Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Die drei Kantaten, die im heutigen Konzert erklingen, gehören alle an den Anfang der 50-tägigen Freudenzeit, die von Ostern bis Pfingsten dauert. In ihr kommt der Osterjubel nicht zum Verstummen, in ihr hat das Halleluja, das in der Passionszeit nicht gesungen wurde, wieder seinen Platz. In den Evangelienlesungen dieser Zeit steht der auferstandene Christus im Mittelpunkt, zuerst mit seinen Erscheinungen bei den Jüngerinnen und Jüngern, später auch mit seinen Abschiedsreden, wie sie im Johannesevangelium überliefert sind. Die nachösterliche Zeit ist eine Zeit des Neuanfangs, über der ein besonderer Glanz liegt und eine besondere Erwartung. "Der Himmel lacht, die Erde jubilieret", heisst es in Bachs früher Osterkantate BWV 31 und von dem im Tale grünenden "Hoffnungs-Glück" redet Goethes Faust beim Osterspaziergang.

Ein Anfang der besonderen Art steckt auch im Namen des heutigen Sonntags Quasimodogeniti. Bezeichnet wurden damit "als die jetzt geborenen Kindlein" die an Ostern getauften Gläubigen, die durch die Taufe in die christliche Gemeinde aufgenommen wurden. Der Sonntag heisst auch "Weisser Sonntag" als der Tag, an dem die Getauften ihre weissen Taufkleider ablegten. Seinen Inhalt erhält er von der altkirchlichen Evangelienlesung aus Johannes 20, 19-31, in welcher zwei Erscheinungen des auferstandenen Jesus erzählt werden, diejenige vom Ostersonntagabend, bei welcher der Jünger Thomas nicht anwesend war und deshalb Beweise für die Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten verlangte, und dann die zweite eine Woche später, bei welcher Thomas nur schon durch die Erlaubnis, Jesu Wunden berühren zu dürfen, zum Bekenntnis "Mein Herr und mein Gott" kam und so vom ungläubigen zum gläubigen Thomas wurde. Die zentrale Botschaft von Jesus aber lautete damals: "Weil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben."

Die auf diesen Sonntag gehörende Kantate BWV 67 Halt im Gedächtnis Jesum Christ wurde am 16. April 1724 in der Kirche zu St. Thomä in Leipzig erstmals aufgeführt. Der originale Textdruck ist erhalten. Der Dichter ist unbekannt, er hat aber dem Komponisten eine Vorlage der besonderen Art geliefert, in welcher der dramatische Konflikt zwischen der Freude über die Auferstehung Jesu und dem dennoch andauernden Bedrohtsein durch böse Mächte einschliesslich des eigenen Unglaubens bis zum Schluss vorhanden ist. Die Kantate beginnt mit einem in A-Dur stehenden Chorsatz über den neutestamentlichen Text aus dem 2. Timotheusbrief (2, 8): "Halt im Gedächtnis Jesum Christ, der auferstanden ist von den Toten". In Bachs Vertonung werden die beiden Hauptaussagen: das im Gedächtnis- Halten und die Auferstehung musikalisch durch zwei unterschiedliche Figuren, eine ruhende und eine bewegte, dargestellt, die in einem symmetrisch aufgebauten Satz mit wechselnden Chorblöcken, Chorfugenabschnitten und instrumentalen Abschnitten kunstvoll verarbeitet werden. Vielleicht darf nach Alfred Dürr im choralartigen ersten Motiv, das bereits in der instrumentalen Einleitung vom Corno da tirarsi gespielt wird, ein Anklang an das Lied "O Lamm Gottes, unschuldig" herausgehört werden, so dass bei dem im Gedächtnis zu haltenden Auferstandenen zugleich an den Gekreuzigten zu denken wäre.

In der nachfolgenden, in E-dur stehenden Tenorarie wechseln Auferstehungs- und Glaubensgewissheit mit äusserem Schrecken und innerem Streit ab, was den Sänger inständig um das Erscheinen Jesu bitten lässt. Noch ist es aber nicht so weit, noch scheint "der Feinde Rest" die Übermacht zu haben - trotz der im Altrezitativ Nr. 3 aufgenommenen alttestamentlichen Verheissung aus Hosea 13, 14: "Ich will dich erlösen aus der Hölle und vom Tod erretten. Tod, ich will dir ein Gift sein, Hölle, ich will dir eine Pestilenz sein" und trotz der im Lied Nr. 4 geäusserten österlichen Gewissheit des Triumphes Jesu über alle Feinde. Erst im Altrezitativ Nr. 5 wird dann mit einem zweiten "doch" die Wende vollzogen und aus der Negation zum doppelten Ja des Glaubens gefunden: "Ja, ja, wir spüren schon im Glauben, dass du, o Friedefürst, dein Wort und Werk an uns erfüllen wirst." Gleichzeitig kehrt die Musik aus dem Moll-Bereich zur Grundtonart A-dur zurück. Die "Aria" Nr. 6 für Bass und dreistimmigen Chor, die nun folgt, gehört mit zu den eindrücklichsten Werken, die Bach geschaffen hat. In ihr stehen sich Jesus und die Jünger gegenüber, was musikalisch durch zwei sich mehrmals abwechselnde Teile dargestellt wird, einen tumultartigen, im 4/4-Takt stehenden Streichersatz einerseits und einen ruhigen Holzbläserteil mit punktierten Rhythmen im 3/4-Takt anderseits. Das erste Motiv bringt die auf Erden noch immer bestehende Kampfsituation zum Ausdruck, in der die Menschen zu leben haben, auch wenn in den drei Textstrophen von der Gewissheit des Sieges über die Feinde, von der Gewissheit des inneren Friedens und von der Hoffnung auf das ewige Leben die Rede ist. Das zweite Motiv umrahmt den biblischen Gruss des Auferstandenen: "Friede sei mit euch", den dieser immer wieder mitten in die Kampfsituationen hinein spricht. Dabei zeichnet sich eine sich steigernde Intensität ab, indem in der dritten Strophe bei der Anrede "O Herr!" die Stimme Jesu für kurze Zeit gleichzeitig mit dem Chor ertönt, seine tatsächliche Präsenz dadurch anzeigend. Die beiden Gruppen trennen sich dann aber wieder und der Satz klingt ruhig mit dem Bläsermotiv aus. Darauf wird als letzte Abrundung der Kantate der vierstimmige, in hellem A-dur stehende Choral "Du Friedefürst, Herr Jesu Christ" gesungen.

Ist es ein Wagnis, auf ein solches Werk ein ähnliches zweites zur gleichen Thematik folgen zu lassen? Vielleicht ja, aber die Kantate BWV 158 Der Friede sei mit dir ist doch in ihrer Anlage und in ihrem Umgang mit dem Thema ganz anders. Sie scheint aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt zu sein, wobei die Rahmenstücke (Rezitativ Nr. 1 und Schlusschoral Nr. 4) von   Ostern bestimmt werden, die mittleren Sätze (Arie mit Choral Nr. 2 und Rezitativ Nr. 3) von der Geschichte der Darstellung Jesu im Tempel. In ihr steht der greise Simeon mit seiner Bitte: "Herr, nun lässest du deinen Diener im Frieden fahren" im Zentrum. Beide Bestimmungen (Mariä Reinigung und 3. Osterfeiertag) finden sich auf dem (nicht originalen) Umschlagtitel vermerkt. Die inhaltliche Verbindung beider darf wohl im Wort "Friede" gesehen werden, das wie ein roter Faden alle Teile der Kantate durchzieht. So wird Friede vom Auferstandenen "dem ängstlichen Gewissen" zugesprochen, er wird im Himmel bei der Anschauung Gottes erwartet, er wird, dass "ich ein Kind des Friedens" sei, für die Dauer des irdischen Lebens erbeten. Und Frieden strahlt nun auch Bachs Werk aus, welches entsprechend der Ich-Form seines Textes eine Solokantate für Bass ist. Die Kantate beginnt mit dem österlichen Friedensgruss, der nun aber nicht der Mehrzahl der Jünger ("euch") zugesprochen wird, sondern dem einzelnen Menschen ("dir"). Dreimal wird er arios vorgetragen, und zwar so, dass das Wort "Friede" dank der Verlängerung am Schluss im Ganzen siebenmal vorkommt. In den Teilen dazwischen wird rezitativisch über die Bedeutung von Ostern "für mich" nachgedacht: Angst ist von nun an unnötig, denn Christus hat das Gesetz erfüllt und das Schuldenbuch zerrissen. Angst ist unnötig, denn der Fürst dieser Welt ist bezwungen und gefällt. Auf diesen ersten Kantatensatz mit seinem tröstlichen Schluss folgt die Bassarie mit obligater Violine "Welt, ade! ich bin dein müde". In sie hinein wird vom Sopran, unterstützt durch eine Oboe, der gleichnamige Choral von J. G. Albinus gesungen. Mit ihrer geradezu himmlischen Länge scheint die Arie etwas von der erhofften ewig seligen Gottesschau vorwegzunehmen. Durch eine textliche Wiederholung der beiden letzten Zeilen am Schluss des nachfolgenden Rezitativs Nr. 3 werden die beide Sätzen eng miteinander verbunden. Dabei fällt auf, dass Bach beim zweiten Mal das Prangen mit den aus der Johannesoffenbarung stammenden "himmlischen Kronen" besonders hervorhebt. Mit der 5. Strophe des Osterliedes "Christ lag in Todesbanden" von Martin Luther wird die Kantate beendet. Sie hat wie das Lied als Ganzes etwas Archaisches an sich. Dazu gehört der Hinweis auf das rettende Blut, mit dem die Türe gezeichnet wird wie damals bei der Stiftung des jüdischen Passahfestes in Ägypten, oder die fast anstössige Beschreibung der brennend heissen Liebe Gottes oder auch die Bezeichnung des Todes als Würger, der nun aber die Menschen nicht mehr rühren, d.h. anrühren und treffen kann.     

Sprachlich aus einer fernen Welt scheint auch der Text der dritten im heutigen Konzert erklingenden Kantate zu stammen. Es ist die Choralkantate BWV 112 Der Herr ist mein getreuer Hirt, die auf den zweiten nachösterlichen Sonntag Misericordias Domini gehört. Das Evangelium dieses Sonntags steht in Johannes 10, 12-16, wo Jesus von sich sagt, er sei der gute Hirte, der sein Leben für die Schafe lasse. Das Lied ist in der Reformationszeit als Nachdichtung des 23. Psalms "Der Herr ist mein Hirte" in enger Anlehnung an Luthers Bibelübersetzung entstanden, und es hat trotz seiner Sperrigkeit und seiner etwas altertümlichen Sprache (ohn Ablass=ohne Unterlass, fronheilig=hochheilig) seinen Platz in der lutherischen Kirche gefunden. Massgebend war dabei sicher die in ihm hervorgehobene Bedeutung des Wortes Gottes als eines heilsamen Wortes und des Heiligen Geistes als eines freudigen Geistes. Bach hat das Lied im Jahr 1731 seiner Choralkantate BWV 112 zu Grunde gelegt, die zu den späteren, den Jahrgang der Choralkantaten ergänzenden Werken gehört. Dabei fällt als ein besonderes Merkmal auf, dass Bach in allen fünf Sätzen zwar am ursprünglichen Text festgehalten, die Sätze zwei bis vier aber ohne Verwendung der Choralmelodie "Allein Gott in der Höh sei Ehr" in den freien Formen von Rezitativ und Arie vertont hat. Die Kantate ist mit der Abfolge von Choralchor - Arie - Rezitativ - Arie - Schlusschoral streng symmetrisch gebaut, wobei das in der Mitte stehende Rezitativ Nr. 3 die überraschendste Form hat. Es beginnt mit einem ostinaten Bass "Und ob ich gleich wandert im finstern Tal", wird zu einem ernsten von den Streichern chromatisch begleiteten Rezitativ und endet wieder zuversichtlich arios: "auf dein Wort ich mich lasse (=verlasse)". Die vorangehende Altarie mit obligater Oboe d'amore gemahnt mit ihrem 6/8-Takt an ein Pastorale, und das nachfolgende Duett für Sopran und Tenor mit zwei Violinen hat den Charakter einer beschwingten Bourrée. Beim Schlusschoral spielen wie bereits im Eingangschor zwei Hörner mit. Heitere Zuversicht kommt darin zum Ausdruck. Sie wird genährt von der Gewissheit, dass ich bleiben werde "auf Erd in christlicher Gemein und nach dem Tod, da werd ich sein, bei Christo meinem Herren".

Helene Werthemann