströmenden Segens nachzuzeichnen - die Frage nach Parodievorbildern nimmt dem Satz im Kontext der klangprächtigen und effizienten Ratswechselkantate also nichts von seiner Schönheit und Einprägsamkeit.

Ein streicherbegleitetes Rezitativ leitet über in einen schlichten Schlußchoral, dessen Instrumentalbesetzung, Wortlaut und Textunterlegung über Bachs autographe Zeile "Nun hilf'uns Herr, den Dienern dein" hinaus ebenfalls ergänzt werden musste.

Anselm Hartinger