Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Zur Einführung

Johann Sebastian Bachs Kantaten zum 3. Sonntag nach Epiphanias, "Was mein Gott will, das gscheh' allzeit" BWV 111 und "Herr, wie Du willt, so schicks mit mir" BWV 73 verbindet bei allen kompositorischen und strukturellen Unterschieden das dominierende Motiv der Ergebung in Gottes Willen bis in den Tod und darüber hinaus. Bei freier Auslegung des Sonntagsevangeliums (Matth. 8, 1-13) und unter Hinzuziehung weiterer biblischer Beispielgeschichten wird in beiden Libretti demonstriert, wie die widerstreitenden Bestrebungen der "kranken" menschlichen Seele, die in anrührendem Realismus als "bald trotzig, bald verzagt" geschildert wird, im Vertrauen auf die liebende Zusage des Höchsten zur Ruhe gebracht und damit, wenn schon nicht gestillt, so doch getröstet werden können.

Die als Teil des sogenannten "Choralkantatenjahrganges" zum 21. Januar 1725 entstandene Kantate BWV 111 erscheint als die auf den ersten Blick konventionellere Anlage, da sie relativ strikt dem Muster der neueren gemischten Kantatenform folgt. Ein aus dem Choraltext - in diesem Fall ein Lied (1547) des zur Reformation übergetretenen letzten Hochmeisters des Deutschen Ordens und ersten Herzogs von Preußen, Albrecht I. - entwickelter konzertanter Eingangschor und ein schlichter Kantionalsatz zum Beschluß umrahmen vier frei gedichtete Binnensätze, die alle solistischen Stimmlagen in unterschiedlichen Kombinationen einbeziehen. Die Rezitative folgen einmal dem Secco- und einmal dem Accompagnato-Typus; eine der beiden Arien ist ein Duett. Auch die Besetzung - vier Singstimmen, 2 Oboen, Streicher und Basso Continuo - bietet das für Bachs Leipziger Kantaten übliche Bild.

In der musikalischen Ausgestaltung dieser typisierten Vorlage ist Bach jedoch zu einer überzeugenden und teilweise auch überraschenden Vertonung gelangt. Ihr Eingangschor gibt sich als schlagkräftige Choralbearbeitung, die offenkundig vor allem die mit dem Liedtext verbundenen Aspekte der Anfechtung und Hilfe aus großer (Seelen-)Not aufgreift und dabei das bereits von der ersten Liedzeile melodisch verkörperte "Heraufkämpfen" dem gesamten Satzentwurf zugrundelegt. Der Instrumentalsatz ist dabei als konzertantes Duettieren der Streicher und Oboen mit- und gegeneinander angelegt; die Viola ist hingegen streckenweise auch dem Continuo zugeordnet, den sie akkordisch ausfüllen hilft. In seiner Behandlung des musikalischen Materials geht Bach mit gewohnter Effizienz vor: das einander entgegengesetzte Repetieren der ersten beiden Instrumentaltakte geht rasch in eine abwärtsgerichtete Sequenz im Baß und danach in einen durchbrochenen Orgelpunkt mit darüberliegenden Motivketten der Violinen und Oboen über, zu denen im Continuo später noch eine arbeitsame und für Concerto-Sätze typische daktylische Figur tritt. Insbesondere die Generalbaßstimme beruht auf der konstanten Abwechselung weniger einprägsamer Modellkerne - es ist diese "modulare" und dabei überwiegend absteigend gehaltene Faktur des Orchestersatzes, die diesen so mitreißend, aber auch unerbittlich macht. Die in ihn eingearbeiteten Vokalstimmen orientieren sich am für Bachs Choralkantaten typischen Muster: der in breiten Werten dem Sopran anvertraute Cantus firmus wird teils von Vorimitationen der Unterstimmen eingeleitet, teils von deren Akkordsatz getragen. Daß die Choralzeilen des Chores fast durchgängig von rasanten Unisono-Gängen der beiden Violinen und der Viola begleitet werden, unterstreicht die Atmosphäre des tosenden Glaubensstreites, könnte jedoch auch auf den dreieinigen Charakter des helfenden Gottes hindeuten.

In stärkstem Kontrast dazu steht die folgende Baßarie, die allein vom Continuo begleitet wird. Dessen sprechendes Ritornell enthält zahlreiche Pausen, die von der Textfigur des "Entsetzens" inspiriert scheinen. Wie oft bei Bach führt die Reduktion auf eine bloß zweistimmige Anlage zu einer besonders dichten Struktur, die weitgehend den Charakter einer Invention für zwei tiefe gleiche Stimmen annimmt, die ihren instrumentalen Charakter besonders im ausgedehnten Melisma auf "widerstreben" ausleben kann. Das folgende Alt-Rezitativ ist trotz seiner Kürze ein sowohl musikalisch als auch theologisch gewichtiger Satz. Weite Sprünge, Querstände und "falsche" Intervalle illustrieren das Bemühen , sich Gottes Ratschluß zu entziehen - ein Versuch, der vom Libretto zugleich als frevlerisch wie als töricht gegenüber einem Gott geschildert wird, "der unsers Hauptes Haar gezählet" hat und dem selbst "unser Denken ... offenbar" ist.

Von der daraus abgeleiteten Entschlossenheit scheint auch die folgende Arie geprägt zu sein, die mit ihrem auftaktigen Dreiermetrum den Eindruck einer zielbewußten Bewegung hervorruft. Doch hat Bach seine Vorlage offenbar sehr genau studiert und deshalb die bereits in der Devise des A-Teils "So geh ich mit beherzten Schritten, auch wenn mich Gott zum Grabe führt" enthaltene starke inhaltliche Spannung zum Angelpunkt seiner Vertonung gemacht. Der fast tänzerisch nach oben - also zum Himmel hin - gerichtete Streichersatz wird daher von gedämpft dynamisierten und lastenden Orgelpunkten sowie abwärtsführenden Tonfolgen im Continuo ausbalanciert, die eindeutig auf die Dimension des "Grabes" und "Schlafes" oder zumindest auf ihre Imagination im Herzen des Beters verweisen: ohne den Tod und die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Sterbens sind Himmel und Ewigkeit nicht zu haben. Daß die beiden Solisten Alt und Tenor zwischen dem hohen aufstrebenden Streichersatz und dem tiefen Grabestönen des Continuo förmlich eingeklemmt sind, macht diese doppelte Begrenztheit aller menschlichen Existenz augen- und ohrenfällig. Noch in der Schlußsequenz, in der die in höchste Höhen enteilende erste Violine dem ruhenden Baß in geradezu exemplarischer Weise entgegentritt, werden diese unwandelbaren Koordinaten festgeschrieben. Demgegenüber wird der Mittelteil "Gott hat die Tage aufgeschrieben" zunächst eher melismatisch aufgelockert, wobei die sparsamen Interventionen der Streicher wie eine dezente Erinnerung wirken, in allem Freud und Leid an der Ergebung in den göttlichen Willen nicht nachzulassen.

Das folgende Sopranrezitativ ist ungewöhnlicherweise mit zwei obligaten Oboen besetzt. Was zunächst eine pastorale Szenerie anzudeuten scheint, erweist sich in den letzten tremolierenden Adagio-Takten als Sinnbild der Totenglocke und des "seligen, gewünschten Endes" - eine mit robusten Concerto-Klängen eröffnete Kantate geht damit in still singender Weise zu Ende. Der abschließende Choralsatz nimmt diesen ernsten Ton auf, objektiviert ihn jedoch zum Gesang der ganzen versammelten Gemeinde.

Daß es sich bei unserer Kantate um ein geschätztes Kirchenstück gehandelt haben muß, wird durch eine recht große Zahl von Abschriften des späteren 18. und frühen 19. Jahrhunderts sowie durch einige Eigenheiten ihrer Überlieferungsgeschichte nahegelegt. So deuten einige von dem Oelsnitzer Kantor Johann Gottlob Nacke angefertigte Ergänzugsstimmen auf eine dortige Aufführung lange nach Bachs Tod. Daß im ansonsten in Leipzig ganz überwiegend erhaltenen Bestand der Originalstimmen zu Bachs "Choralkantatenjahrgang" die Partien zu BWV 111 fehlen, könnte ebenfalls auf eine auswärtige Benutzung während oder nach Bachs Lebenszeit verweisen. Wichtigste Quelle des musikalischen Textes der Kantate ist daher die heute in Krakau verwahrte Originalpartitur.  



Zu Bachs erstem Leipziger Jahrgang gehört die Kantate BWV 73 . Laut dem ausnahmsweise erhaltenen originalen Librettodruck Texte / Zur Leipziger / Kirchen-Music, / Auf den / Andern, dritten, vierdten Sonntage / Nach der Erscheinung Christi, / Das / Fest Mariae Reinigung / Und die Sonntage / Septuagesimae, Sexagesimae, / Esto Mihi, / Ingleichen / Auf das Fest / der Verkündigung Mariae, /1724. / Leipzig, / Gedruckt bey Immanuel Tietzen erklang sie erstmals am 23. Januar 1724 in der Leipziger Nikolaikirche. Verglichen mit BWV 111 handelt es sich um eine stärker unregelmäßige und experimentelle Kantate, die mit ihren knappen und höchst ausdrucksstarken Formen wie eine fein gezeichnete Miniatur wirkt. Gleich mehrere Sätze des Werkes sind von devisenartigen Motiven geprägt. So ist eine das Orchestermaterial des gesamten Eingangschores durchziehende Viertongruppe kaum anders denn als (zunächst) textlose Formulierung des "Herr, wie Du willt!" zu verstehen, eine Vermutung, die durch das dreimalige Aufgreifen der nun textierten Figur durch den Chor am Ende des Satzes bestätigt wird. Das gehäufte Auftreten von Staccato-Vorschriften im Streichersatz scheint dem förmlichen "Einhämmern" dieser Glaubensvorschrift zu dienen, wobei eine sparsam eingesetzte "Corno"-Stimme zur weiteren Bekräftigung dient. Dabei handelt es sich um eine Partie, die in einer späteren Leipziger Wiederaufführung mittels einer von Bach selbst geschriebenen Ergänzungsstimme für "Organo obbligato" umgewidmet wurde. Ausbalanciert wird der kantige Charakter des Orchestersatzes allein durch die beiden Oboen, die mit ihren lieblichen gebundenen Terzgängen dem göttlichen Gebot gewissermaßen die Strenge nehmen.

Für den Chorsatz haben Bach und sein Librettist hingegen das Verfahren der Choraltropierung gewählt. Jeder der zwei bzw. dreizeiligen Textblöcke des auf die Melodie von "Wo Gott der Herr nicht bei uns hält" gesungenen Liedes von Kaspar Bienemann (1582) wird daher von einer im Arioso gehaltenen solistischen Reflexion abgelöst, die in spannungsvoller Weise die "objektiven" Textaussagen des Chorals auf die konfliktreiche Lebenswelt des Menschen nicht nur des 18. Jahrhunderts zu beziehen versucht. Allenthalben behält jedoch das hämmernde "Wie Du willt"-Motiv das letzte Wort.

Im folgenden Arientrio "Ach senke doch den Geist der Freuden" scheint hingegen die erste Oboe die ihr im Eingangschor übertragene melodische Linienführung direkt fortsetzen zu wollen, ein Gestus, der von der Singstimme übernommen und vom Continuo dezent gestütz wird. Der trotz aller Koloraturen verhaltene Gestus der Musik, die Seufzer des Mittelteils und die etwas entrückte Tonart Es-Dur lassen allerdings deutlich werden, daß es hier weniger um irdische Erquickungen denn um die aus der Erkenntnis des Unvermeidlichen resultierende Gelassenheit geht.

Das mit einer heftigen tonalen Rückung und einer Exclamatio auf "Ach!" beginnende und betont predigthafte Rezitativ zeichnet zunächst nochmals das haltlose Schwanken des menschlichen Willens nach, wobei Bach das Schlüsselwort "verkehrt" zu einer musikalischen Pointe anregte, die in der "Verkehrung" der zwischen Continuo und Baß bestehenden harmonischen Spannung "H-as" des ersten Akkordes in ein "as-H" zu Beginn des zweiten Taktes besteht. Mit dem Hinzutreten der Streicher und dem direkten Übergang zur folgeden Arie erweist sich dieses Rezitativ nachträglich nicht als eigenständiger Satz, sondern als Redeeinleitung hin zu einer musikalischen Form, die sich als "litaneiartig" oder als "Dictums-Tropus" nur sehr unvollkommen beschreiben läßt. Ausgehend vom nicht weniger als 16-mal wiederholten Wort "Herr, so Du willt" werden hier die bereits in Kantate 111 angesprochenen Bezüge zu Sterbensbejahung und Todesüberwindung in besonders subjektiver Weise thematisiert. Der kontrapunktisch dichte und dabei zugleich freie wie mit seinen Seufzern und dynamischen Kontrasten höchst ausdrucksintensive Satz der Streicher und des Continuo umschließt dabei eine anrührende Kantilene des Basses, in der der Solist - begleitet vom Pizzicato-Läuten der Saiteninstrumente - stellenweise sein eigenes Requiem zu singen scheint. Bach hat mit diesem glaubensfesten Schwanengesang ein klingendes Bild des "Loslassen-Könnens" vorgeschlagen, das gewiß manche seiner Zuhörer zu trösten vermochte und noch immer vermag. Der darauffolgende c-Moll-Choral "Das ist des Vaters Wille" wirkt deshalb gerade in seiner Schlichtheit und seinen zurückhaltenden Akzenten ungemein sanft und zärtlich.

Anders als bei BWV 111 ist in unserem Fall die Partitur verschollen, wohingegen die über Carl Philipp Emanuel Bach vererbten und später via Singakademie-Besitz in die Königliche Bibliothek (heute: Staatsbibliothek) zu Berlin gelangten Originalstimmen überwiegend erhalten sind. Eine Abschrift von der Hand Carl Gotthelf Gerlachs und des Bachschen Hauptkopisten Meißner deutet auf eine frühe Benutzung des Werkes im Gottesdienst auch der Leipziger Neukirche.



Das großangelegte Satzpaar Präludium und Fuge h-Moll BWV 544 wird zu den wenigen freien Orgelwerken des Meisters gerechnet, deren Entstehung bis in Bachs Leipziger Lebensphase hineinreicht und das überdies in einer - zwischen 1727 und 1731 anzusetzenden - autographen Niederschrift überliefert ist. In etwas romantisierender Sicht wiederholt als Komposition mit ausgemacht "tragischem" Charakter bezeichnet, weist das Stück mit seinem ausgreifenden harmonischen und strukturellen Bauplan und seiner affektmäßigen Tiefe wie die Schwesterwerke in c-Moll, C-Dur, e-Moll und Es-Dur (BWV 546-48 und 551) alle Merkmale von Bachs reifer Meisterschaft auf. Insbesondere die für Bachs entwickeltes Kantatenschaffen typische Verbindung unterschiedlicher Gattungen und Vorbilder wie Ouvertüre, Konzert, Fuge und Toccata findet sich in diesen für zwei Manuale und in jeder Hinsicht eigenständiges Pedal gesetzten Orgelwerken perfekt verwirklicht. Nicht zufällig ist für diese Werkgruppe der weit über den Orgelbarock hinausweisende Begriff "zweisätzige Orgelsinfonien" geprägt worden, der vor allem auf die hochorganisierten und zielstrebigen Entwicklungsmomente der Stücke deutet, die sich sowohl vom vielteilig-kreisenden Präludieren auch vom stärker handwerksmäßigen Fugieren der Generationen vor Bach deutlich unterscheiden.

Die Verwendung von in weiträumige Melodiebögen einbezogenen rhythmisch intrikaten und synkopenreichen Gesten verweist auf Bachs spätere Kammermusik und läßt sich in gewisser Weise als polyphone Antwort auf die Herausforderung des von "galanten" und "linear-leidenschaftlichen" Momenten geprägten Stilwandels in der Musik nach 1725/30 verstehen. Das Präludium in h-Moll erinnert mit seinem punktierten Beginn zunächst entfernt an dasjenige in Es-Dur BWV 551/, weist im Fortgang jedoch stärker concertohafte Momente auf, die insbesondere den wiederholt aufgesparten Pedaleinsätzen Züge eines frei an der Entwicklung beteiligten Ritornells verleihen. Auch das Notenbild gerade dieses ersten Teilsatzes erinnert mit seinen durchgängig kleinen Notenwerten und seiner leidenschaftlichen Virtuosität eher an eine zukunftsweisende "freie Fantasie" oder an die Eingangssätze von Bachs "englischen" Claviersuiten denn an ein orgelmäßiges "Präludium" älteren Stils. Dagegen eignet der folgenden Fuge mit ihrem allein auf Tonschritten in Gegenbewegung beruhenden Thema eine ungewöhnliche Klarheit, Regelmäßigkeit und Durchhörbarkeit, mit der sich sich die spielfreudigen und erneut konzertmäßigen Bestandteile vorteilhaft verbinden. Gilles Cantagrels kürzlich geäußerte Ansicht, BWV 544 sei von Bach zur Leipziger Trauerfeier für Königin Christiane Eberhardine von Sachsen-Polen am 17. Oktober 1727 komponiert und dabei höchstpersönlich gespielt worden, ist als These zur ungeklärten Entstehungsgeeschichte des Werkes zwar reizvoll. Sie entbehrt über die tonartliche Verwandtschaft zur beim gleichen Anlaß gespielten "Trauerode" BVW 198 hinaus jedoch bisher der faktenmäßigen Abstützung.

Anselm Hartinger (SCB)