Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
BWV 122
Das neugeborne Kindelein
 
BWV 16
Herr Gott, dich loben wir
 
   
   

Die Choralkantate BWV 122 Das neugeborne Kindelein gehört auf den Sonntag nach Weihnachten. Ob es diesen Sonntag in einem Kalenderjahr gibt, hängt davon ab, auf welche Tage der vorangehenden Woche das dreiteilige Weihnachtsfest fällt, d.h. ob zwischen Weihnachten und Neujahr überhaupt ein Sonntag zu liegen kommt. Wenn dem so ist, so wird an ihm als Evangelium ein Ausschnitt aus der Kindheitsgeschichte Jesu gelesen, und zwar die zweite Hälfte der Geschichte von der Darstellung Jesu im Tempel mit den Worten des greisen Simeon zu Maria über die Zukunft des Jesuskindes und mit der Voraussage der Prophetin Hanna, dass dieses Kind der Erlöser der Welt sein werde (Lukas 2, 33-40). Die Nähe der beiden Feste Weihnachten und Neujahr brachte es aber mit sich, dass am dazwischen liegenden Sonntag auch von der Geburt Jesu und / oder von der bevorstehenden Jahreswende die Rede sein konnte. In der Kantate BWV 122, die am 31. Dezember 1724 innerhalb des Choralkantatenjahrgangs zum ersten Mal in Leipzig aufgeführt wurde, ist eine Verbindung aller Gedanken anzutreffen. Das ihr zugrunde liegende, nur vier Strophen umfassende Lied von Cyriacus Schneegass (1546-1597), das im Schemelli-Gesangbuch bei den Neujahrsliedern eingeordnet ist, feiert nach alter Tradition Weihnachten und Neujahr in eins. Es gab ja in der Vergangenheit zeitweise den Brauch, das Jahr an Weihnachten beginnen zu lassen, aber hinter dem Text von Schneegass steckt wohl mehr, nämlich der Gedanke, dass an Weihnachten mit der Geburt Jesu nicht nur ein neues Jahr beginnt, sondern ein neues Zeitalter begonnen hat, das "rechte Jubeljahr", wie es in der letzten Strophe heisst.

Im Chorsatz Nr. 1 ist die erste Strophe des Liedes – wie bei den Choralkantaten üblich – in Wort und Ton beibehalten. Der vierstimmige Satz, bei dem die Melodie im Sopran liegt, während die übrigen Stimmen abschnittsweise mit dem rhythmisch verkürzten Zeilenbeginn einsetzen, wird in einen selbständigen Orchestersatz hinein gesungen. Albert Schweitzer fühlte sich durch ihn an ein Wiegenlied erinnert. Der Bassarie Nr. 2 und dem Sopranrezitativ Nr. 3 liegt die zweite Strophe des Liedes von Schneegass zugrunde. In ihr treten die Engel auf, von denen es im Anschluss an die biblische Geschichte von den Hirten auf dem Feld heisst: "Sie singen in den Lüften frei, dass Gott mit uns versöhnet sei". In der Bassarie ist daraus das "jubilierende Geschrei" der Engel geworden. Geschrei ist hier aber nicht im Sinn von Lärm zu verstehen, sondern als eine der Möglichkeiten, das Wort Evangelium zu übersetzen, wie dies Luther in seiner Vorrede zum Neuen Testament vorgeschlagen hat: "Evangelium heisst auf Deutsch gute Botschaft, gute Mähr, gute neue Zeitung, gut Geschrei, davon man singet, saget und fröhlich ist." Die Erwähnung der Engel in der Weihnachtsgeschichte und im Lied von Schneegass findet im Rezitativ Nr. 3 insofern eine Erweiterung, als der Kantatendichter in diesem Zusammenhang an den Sündenfall und an die Austreibung aus dem Paradies denkt. Damals wurden Adam und Eva aus der Gemeinschaft der Engel verstossen, und der Eingang zum Paradies wird seither durch die Cherubim mit dem blossen hauenden Schwert bewacht. Nun aber ist Gott selbst auf Erden gegenwärtig geworden, "die gewünschte Zeit im neuen Bund" (Jeremia 31,31) ist angebrochen, wofür Gott "mit vollem Munde" zu danken ist. Es macht die Besonderheit dieses Rezitativs aus, dass in ihm die Choralmelodie zeilenweise vorgetragen wird, und zwar dreistimmig von drei Blockflöten, den höchsten Instrumenten des Bachorchesters. Es sind die Engel, die durch diesen wortlosen Jubilus ihrer Freude über die Versöhnung zwischen Gott und den Menschen Ausdruck verleihen. Der vierte Satz der Kantate ist ein Terzett für Sopran, Alt und Bass. Er steht im Sicilianorhythmus, den Albert Schweitzer als Engelrhythmus bezeichnet hat. Auch in diesem Satz erklingt der Choral als Cantus firmus, diesmal mit dem Text. Er liegt – von den Streichern unterstützt – im Alt. Die beiden andern Stimmen beziehen sich kommentierend auf den Choraltext, wobei sich bei der wichtigen Schlusszeile auch der Alt zu ihnen gesellt: "Gott ist mit uns und will uns schützen". Gott mit uns, das heisst auf Hebräisch: Immanuel, und das ist eben jener Name, den Jesus in Erfüllung alttestamentlicher Verheissungen nach Matthäus 1,23 erhalten hat.

Wenn man den gesamten Text der Kantate BWV 122 mit dem ihm zugrunde liegenden Lied vergleicht, so fällt auf, dass das Rezitativ Nr. 5 Gedanken und Formulierungen enthält, die als solche im Lied nicht vorkommen. Dabei drängt sich die Frage auf, ob sich die fünf mit einem "O" beginnenden Ausrufe nicht von Simeon her erklären liessen, von dem ja im Sonntagsevangelium die Rede ist. So ist für Simeon der Tag, an dem er das Jesuskind in den Armen hält, wirklich ein Tag, "den Gott gemacht hat" (Psalm 118, 24); denn nun ist die Zeit erfüllt, nun ist das gläubige Warten gestillt, nun darf der Glaube sein Ende, d.h. seine Erfüllung, sehen, nun hat die Liebe Gott – ganz real – zu sich gezogen. Darum gilt: "O Freudigkeit, so durch die Trübsal dringt und Gott der Lippen Opfer bringt." Bach hat diesen stark emotionalen Text für die Bassstimme gesetzt. Es ist kein eigentliches Arioso, aber es kommt mit seinen Gesangsmelismen und mit der Bewegtheit der Streicherbegleitung stets nahe daran heran. Da es ohne Bindung an die Choralmelodie ist, kann es als einziger Satz der Kantate im Gegensatz zu allen andern in Dur beginnen. Den Abschluss der Kantate bildet die vierstimmig gesetzte letzte Strophe des Liedes, mit welcher der Aufforderung, in der weihnachtlichen Singenszeit der Lippen Opfer zu bringen, Folge geleistet wird.

 

Das geschieht nun ebenfalls in der Neujahrskantate BWV 16 Herr Gott, dich loben wir. Ihr Text stammt vom Darmstädter Hofpoeten und Hofbibliothekar Georg Christian Lehms, dessen Kantatendichtungen mit dem Titel "Gottgefälliges Kirchenopffer" im Jahr 1711 gedruckt worden sind. Schon in Weimar hatte Bach einzelne Texte daraus vertont und dann wieder in Leipzig, und zwar besonders in seinem dritten Kantatenjahrgang von 1725/26. Dabei fällt auf, dass er jene Texte bevorzugt hat, die Lehms für die Nachmittags-Andachten verfasst hatte. Sie sind meist für eine Solostimme gedacht, und ein weiteres Merkmal ist, dass sie mehrheitlich ohne Schlusschoral auskommen. Zu diesen Kantaten gehört nun auch die am 1. Januar 1726 aufgeführte Kantate BWV 16, wobei in ihr  – wohl des festlichen Tages wegen – auch ein Chor mitwirkt. Dass ihr Inhalt nicht ausdrücklich auf das Festtagsevangelium des Neujahrstages von der Beschneidung und Namengebung Jesu aus Lukas 2, 21 eingeht, mag vielleicht mit ihrer ursprünglichen Stellung im Nachmittagsgottesdienst eine Erklärung finden.

Die Kantate beginnt mit einem Chorsatz über den Anfang des uralten ambrosianischen Hymnus "Te deum laudamus", den Martin Luther ins Deutsche übertragen hat: "Herr Gott, dich loben wir". Die Melodie liegt im Sopran und wird von einem Horn unterstützt, während die drei Stimmen Alt, Tenor und Bas sowie die erste Violine zusammen mit der ersten Oboe als vierte Stimme reiche kontrapunktische Arbeit leisten. Dazu kommt ein eigenständiger Generalbass mit einem durchgehenden rhythmischen Freudenmotiv. Auch im Secco-Rezitativ Nr. 2 für Bass geht es um Lob und Dank in der frohen Zeit des anbrechenden neuen Jahres, und zwar sowohl im Rückblick auf bereits erhaltene Wohltaten als auch für gegenwärtig gewährte Liebe und Treue. Der Text ist stark vom Wortlaut jener vielen alttestamentlichen Psalmen geprägt, die die festlichen Gottesdienste im Tempel von Jerusalem widerspiegeln und die zum Anstimmen eines neuen Liedes aufrufen. Im Wechsel zwischen der Bassstimme und dem Chor wird diesem Aufruf im Satz Nr. 3 "Lasst uns jauchzen, lasst uns freuen" Folge geleistet. Es ist Festmusik par excellence, wobei das Exzellente daran gerade auch die ungewöhnliche Form der Komposition mit ihrer Mischung von Chorsatz und Soloarie ist. Nach dem strahlenden Beginn der Kantate wird mit dem Secco-Rezitativ Nr. 4 für Alt eine Wendung in einen intimeren Bereich vollzogen. Im Blick auf die Zukunft wird "der treue Hort" um ferneren Schutz gebeten, um die Erhaltung des Friedens und der beliebten Ruh, wobei speziell der dies alles störende Satan erwähnt wird. Gebeten wird Gott auch um die Wässerung und stetige Verbesserung des Landes. Auch dieser Bezug zur Natur ist ein häufiges Anliegen der Psalmen, in denen Gott als Schöpfer und Erhalter der Welt in besonderer Weise verehrt wird. Aber nun taucht am Ende des Rezitativs fast überraschend auch der Jesusname auf: "Wohl uns! Wenn wir dir für und für, mein Jesus und mein Heil, vertrauen." Dies hängt mit dem Evangelium des Neujahrstages von der Beschneidung und Namengebung Jesu zusammen, auf das hier wie in vielen anderen Neujahrstexten Bezug genommen wird. Man denke als Beispiel nur an den vierten Teil des Weihnachtsoratoriums von Bach, dessen Inhalt ausschliesslich um die rettende und selig machende Bedeutung des Jesusnamens kreist. Auch in der Kantate BWV 16 erfolgt diese Hinwendung zu Jesus. "Geliebter Jesu, du allein sollst meiner Seele Reichtum sein", heisst es in der Tenorarie Nr. 5. In ihr spielt eine Oboe da caccia mit, die Bach bei einer späteren Aufführung durch eine "Violetta" ersetzt hat, d.h. durch eine Bratsche oder eine Diskantgambe. Alfred Dürr meinte zu dieser Änderung, dass der Klang eines Streichinstrumentes dem innigen, intimen Charakter der Arie sehr entgegen komme. Die Arie ist als Da capo-Arie komponiert. Da aber ihr Anfang: "Geliebter Jesu, du allein sollst meine Seelen Reichtum sein" am Schluss als letztes Wort eines Sterbenden gesprochen wird, lässt Bach folgerichtig das Orchesterritornell zu Beginn des Da capo-Teils weg. Auf diese Weise hat er dem Doppelpunkt auf musikalische Weise Gestalt gegeben. Im Gegensatz zu Lehms Vorlage endet die Kantate in Bachs Vertonung mit einem Choral. Es ist die Schlussstrophe: "All solch dein Güt wir preisen" des Neujahreslieds von Paul Eber: "Helft mir Gotts Güte preisen, ihr lieben Kinderlein". Sie hat zwar schon zwei Tage vorher den Abschluss der Kantate BWV 28 "Gottlob! Nun geht das Jahr zu Ende" gebildet. Bach verwendet aber nicht zweimal hinter einander den gleichen vierstimmigen Satz, wobei es auffällig ist, dass in der Kantate BWV 16 eher mehr Reibungen vorhanden sind als in der Kantate BWV 28. So wird z. Bsp. das Wort "Leid" in der Zeile: "vor allem Leid bewahre" durch einen Septakkord hervorgehoben. Dadurch wird aber auch die Bitte um Bewahrung davor verstärkt.

 

Helene Werthemann