Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Das Evangelium, das auf den heutigen 22. Sonntag nach Trinitatis gehört, ist das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht, der in Luthers Übersetzung als "Schalksknecht" bezeichnet wird (Matthäus 18, 23-35). Dieser Knecht schuldet dem König eine grosse Summe Geldes und soll deshalb mit Frau und Kind und aller Habe verkauft werden. Er wird dann aber auf Grund seines intensiven Bittens um Barmherzigkeit von aller Schuld befreit. Seine Bosheit besteht nun aber darin, dass er sich einem eigenen, viel kleineren Schuldner gegenüber nicht gleichermassen   grossmütig verhält, sondern diesen gefangen setzt, bis er alles bezahlt habe. Als der König dieses erfährt, wird er zornig und vollzieht nun auch an seinem Schuldner die Strafe. Diesem Gleichnis war die Frage des Petrus vorausgegangen, wie oft man verzeihen müsse, worauf Jesus antwortete: "nicht nur siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal", und am Schluss der Geschichte steht die Drohung, dass Gott ebenso strafen werde wie der König, "wenn ihr nicht vergebt von eurem Herzen, ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler."

Die Kantate BWV 89 Was soll ich aus dir machen, Ephraim?, die auf dieses Evangelium Bezug nimmt, wurde am 24. Oktober 1723 in Bachs erstem Leipziger Amtsjahr aufgeführt. Sie beginnt, wie viele andere Kantaten auch, mit einem Zitat aus dem Alten Testament, aber, so möchte man sagen, mit was für einem! Der unbekannte Kantatendichter hat nämlich aus dem Prophetenbuch des Hosea (11,8) eine Stelle ausgewählt, in der das Ringen Gottes mit der Frage, wie er sich verhalten solle, geschildert wird. Folgende historische Situation war "der Sitz im Leben" dieser Bibelstelle: Ein Teil des Volkes Israel, der hier mit dem Namen des geliebten Sohnes Ephraim angeredet wird, war zum Baals Götzendienst abgefallen, und der Gott der Israeliten überlegte sich nun, ob er sein Volk schützen oder nicht doch eher vernichten solle, so wie die Städte Adama und Zeboim vernichtet worden waren. Aber nein, so fährt der Text fort, Gottes "Herz war andern Sinnes", seine Barmherzigkeit war grösser als sein Zorn. Und darin ist nun das Bindeglied zum Gleichnis zu sehen, geht es doch in beiden Fällen um ein Abwägen Gottes bzw. des Königs zwischen Strafe oder Vergebung. In Bachs Vertonung des Hoseatextes wird dieses Abwägen in kongenialer Weise dargestellt. So enden im ersten Teil der Eingangsarie die drei Fragen jeweils mit einer Fermate und einer Pause - Zeit zum göttlichen Überlegen, möchte man sagen -, während es dann im zweiten Teil, nachdem der Entscheid gefallen ist, ohne Pausen durchgeht. Die Arie, die als Aussage Gottes der Bassstimme zugeteilt ist, hat kein Da capo, aber die acht Takte des Eingangsritornells werden am Schluss wiederholt. In ihnen wirkt ein Horn mit, das in der ganzen zweiten Hälfte der Arie schweigt, und man kann sich fragen, ob diese Wiederholung der instrumentalen Einleitung mit dem Hornklang am Schluss der Arie als Hinweis darauf zu verstehen ist, dass ja auch im Gleichnis mit der in der Mitte erwähnten Barmherzigkeit des Königs das Ende der Geschichte noch nicht erreicht ist.

Es geht nun jedenfalls auch in der Kantate weiter, und zwar mit einem Rezitativ und einer Arie für Alt. Beide nehmen textlich Bezug auf das unbarmherzige Verhalten des bösen Knechtes, der dadurch des Königs bzw. Gottes Geduld strapaziert und Gottes Rache hervorruft. Die Arie "Ein unbarmherziges Gerichte wird über dich gewiss ergehn" lehnt sich wörtlich an eine Stelle aus dem Jakobusbrief (2,13) an, und sie weist auf Sodom hin, d.h. auf eine weitere Stadt, die um ihrer Sünden willen untergegangen ist. Das ausdrucksvolle, von Halbschritten geprägte Thema dieser Arie, die nur für Alt und Basso continuo gesetzt ist, zeichnet die Unbarmherzigkeit des Gerichtes nach, und im Mittelteil werden die wichtigen Wörter "Rache" und "Sodom" durch lebhafte Koloraturen hervorgehoben. Daraufhin erfolgt im Sopranrezitativ Nr. 4 mit dem Ausruf "Wohlan!" eine Wendung,   und es wird der Entschluss geäussert, Zorn, Zank und Zwietracht hinzulegen - drei Laster aus dem Galaterbrief (5,20)! - und dem Nächsten zu vergeben. Damit   könnte die Kantate nun eigentlich schliessen, ist doch der Zweck des Gleichnisses: Vergebung oder Strafe! erreicht.

Doch nun taucht in der Fortsetzung des Rezitativs als weiterer Gedanke die Frage nach der Dimension der Schuld auf: "Allein, wie schrecket mich mein sündenvolles Leben, dass ich vor Gott in Schulden bin!" Und daraufhin werden - als einzig möglicher Ausweg aus der Krise - in knappster Form die zentralen Punkte des auf Paulus zurückgehenden lutherischen Glaubens angeführt: Jesus hat mit seinem Blut alle Schulden bezahlt, er hat die Forderungen des Gesetzes erfüllt und ist deshalb dessen Ende. Und Rettung gibt es für den Menschen nur, "wenn ich zu ihm als des Gesetzes Ende mich gläubig wende". Dieser Schluss wird von Bach arios vertont, wobei er interessanterweise vor allem das Wort "wenden" hervorhebt. Um eine Hinwendung zu Christus also geht es - und damit um Hinwendung zur Freude, was nun auch in der Kantate geschieht. Denn es folgt eine fröhliche, im 6/8-Takt stehende Arie, bei der eine Oboe mitspielt. Fast übermütig geht der Mensch den "gerechten Gott" mit der Frage an: "ach, rechnest du?" und weist ihn auf die zum Heil der Seelen vergossenen Blutstropfen Jesu hin. Eindrücklich ist, wie im zweiten Teil der Arie die Bitte ausgesprochen wird: "Ach! rechne mir die Summe zu!", wobei der Mensch bereits weiss, dass diese Summe gross genug ist, um alle Schuld und Sünden zuzudecken und, wie im Schlusschoral ausgedrückt, Tod, Teufel, Höll' und Sünde zu überwinden. In diesem Schlusssatz spielt nun auch das Horn wieder mit, indem es zusammen mit den beiden Oboen und der 1. Violine die im Sopran liegende Choralmelodie unterstützt.

Auch wenn dies zu Bachs Zeit nicht so vorgesehen war, so schliesst sich im heutigen Konzert die Kantate BWV 188 "Ich habe meine Zuversicht auf den getreuen Gott gericht" sehr schön an die vorhergehende Kantate an. Sie gehört zu jenem Kantatenjahrgang des Textdichters Christian Friedrich Henrici, der in den Jahren 1728/1729 entstanden und vielleicht als Ganzes von Bach vertont worden ist. Gerade bei diesen Kantaten sind aber grosse Verluste zu beklagen, und leider ist auch unsere Kantate nur sehr unvollständig erhalten. So fehlt fast die gesamte Eingangssinfonia, und die restlichen Seiten der Originalpartitur wurden - aus welchen Gründen auch immer - in Stücke zerschnitten, die jetzt in aller Welt verteilt im Besitz von vielen Bibliotheken und Privatpersonen sind. Die Kantate konnte aber rekonstruiert werden, und auch der Einleitungssatz für Orgel nahm wieder Gestalt an. Ihm liegt nämlich ein zwar ebenfalls verlorenes Violinkonzert in d-moll zu Grunde, das Bach später für Cembalo (BWV 1052) umarbeitete und dessen 3. Satz er schon vorher für unsere Kantate verwendet hatte. Aus dem erhaltenen Partiturrest ist die Orchesterbesetzung mit 2 Oboen, Oboe da caccia (Taille) und einer vierstimmigen Streichergruppe zu erkennen. Der Satz erklingt heute Abend in der Fassung von Werner Breig, allerdings mit einer eigenen Version des Orgelparts von Jörg-Andreas Bötticher, die sich im Wesentlichen am späteren Cembalokonzert orientiert.

Zur Kantate ist des Weiteren zu sagen, dass sie auf den 21. Sonntag nach Trinitatis gehört, an dem das Evangelium von der Heilung des königlichen Beamten (Johannes 4,47-54) verlesen wird. In dieser Geschichte wird erzählt, wie ein Vater zu Jesus kommt, ihn inständig um die Heilung seines todkranken Sohnes bittet, der Zusage Jesu: "Dein Sohn lebt!" glaubt und sich dann auch in seinem Glauben bestätigt findet. Der Textdichter Henrici geht aber nicht auf die Einzelheiten dieser Geschichte ein, sondern entfaltet zwei allgemeine Grundgedanken: "Gott ist der allerbeste" und "Wir wissen, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen" (Römer 8,28). Die Kantate könnte also gut und gerne den Zusatz "per ogni tempo" tragen!

Auf die grosse Einleitungssinfonie folgt als Nr. 2 eine Tenorarie mit obligater Oboe, auch sie von ansehnlicher Länge. Ihr tänzerischer Charakter wird nur im kurzen Mittelteil unterbrochen, in dem vom Brechen und Fallen aller Dinge die Rede ist, und wird bei der Aussage: "So ist doch Gott der allerbeste" wieder aufgenommen, worauf sich die wörtliche Wiederholung des ersten Teiles anschliesst. Vielleicht kann das darauf folgende Bassrezitativ Nr. 3 am ehesten mit dem Sonntagsevangelium in Verbindung gebracht werden, kommt doch darin das grosse Vertrauen auf Gottes Hilfe zum Ausdruck, das der Vater des todkranken Sohnes hatte. Dieses Vertrauen kann durch keine vermeintliche Gottesferne erschüttert werden, nicht, wenn Gott seine Liebe verbirgt, nicht bei allfälligen Tötungsabsichten von seiner Seite (2. Mose 4,24), nicht, wenn er sich wie bei Hiob in einen Grausamen verwandelt (Hiob 30,21). Der Zorn Gottes ist ja nur wie eine Wolke, die zwar den Sonnenschein hindert, dann aber mit einem sanften Regen reichen Himmelssegen bringt. Hinter all diesen Bildern und Beispielen steht der Grundgedanke, dass der irdische Lebensweg zwar rau sein mag, dass er aber in eine reichere und tröstlichere Zukunft führen wird; denn: "Gott meint es gut mit jedermann ... er will, er kanns nicht böse meinen." Und so schliesst nun auch das Rezitativ mit dem berühmten Wort, das der Erzvater Jakob nach seinem siegreichen Kampf mit dem Engel gesagt hat: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" (1. Mose 32,27) und das von Bach seiner Bedeutsamkeit wegen arios vertont wird. Die folgende Arie Nr. 4, die für Alt und konzertierende Orgel gesetzt ist, sinnt noch einmal staunend über die im Rezitativ beschriebene Unerforschlichkeit der Wege Gottes nach, und vielleicht hängt ihre rhythmische Kompliziertheit mit Synkopen und kurz-langen Rhythmen mit eben dieser Unerforschlichkeit zusammen. Ein kurzes ausinstrumentiertes, textlich von der Sprache der Psalmen bestimmtes Rezitativ für Sopran leitet zum Schlusschoral "Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not" über. Er wird nach der gleichen Melodie gesungen wie der Schlusschoral der Kantate BWV 89 - eine schöne musikalische Klammer zwischen den beiden Kantaten des heutigen Konzertes. In ihm darf übrigens ein Klangerlebnis der besonderen Art erwartet werden, indem die erste Kantate unten im Kirchenschiff musiziert wird und die zweite oben auf der Orgelempore mit der Silbermannorgel als Soloinstrument.

Helene Werthemann