Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Missa brevis F-Dur, BWV 233

Die Stadt Leipzig war zu Bachs Zeit von Grund auf lutherisch geprägt. Nachdem die Reformation 1539 durch Herzog Heinrich von Sachsen zwangseingeführt worden war, wurden die Klöster säkularisiert und die vier Hauptkirchen (St. Thomas, St. Nikolai, St. Peter und die Neue Kirche) einem protestantischen Konsortium unterstellt, das über alle Belange des kirchlichen Lebens – und hier vor allem auch über die korrekte Anwendung der deutschsprachigen lutherischen Liturgie – wachte. Katholiken hatten kein Stadtrecht, und dementsprechend mussten sie ihre Gottesdienste außerhalb von Leipzig oder in privatem Rahmen abhalten. Angesichts dieser scharfen Abgrenzung auf Seiten des Luthertums ist es bemerkenswert, dass das Konsortium lateinische und damit ursprünglich katholische Kirchengesänge im lutherischen Ritus nicht nur tolerierte, sondern ihnen offenkundig sogar eine besondere Bedeutung zumaß. Denn zwar lag das Hauptgewicht der protestantischen gottesdienstlichen Mehrstimmigkeit auf der deutschen Kirchenkantate, deren beide Teile das Herzstück der Feier – die Predigt – einrahmten. Aber der dreiteilige Beginn des Mess-Ordinariums wurde in einem gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst entweder als deutsches Kyrielied ("Kyrie Gott Vater in Ewigkeit") oder choraliter bzw. figuraliter als lateinische (eigentlich griechische) Anrufung gesungen. Das Gloria konnte als deutsches Glorialied ("Allein Gott in der Höh' sei Ehr") oder als choraliter intonierter ("Gloria in excelsis Deo") und figuraliter fortgeführter Gesang ("Et in terra pax") erklingen, während das Credo choraliter gesungen wurde. An hohen Festtagen – Weihnachten, Ostern Pfingsten – musizierte der Chor Kyrie und Gloria der lateinischen Messe stets figuraliter, das Credo choraliter. Nur gelegentlich folgte ein figurales Sanctus, während das Agnus nirgends in den alten Gottesdienstordnungen als lateinischer Messegesang verzeichnet ist.

So war Johann Sebastian Bach ex officio dazu angehalten, sich mit der lateinischen Messe zu beschäftigen, aber er hatte offenkundig auch von sich aus ein vitales Interesse an der lateinischen – und hier vor allem der italienischen – Kirchenmusik: Es haben sich teilweise autographe Abschriften von Messen Giovanni Pierluigi da Palestrinas (1525-1594), Francesco Durantes (1684-1755), Antonio Lottis (1665-1740), Giovanni Battista Bassanis (1647-1716) und anderer Italiener oder italienisch orientierter Komponisten erhalten. Die Abschrift von Palestrinas Missa sine Nomine lässt sich sogar datieren: Sie entstand 1742 und bezeugt damit das Interesse des eher "alten" Bach an dieser musikalischen Form.

Im übrigen weiß man nicht, wie Bach diese Werke kennengelernt hat. Wahrscheinlich gehörten sie zu den mehr als 60 lateinischen Messen (u.a. von Palestrina-Zeitgenossen wie Philippe de Monte, Matthaeus Le Maistre und Orlando di Lasso), die zu Bachs Zeit in der Musikbibliothek der Thomasschule aufbewahrt wurden. Aus diesem Fundus bedienten sich die Thomas-Kantoren, wenn sie mehrstimmige lateinische Mess-Sätze im Gottesdienst aufzuführen hatten. Wir können mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, dass Bach 1742 Kyrie und Gloria der genannten Palestrina-Messe als Missa Brevis aufführte, da nur für diese beiden Sätze von ihm selbst ausgesetzte Generalbass-Stimmen existieren.

Die Missa Brevis BWV 233 in F-Dur schrieb Bach nach allgemeiner Ansicht gegen Ende der 30er Jahre, weil sie ähnlich wie die beiden Schwesternwerke, die Missae A-Dur und G-Dur, gestaltet ist, die beide nachweislich in dieser Zeit entstanden. Und wie Bachs weitere vier Messen – einschließlich der großen h-moll-Messe – beruht sie zu einem großen Teil auf früher komponierten Werken, ist also in weiten Teilen eine Kontrafaktur.

Das Kyrie der Missa in F-Dur hat seine Vorlage im Kyrie "Christe, du Lamm Gottes", dem einzigen erhaltenen Kyrie aus Bachs Weimarer Zeit als herzoglicher Hoforganist (1708-1714). Die Weimarer Kirchenordnung schrieb für Sonntagsgottesdienste ein mehrstimmiges Kyrie vor, wobei Bachs Werk Elemente der lateinischen mit solchen der deutschen Messe verbindet: Das fünfstimmige Stück beginnt mit einem fugiert über Tenor, Alt und zweitem Sopran verlaufendem Einsatz, und auf diesem Fundament setzt der erste Sopran mit dem Agnus Dei der Deutschen Messe ein, dem litaneiartig gestalteten "Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd' der Welt, erbarm dich unser" (Text und Melodie von M. Luther, 1528). Im 2. Versus wiederholt sich diese Struktur, wobei das markante Thema in der Umkehrung erscheint und der imitatorische Einsatz nun mit dem Alt beginnt, gefolgt von Sopran 2 und Tenor. Im dritten Versus schließlich kombiniert Bach bei wiederum gleicher Satzfaktur die thematischen Elemente: Sopran 2 und Alt singen das Thema in der ursprünglichen Form und der Tenor sekundiert in der Umkehrung. Im Fall des Kyrie der F-Dur-Messe hält sich Bach notengetreu an die Weimarer Vorlage. Die einzige Einschränkung ergibt sich daraus, dass in einer lateinischen Messe kein Raum für deutschen Text ist; und so reduziert Bach die fünf Vokalstimmen auf die übliche Vierzahl und überträgt das deutsche Agnus drei unison geführten Instrumentalstimmen – dem Horn und den beiden Oboen.         

Das textreiche Gloria verteilt Bach auf fünf Sätze, deren erster als in beschwingtem 6/8-Takt gehaltener dreiteiliger Chorsatz daherkommt. Im ersten Teil dieses Satzes ist die himmlische Höhe, in der die Gläubigen Gott ehren, in Kontrast gesetzt zur irdischen Erde, für die sie Frieden erbitten: "Gloria in excelsis" ist durch eine reiche, durch und durch imitatorische Aufwärtsbewegung erst der Hörner, Oboen und Streicher, dann der Sänger gestaltet, "et in terra" durch einen exponierten Abwärts-Ganztonschritt und weitgehend homophone Textur. Im zweiten Teil variieren imitatorische und homophone Schreibweise, und im dritten Teil wird zum "Gratias" das Kopfmotiv des ersten Satzes wieder aufgenommen, womit der Satz so feierlich-fröhlich ausklingt wie er begonnen hatte.

Die anschließende Anrufung Gottes und Christi ist mit heiterem 3/8-Takt dem Bass in den Mund gelegt, und dann folgt ein abrupter Stimmungswechsel: Die Solooboe intoniert einen langsam gehaltenen, reich mit Synkopen und chromatischen Wendungen versehenen Klagegesang, in den der Solosopran einstimmt und sich als Fürsprecherin für die sündigen Menschen mit der Bitte um Erbarmen an Christus als das Lamm Gottes wendet. Auch wenn man es diesem überaus kunstvoll gestalteten Satz nicht anhört – er ist eine Kontrafaktur, deren Vorlage die Arie "Weh der Seele, die den Schaden nicht kennt" aus der Kantate Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben BWV 102 von 1726 ist. Kontrafakturen sind auch Satz 5 und 6: "Quoniam tu solus sanctus" geht auf die vom Traverso begleitete Bass-Arie "Erschrecke doch, du allzu sich're Seele" – gleichfalls aus BWV 102 – zurück, wobei in beiden Fällen durchaus unterschiedliche Affekte angesprochen sind: die sprunghafte, von Pausen durchbrochene Stimmführung zeichnet in der ursprünglichen Arie eine Drohgebärde der unbesonnenen Seele gegenüber nach, während sie – abgemildert durch die Altstimmlage und den im Vergleich zur Flöte weicher konturierten Ton der Solovioline – die Hoheit des alleinigen Gottes preist. Der Schlusschor "Cum sancto spirito" ist mit seiner Instrumental-Besetzung von Hörnern, Oboen und Streichern und seinem fugierten Einsatz dem zweiten Teil des Eingangschores zur Kantate BWV 40, Darzu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre (1723), nachgestaltet – ein komplexes Zwischen-, In- und Miteinanderspiel der polyphonen, homophonen und konzertanten Satzelemente, das einen reichen, volltönenden Abschluss dieser Missa brevis bewirkt.


Kantate BWV 128, Auf Christi Himmelfahrt allein

Diese Kantate entstand zur Feier des Himmelfahrtstages, der im Jahre 1725 auf Donnerstag, den 10. Mai fiel. Der Text stammt von der Schriftstellerin Christiane Mariane von Ziegler (1695-1760), die in Leipzig einen literarisch-musikalischen Salon führte, in dem auch Bach verkehrt haben soll. In literarischen Kreisen stand Christiane von Ziegler in hohem Ansehen: Im Jahre 1730 wählte man sie als erste und einzige Frau in die "Deutsche Gesellschaft" des Leipziger Literaturpapstes Johann Christoph Gottsched (1700-1766), und 1733 wurde sie zur kaiserlichen Poeta laureata gekrönt. In der Periode ihres Lebens, in der sie als Dichterin wirkte, war sie bereits zwei Mal verwitwet, und um weitere Heiratschancen stand es nach Ansicht eines Zeitgenossen schlecht, weil "ihre Conduite fast überweiblich und ihr Geist viel zu munter und aufgeweckt [ist], als daß sie sich gemeinem männlichen Verstande unterwerfen sollte." Hier irrte der Mann übrigens: 1741 heiratete sie ein drittes Mal.

Bach hat neben BWV 128 acht weitere ihrer Dichtungen als Kirchenkantaten vertont. Im Text der dem Himmelfahrtstag zugeordneten Perikope wird berichtet, wie Jesus vor den Augen seiner Jünger von einer Wolke eingehüllt wird und in ihr gen Himmel schwebt (Apostelgeschichte 1, 1-11) bzw. emporgehoben wird und zur Rechten Gottes Platz nimmt (Markus 16, 14-20). In Zieglers Text betrachtet das gläubige "Ich" das Geschehen aus der Perspektive der Jünger und stellt sich dabei seine eigene Himmelfahrt in der Nachfolge Christi und die damit verbundene Hoffnung vor, im ewigen Leben an der Herrlichkeit Gottes teilhaben zu dürfen. Die Texte zum ersten und zum letzten Satz sind übrigens Zitate: Satz 1 ist die erste Strophe eines Gedichtes des Augsburger Predigers Josua Wegelin (1604-1640), und Satz 5 stammt aus dem Lied "O Jesu meine Lust" von Matthäus Avenarius (1625-1692), zu seiner Zeit Pfarrer im fränkischen Steinbach.

Musikalisch kleidet Bach den einleitenden Choraltext in ein mit zwei Hörnern, zwei Oboen und Streichern festlich instrumentiertes Klanggewand, das aus imitatorischer Stimmführung gewebt ist. In diesen polyphonen Satz stimmen Tenor, Alt und Bass mit gleichfalls imitierendem Einsatz ein, während der Sopran in langen Notenwerten im Wechselspiel mit instrumentalen Ritornellen den Choral "Allein Gott in der Höh' sei Ehr" – das deutsche "Gloria in excelsis Dei" – vorträgt. Seinen Abschluss findet der Satz mit der Wiederholung des instrumentalen Beginns.

Ein kurzes Rezitativ des Tenors leitet über zu der Bass-Arie "Auf, auf, mit hellem Schall". Dieser, der "helle Schall", wird uns durch das im wahrsten Sinne des Wortes "atemberaubende" Spiel der Clarintrompete vergegenwärtigt, das umso klarer strahlt, als es ohne die Beimischung weiterer Bläser einzig mit den Streichern konzertiert. Die Arie birgt noch eine weitere Überraschung: Ein über vier Takte verlaufender zweiter Teil lässt den Hörer eine Überleitung zum da Capo des Beginns erwarten, aber statt dessen mündet er höchst überraschend in ein Rezitativ, das von den Streichern durch lang ausgehaltene, chromatisch geführte und in dieser Kombination eine mystisch-geheimnisvolle Wirkung erzielende Klänge gestaltet wird – all dies zu einem Text, in dem "Ich" die allgegenwärtige Allmacht Gottes erahne. Abschließend geht es nochmals zurück zum "hellen Klang" mitsamt der halsbrecherischen, über zehn Takte verlaufenden Clarino-Kapriole.

In denkbar stärkstem Gegensatz zu diesem extravertierten Jubel steht das nachfolgende Duett, in dem Oboe d'amore, Alt und Tenor in inniger imitatorischer Verschlingung nochmals die Allmacht Gottes und die Vision besingen, Christus "durch die Sterne" zur Rechten Gottes thronen zu sehen. Der Text des Schlusschorals ist der Melodie des Kirchenliedes "O Gott, du frommer Gott" unterlegt, wobei vor allem die eigenständig geführten Hörner für einen festlichen Abschluss dieser Himmelfahrts-Kantate sorgen.

Dagmar Hoffmann-Axthelm