Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     
     

Es war Weihnachten, das höchste Fest der Christenheit, für das Johann Sebastian Bach die beiden Kantaten "Christen, ätzet diesen Tag" (BWV 63) und "Gelobet seist du, Jesu Christ" (BWV 91) schrieb. "Christen, ätzet diesen Tag" konnten die Leipziger am ersten Weihnachtsfeiertag 1723 gleich drei Mal hören: Morgens um 7.00 Uhr in St. Thomas, um 9.00 Uhr in der Universitätskirche und zum Vespergottesdienst - nun zusammen mit dem Magnificat - in St. Nicolai.   "Gelobet seist du, Jesu Christ" folgte ein Jahr später, am 25. Dezember 1724. Beide Kantaten beendeten das "tempus clausum", die Wochen zwischen dem ersten Adventssonntag und dem ersten Weihnachtsfeiertag, die in Leipzig der besinnlichen Vorbereitung auf das Weihnachtsfest galten und in denen es keine kirchliche Figuralmusik gab. Nach dieser stillen Zeit mögen am ersten Weihnachtsfeiertag Bachs Kantatenwerke mit ihren fulminanten Chören und ihrer reichen Instrumentation den Gläubigen die Ohren haben klingen lassen.

Gelobet seist du, Jesu Christ (BWV 91)

Die Weihnachtskantate BWV 91 gehört dem für Bachs zweiten Kantatenjahrgang charakteristischen Typus der Choralkantate an: Grundlage des Librettos ist ein Choral aus dem Gesangbuch, der dem aktuellen Sonntag im Kirchenjahr zugewiesen ist und dessen Anfangs- und Schluss-Strophe im Wortlaut als erster und letzter Satz erscheinen, während der Autor des Textes die Mittelstrophen frei paraphrasiert oder seine Dichtung mit Zitaten aus dem Choraltext durchwirkt. Eine der möglichen "Liedperikopen" zum 25. Dezember war der Weihnachtschoral "Gelobet seist du, Jesu Christ" von Martin Luther, dessen erste Strophe in einem vorreformatorischen Andachtsbuch des 14. Jahrhunderts überliefert ist und dessen niederdeutsche Fassung so lautet:

Ghelouet sistu, Ihesu Crist,
dat du hute boren bist
van eyner maghet, dat js war,
des vrowet sik alle de hemmelsche scar,
kryoleis.

Martin Luther "übersetzte" diesen Vers, dichtete sechs weitere Strophen hinzu und ließ den Text 1524 in Johann Walters Chorgesangbuch veröffentlichen. Bachs ungenannter Librettist beließ die erste Strophe des Chorals unverändert, umrankte die Luther-Verse der zweiten mit um Gottes Glanz und Licht kreisenden Gedanken, paraphrasierte die dritte Strophe - der große Gott, der sich im kleinen Jesuskind zeigt - frei, erfand im vierten Satz einen Appell an die Christenheit, den Gottessohn würdig zu begrüßen, schmückte in Satz 5 Luthers Gedanken von der Armut, in der Gott sich den Menschen offenbart, aus und endete mit Luthers siebenter Strophe.

Bach schreibt mit zwei Hörnern, drei Oboen, Streichern, Pauken und Continuo für ein festlich besetztes Orchester, dem er gleich zu Beginn Einiges an Virtuosität abverlangte. Über einem in Terzen gehaltenen Ton der Hörner beginnt Oboe 1 mit einer raschen Aufwärtsskala, im Halbtaktabstand streng imitiert erst von Oboe 2, dann Oboe drei und den drei Streichern Violine 1, Violine 2 und Viola - insgesamt   sechs in rasantem Tempo einander folgende Einsätze. Gleich darauf beginnen die Hörner ein munter konzertierendes Spiel mit Bläsern und Streichern, das schließlich in den Sängerchor einmündet. Der ist getragen von der dem Sopran anvertrauten Choralmelodie, die von Alt, Tenor und Bass reich kontrapunktiert wird.

Im zweiten Satz musiziert der Sopran, begleitet vom Continuo, die frei gedichteten Texte rezitativisch, während er die Kirchenliedzeilen bei rhythmisch stets identischer Bassgestaltung der Choralmelodie folgen lässt - ein berührendes Nebeneinander von, wenn man so will, Kunststil und "Volkston".

Die folgende Tenorarie thematisiert nicht nur textlich, sondern auch musikalisch das Nebeneinander von "groß" und "klein": Die drei Oboen strahlen in ihrer Klangfülle, in der hohen Lage von Oboe 1 und in ihrer majestätisch punktierenden Rhythmik die das Weltall umspannende Größe Gottes aus, und gleichzeitig fangen die drei Bläser durch den wiegenden 3/4- Takt und das pastorale Timbre ihrer Instrumente die kleine Welt der "engen Krippe" ein.

In Satz vier berichtet der Bass vom liebreichen Christus, der seine Gläubigen auf Erden besucht, um sie in den Himmel zu führen - und dies, wie so oft bei Bach, wenn von Christus gesprochen wird, mit Begleitung der Saiteninstrumente als der Klangfarben, die der imaginierten Himmelsmusik, der "Musik der Engel", wohl am nächsten kommen. Freilich wird in arioser Satzgestaltung und mit ausgeprägtester Chromatik auch auf das Jammertal verwiesen, das auf dem Weg zum Himmelsthron für unsereinen vorher noch zu durchschreiten ist.

Auch die zweite Arie, das Duett von Sopran und Alt, lebt aus der Gegenüberstellung von Gegensätzen, in diesem Fall von "Armuth" und "ewigem Heil". Hier sind es die Violinen, die unisono mit federnder Rhythmik und Motivik - hiermit vielleicht "der Engel Chor" symbolisierend - einen Klanghintergrund schaffen, vor dem Sopran und Alt in dissonanten Bildungen und Vorhalten zunächst die Armut und sodann in runden Terzparallelen das ewige Heil und den Überfluss himmlischen Reichtums besingen.            

   

Christen, ätzet diesen Tag (BWV 63)

BWV 63 ist in einem autographen Stimmensatz überliefert, und die dort verwendete Papiersorte sowie gewisse Schriftmerkmale verweisen auf Weimar als Entstehungsort. Zwischen 1708 und 1717 hatte Bach eine Anstellung bei den Weimarer Herzögen Wilhelm Ernst und Ernst August, zunächst als Organist und Kammermusiker, seit 1714 auch als "Concert-Meister" der Hofkapelle und als solcher mit der Aufgabe betraut, das Orchester von der ersten Violine aus zu führen und für die Organisation der Ensembles, der Proben und Aufführungen besorgt zu sein. Ferner war er vertraglich dazu verpflichtet, "Monatlich neüe Stücke uff[zu]führen, und zu solchen proben die Capell Musici uf sein Verlangen zu erscheinen schuldig v[und] gehalten seyn sollen." Bach musste - oder durfte - also pro Monat ein "Kirchenstück" - eine Kirchenkantate - komponieren und diese mit den Kapellmusikern einstudieren und aufführen.

Der Ort dieser musikalischen Handlung hatte den poetischen Namen "Weg zur Himmelsburg" oder einfach "Himmelsburg", und wie es sich für eine Himmelsburg gehört, war diese nicht ohne Mühe, d.h. nur mittels ausgiebigen Treppensteigens,   zu erreichen: Die 1774 durch einen Brand zerstörte Weimarer Schlosskirche war in drei Etagen gegliedert, die über eine Höhe von insgesamt 20 Metern angelegt waren, und darüber öffnete sich ein drei mal vier Meter umfassendes, mit Balustraden gesichertes Rechteck zu einer Empore, die man die "Capelle" nannte und die nach oben hin durch eine mit Fresken verzierte Kuppel abgeschlossen war. Hier stand die Orgel und hier nahmen die 14 hauptamtlichen Musiker der Hofkapelle zu anstehenden Proben und Aufführungen Platz. Für die im Kirchenschiff oder in den Seitenemporen dem musikalischen Geschehen lauschenden Gottesdienstbesucher muss es ein überwältigender Eindruck gewesen sein mitzuerleben, wie Bachs Musik von dort oben ins Kirchenschiff - gleichsam vom Himmel auf die Erde - schwebte.

Die Bachforschung sieht den Textdichter zu "Christen, ätzet diesen Tag" in dem zu seiner Zeit hoch angesehenen Hallenser Pfarrer und Historiker Johann Michael Heineccius (eigentlich Heinecke, 1674-1722), der den damals vor allem als überragenden Organisten bekannten Johann Sebastian Bach gern als Nachfolger des 1712 verstorbenen Friedrich Wilhelm Zachow, Organist an der Marienkirche zu Halle, gesehen hätte. Bach hatte durchaus mit dieser Stelle geliebäugelt, sich nach einigem Zögern aber gleichwohl dazu entschlossen, im Weimar zu bleiben, was ihm eine Gehaltserhöhung, den Titel "Concert-Meister" und als vielleicht wichtigsten Punkt die Herausforderung eingebracht hatte, sich vermehrt als Komponist von Kirchenkantaten des aktuellen italienischen Typus zu entdecken. War er in seinen in Mühlhausen entstandenen Kantaten dem an die Motette angelehnten Textprinzip der Verbindung von Bibelwort, freier Dichtung und Choral verpflichtet gewesen, so begann er nun, Texte nach der neuen, der neapolitanischen Oper entlehnten Gliederung der Texte in Rezitative und Arien zu vertonen. Dies tat er auch im Falle von "Christen, ätzet diesen Tag", was die Entstehungszeit der Kantate im Weimarer Wirkungszeitraum zwischen 1713 und 1716 wahrscheinlich macht. Bachs Textdichter verfährt in freiem Duktus: Kein Bibelwort, kein Choral, sondern freie Dichtung, die sich nur marginal an der Perikope Lukas 2, 1-14 orientiert - der bekannten Weihnachtsgeschichte mit der Schilderung der Geburt Christi, der Verkündigung der Hirten und dem Engelslob. Der Text ist eher eine lobpreisende Beschreibung des "Neuen Bundes", der Menschwerdung Gottes, durch die der angstvoll dem eigenen Tod ausgelieferte Mensch die Gewissheit der Auferstehung und des ewigen Lebens erfährt und zur Dankbarkeit gemahnt wird.

Musikalisch ist die Kantate mit vier Singstimmen, drei Oboen, Fagott, Streichern, Pauken, Continuo und nicht weniger als vier Trompeten so reich besetzt, dass Zweifel geäußert worden sind, ob eine so umfangreiche Formation auf der schmalen "Capellen"-Empore überhaupt Platz hätte finden können.   Die reiche Ausgestaltung ist natürlich der Feier des hohen Festes geschuldet, wobei beim Hörer zwar durchaus Festtagslaune, mangels typisch weihnachtlicher Elemente wie Pastoralmusik oder Engelslob keine eigentliche Weihnachtsstimmung aufkommt. In der Bachforschung wird deswegen die Möglichkeit in Betracht gezogen, es handele sich hier um die geistliche Parodie eines ursprünglich weltlichen, heute verlorenen Werkes.

Wie auch immer, Eingangs- und Schluss-Satz, beide in voller Besetzung musiziert und beide als Da-Capo-Chöre konzipiert, atmen Freude und Glanz - ohrenfällig gemacht unter anderem durch das konzertante Miteinander von Trompeten und Oboen einerseits und den in Holzbläser-, Streicher- und Continuo-Klang eingebetteten Vokalsatz andererseits. Die Kantate ist in   vollendeter Symmetrie angelegt. Der Mittelsatz ist ein dem Tenor in den Mund gelegtes Accompagnato-Rezitativ, das die zentrale Gegenüberstellung vom Alten und Neuen Bund zum Inhalt hat. Begleitet von ebenso kraft- wie schwungvoller Continuo-Gestaltung berichtet der Sänger von Jesus als dem Löwen aus Davids Stamm, der mit gespanntem Bogen und gewetztem Schwert "uns in die vor'ge Freiheit setzt". Eingefasst ist diese christliche Elementaraussage durch zwei jeweils als Duette gesetzte Da-Capo-Arien. In deren erster gibt die Solooboe in reicher Kontrapunktik und Chromatik eine Stimmung von Andacht und ernsthaftem Staunen vor, die Sopran und Bass zu den Worten "Gott Du hast es wohl gefüget, was uns jetzo widerfährt" wieder und wieder durch reiche Imitatorik musikalisch sinnfällig ausführen. Nach dem zentralen Rezitativ verbreiten in Satz fünf Alt und Tenor in beschwingtem 3/8-Takt, fröhlichem G-Dur und homophoner Satzweise die neu erfahrene Glaubensgewissheit - was anmutet wie eine in Musik eingefangene Form des vielleicht kostbarsten aller menschlichen Gefühle: der reinen Freude.

Dagmar Hoffmann-Axthelm

 

 

 









Die Kirche im Weimarer Schloss, genannt "Die Himmelsburg"
Gemälde von Christian Richter (um 1660),
Staatliche Kunstsammlung Weimar


Bildquelle:
- http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/701739
- "Wikimedia": Schlosskirche Weimar 1660 (farbige Abbildung, ohne Quellenangabe)

- Neumann, Werner: Bilddokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs,  
Kassel 1979, S. 93, Abb. 102 (schwarzweiss)