Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     
     

Einführung in die Kantaten vom 14. März 2010

Da für den heutigen Sonntag Laetare von Bach keine Kantaten vorliegen, haben wir zwei Kantaten ohne eindeutige kirchenjahreszeitliche Bestimmung gewählt. Beide basieren auf Psalmtexten und stammen aus der frühen Schaffensperiode Johann Sebastian Bachs. Sie sind ausserdem eher kurz, weshalb wir das Programm mit zwei Kompositionen ergänzen, die Bach als Anregung für die Kantate BWV 150 gedient haben mögen.

Manchen Hörern, die sich schon an die tiefe Stimmung der sonst in unserer Kantatenreihe verwendeten historischen Instrumente gewöhnt haben, wird heute vielleicht eine andere, etwas hellere Klanglichkeit auffallen: Die heutigen Werke erklingen für einmal im Chorton auf 466 hz, einen Halbton über dem – übrigens erst 1939 international festgelegten – Kammerton a=440 hz. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren die Orgeln in Mitteldeutschland in der Regel noch in diesem Chorton gestimmt. Erst nach und nach wurde der tiefere französische Kammerton (400-415 hz) eingeführt.   Wollte man nun die traditionell gestimmten Orgeln mit den neueren Blasinstrumenten (Fagott, Oboen, Traversi) kombinieren, waren verschiedene Transpositionen nötig. In Leipzig beispielsweise musste der Organist zur Bachzeit immer einen Ganzton nach unten transponieren, da alle Streicher und Bläser bereits im Kammerton gestimmt waren. Im Fall der Kantate BWV 150 sind alle Instrumente bis auf das Fagott im Chorton notiert. Dieses stand im tiefen französischen Kammerton (392 hz) und transponiert eine kleine Terz aufwärts. Auch für heutige Musiker ist diese Flexibilität im Umgang mit den Stimmtönen eine Herausforderung und gleichzeitig eine Chance, Hör- und Spielgewohnheiten zu hinterfragen und aufgrund der veränderten Tonhöhe und Saitenspannung neue klangliche Facetten an diesen Werken zu entdecken.

Bachs Lehrmeister?

Wie konnte ein angehender junger Komponist der Barockzeit, auch wenn er Bach heisst, Anregungen von anderen Meistern und Stilen seines europäischen Umfelds aufnehmen, ohne je weiter als von Arnstadt nach Lübeck oder Hamburg gereist zu sein und ohne je für längere Zeit einen wirklichen Lehrer gehabt zu haben? Diese Frage hat die Bachbiographen schon früh beschäftigt. Bereits Carl Philipp Emanuel weist im Nekrolog daraufhin, dass Bach sich in seiner Jugend viele Stücke aus einem Clavierbuch seines Bruders Johann Christoph nächtens abgeschrieben und zahlreiche Partituren als stumme Lehrmeister verwendet hatte. Dennoch halten wir gerne fest an unserem Bild eines genialen Komponisten, der seinen Stil selbstständig und frei von äusseren Einflüssen in seiner Studierstube entwickelt. Erst die ausführlichen Forschungen von Jean-Claude Zehnder (2009) haben deutlich gemacht, wie Bach gerade in den frühen Jahren enorm viele Impulse seiner Kollegen aufgenommen hat und so nach und nach seinen eigenen Personalstil bilden konnte. Dabei spielen insbesondere die Auseinandersetzungen mit italienischen Modellen (Albinoni, Torelli, Corelli, der Triosatz und der Concerto-Typ) eine grosse Rolle.

Mit Tommaso Albinoni (1671-1751), dem "vortrefflichen Componisten und Violonisten" (J.G. Walther) hat Bach sich immer wieder auseinandergesetzt: Überliefert sind seine Abschrift des Concerto à 5 (Venedig 1700), der Continuo-Stimme von op. II, 2 und die Sonate a-moll op VI, 6, die Bach im Generalbassunterricht mit seinem Schüler Heinrich Nikolaus Gerber bearbeitete. Albinonis 1694 in Venedig erschienenen Triosonaten op. I dienten Bach gleich mehrfach als thematische Fundgrube für die Cembalo-Fugen BWV 946, 950, und 951. Aus dem dritten Satz der A-Dur-Sonate Nr. 3 entnimmt Bach zudem das chromatische Hauptthema "Nach dir, Herr, verlanget mich".

   

 

Nach dir, Herr, verlanget mich

Die älteste erhaltene Quelle dieser Kantate stammt von 1755 und ist eine Abschrift des Bachschülers Christian Friedrich Penzel. In der früheren Bachforschung war die Echtheit dieser Kantate umstritten. Jüngste Untersuchungen (Glöckner 2000, Zehnder 2009) machen aber immer wahrscheinlicher, dass es sich nicht nur um eine originale Komposition Bachs handelt, sondern vielleicht sogar um die früheste Kantate aus seiner Feder (um 1706?).

Der Text des unbekannten Textdichters ist eine Zusammenstellung von Bibelwort (Psalm 25) und freier Dichtung. Im Unterschied zu späteren Kantaten wird der Chor fast pausenlos eingesetzt, während Rezitative oder Choräle völlig fehlen. Die Sinfonie folgt dem von Corelli und Albinoni bekannten Vorbild eines langsamen Einleitungssatzes einer Sonata à 3 . Gerade der Verzicht auf die zwischen den beiden Oberstimmen und dem Basso Continuo vermittelnden Bratschen-Stimme zeigt, dass Bach in diesem Fall nicht der mitteldeutschen Kantaten- oder Motettenform nacheifert, sondern italienischen Modellen. Aus der Sicht des folgenden Textaffektes wirkt die Wahl dieser "kargen" Kompositionsform verbunden mit der absteigenden Chromatik als klangbildlicher Ausdruck des Verlangens. So wie sich die Stimmen aneinander reiben und vorwärts drängen, drängt es die Seele nach Gott. Dergestalt vorbereitet setzt der Chor mit einem fugierten chromatischen Thema (Satz 2) ein, in welchem gerade die beiden Anfangsworte "Nach dir" durch das Intervall einer aufsteigenden Okave besonders expressiv erklingen. Die Streicher kommentieren und unterstreichen die gebetsartige Aussage, die schliesslich in dem fragend-bittenden Ausruf "Mein Gott" gipfelt. Von hier an kann man in der Kompositionsart Einflüsse von Buxtehude und Johann Christoph oder Johann Michael Bach erkennen. Auffällig sind jedoch die schnellen Wechsel der verschiedenen Textaffekte, von Bach durch häufige Tempowechsel deutlich gemacht. In der nachfolgenden einzigen Soloarie (Satz 3) entwickelt Bach aus einem kurzen auftaktigen Motiv das ganze Stück; dabei verstärkt der ständig präsente Anapäst -Rhythmus (kurz-kurz-lang) und eine quasi-ostinate Bassführung die erste Aussage: Trotz aller Widerwärtigkeiten des Lebens bleibe ich vergnügt. Die beiden Chorsätze (4 und 6) sprechen durch ihre ganz nach dem Affekt der Worte komponierten Zeilenabschnitte in ihrem Wechsel zwischen homophonen, bewegten und fugierten Abschnitten eine klare Sprache. Sie werden unterbrochen von einem hübschen Terzett mit Begleitung durch zwei Bassstimmen, deren eine, einfache, dem Fagott zugeordnete ist, während das Cello die diminuierte Stimme übernimmt. Auch hier ist die affektlich-textliche Zuordnung ganz klar: Die ruhigen Zedern als Symbol für rechtschaffene Menschen (Gesangsstimmen) werden von den Winden als Bild für die Feinde (bewegte Bassstimme) regelrecht bedrängt. Besondere Beachtung verdient die Fuge in Satz 6, "denn er wird meinen Fuss aus dem Netze ziehen": Zu dem Hauptthema treten hier immer 2-3 stets gleichbleibende Gegenthemen. Mit dieser Technik, einer Permutationsfuge , die hier zum erstenmal im Bachschen Oeuvre auftritt, knüpft Bach sinnbildlich ein dichtes Netz, aus dem nur der Herr erretten kann. Den Abschluss (Satz 7) bildet eine eindrückliche Ciacona über ein viertaktiges Bassthema, das auf fünf verschiedenen Bassstufen insgesamt 22mal erklingt. Dabei wird ein Kreuzweg durchschritten, von den Leidentagen (in h-Moll) zur Freude (D-Dur), auf den Dornenwegen (fis-Moll), mit Gottes Schutz (A-Dur), gegen "Menschentrutz" (E-Dur) zum Sieg mit Christus (h-Moll).

Hommage an Pachelbel?

Das Thema des Schlusssatzes der Kantate 150 erinnert an ein Ciacona-Thema von Johann Pachelbel (d-Moll). Der Erfurter Organist stand in freundschaftlichem Kontakt mit der Familie Bach; an mehreren Werken Johann Sebastian Bachs kann man beobachten, dass dieser Pachelbel sehr geschätzt haben muss. Pachelbel starb 1706. Der Bachforscher Yoshitake Kobayashi vermutet, dass die auffällige Übereinstimmung dieser Ciaconathemen   und ihre ähnliche figurative Verarbeitung vielleicht kein Zufall sei, sondern eine bewusste Hommage Bachs an Pachelbel sein könnte (Zehnder 2009). Wie dem auch sei, ostinate Formen lagen um 1700 in der mitteldeutschen (Pachelbel) und norddeutschen Luft (Buxtehude) und müssen auf den jungen Bach wie auch auf uns heute eine grosse Faszination ausgeübt haben. Von hier aus kann man eine Linie ziehen zur Passacaglia für Orgel, dem Crucifixus der h-Moll-Messe bis zu den Goldbergvariationen.

 

 

 

 

Blatt 1r  der Partiturabschrift C. F. Penzels,
Staatsbibliothek zu Berlin, Preussischer Kulturbesitz, Mus. ms. Bach P 1044

 

Der Herr denket an uns

Textgrundlage für die Kantate BWV 196 bildet der Psalm 115, 12-15. Dieser Text und die einzig erhaltene, nichtautographe Partiturabschrift aus der Mitte der 1730er Jahre bieten entgegen der Vermutung Spittas und der Einteilung der Neuen Bachausgabe zu wenig Hinweis darauf, dass die Kantate eine Trauungskantate sein sollte, zudem fehlen äussere Ansatzpunkte für die Datierung. Aktuelle Bachforschungen sehen in dieser Kantate ein Werk der frühen Weimarer Zeit (um 1709?), wobei die Bestimmung weiterhin unklar bleibt.

Wie BWV 150 ist auch diese Kantate vornehmlich ein Chorstück mit nur einer Soloarie, ebenfalls für Sopran, ohne Rezitativ oder Choral. Sie spiegelt in ihrer festlich-heiteren Art die göttlich-priesterliche Geste des Segnens wider. Anders als in BWV 150 verwendet Bach hier nun den vollen vierstimmigen Streichersatz mit zusätzlichem Continuo. Schon die vorangestellte Sinfonia zeigt, dass es nicht um Verlangen, sondern um Fülle und Erfüllung geht. Über einem stabilen Andante-Bass entfalten punktierte Rhythmen in den vier Streichern ein dichtes Geflecht mit Elementen eines italienischen Konzertsatzes. Dieses Stück hat viele Ähnlichkeiten mit Bachs Weimarer Antrittswerk als Konzertmeister, der Kantate "Himmelskönig sei willkommen" (BWV 182). Im folgenden Chorsatz begegnet uns wieder eine Permutationsfuge. Dabei setzt Bach die Instrumentalstimmen teils blockartig wie Blechbläser zur Kadenzverstärkung ein, teils als zusätzliche Chorstimmen und erweitert so die Vierstimmigkeit bis zur Sechsstimmigkeit. Nach einer kurzen Devisenarie , in der man eine frühe Auseinandersetzung Bachs mit der Da-Capo-Form sehen kann, folgt ein Duett mit Streicherbegleitung. Wieder hören wir ein quasi-ostinates Bassmodell. Die aufsteigenden Stimmen zeichnen mittels der musikalisch-rhetorischen Figur der multiplicatio die vermehrende Kraft des Segens. Die Struktur des Streichersatzes wechselt hierbei von längeren Zeilenvorspielen bis hin zu kurzen, die Vokalaussagen wiederholenden Einwürfen. Der Schlusssatz besteht aus zwei Teilen: (a) der letzte Psalmvers wird in einem homophonen Chorsatz dargestellt, umspielt von dicht diminuierenden Streichern; (b) nahtlos schliesst die Amen-Fuge an mit einem verspielten und unterbrochenen Thema. Mit dessen Keimzelle von vier Noten spielt Bach in verschiedensten Formen bis hin zu einer finalen Steigerung und überraschendem Piano-Ende.

Jörg-Andreas Bötticher