Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Während der Michaelistag heute eine eher untergeordnete Rolle im Kirchenjahr spielt, gehörte er in früheren Jahrhunderten zu den bedeutendsten kirchlichen Festtagen überhaupt. Auch im lutherischen Leipzig der Bach-Zeit genoß das Michaelisfest gemeinsam mit dem Johannis-, Himmelfahrts- und Reformationstag, den Festen Mariae Verkündigung und Heimsuchung sowie Neujahr und Trinitatis einen Stellenwert, der den drei Hochfesten des Kirchenjahres nur wenig nachstand. Dies galt auch für die musikalische Ausstattung, die zu sämtlichen genannten Festtagen eine besonders glänzende Figuralaufführung erwarten ließ, die überdies - abweichend vom sonstigen wöchentlichen Alternieren - jeweils in beiden Leipziger Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai dargeboten wurde.

Der Michaelistag war jedoch über seine Funktion als kirchliches Fest hinaus neben dem Ostertermin der zentrale Stichtag für die Gliederung des frühneuzeitlichen Lebens- und Arbeitsjahres. Mit dem Ende des Sommers liefen an Michaelis zahlreiche zu Ostern angetretene Dienstverträge aus. Handwerksgesellen beendeten ihre Lehre oder verließen ihre Stellung, Wechsel wurden fällig und auch die interne Dienstordnung des Thomanerchores mit seinen vier Kantoreien und den Präfekten als musikalischen Assistenten des Kantors wurde zu Michaelis neu verteilt. Wie eigenhändige Quittungen Bachs belegen, wurden zu diesem Datum auch einige zur Förderung der Kirchenmusik ausgesetzte Legate wirksam, die der Thomaskantor dann unter den regulären Musikern und hinzugezogenen Kräften wie etwa Studenten verteilen konnte. Gerade für die Musiker gab es also an diesem Tag einiges zu feiern - Michaelis war nicht zuletzt ein Zahltag, an dem ein nicht unbeträchtlicher Teil des hart verdienten Gehaltes sogleich wieder "verflüssigt" wurde.

Daß zahlreiche Michaelismusiken des Barock opulent besetzt sind und häufig den sonst selten beanspruchten Trompeten- und Paukenchor verlangen, hängt nicht nur mit dem Rang des Festes zusammen. Vielmehr regte auch die Semantik des mit ihm begangenen Geschehens - der in der Epistel des Tages (Off. 12) geschilderte große Kampf der vom Erzengel Michael angeführten himmlischen Heerscharen gegen die Streitmacht des gefallenen Luzifer - die Komponisten der Zeit zu reich besetzten Schlachtmusiken an. Neben der Apotheose des göttlichen Sieges scheint dabei die Lust an der naturalistischen Schilderung des lärmigen Kampfgetümmels eine ebenso große Rolle gespielt zu haben. Daß es eine solche Tradition großformatiger Vertonungen gab, dürfte Bach nicht zuletzt durch eine Komposition seines Eisenacher Onkels Johann Christoph Bach bekannt gewesen sein, ein Werk, über das Carl Philipp Emanuel Bach noch 1775 bemerkte: "Das 22stimmige Stück ist ein Meisterstück. Mein seeliger Vater hat es einmal in Leipzig in der Kirche aufgeführt, alles ist über den Effect erstaunt."

Und so sind denn auch Bachs überlieferte Michaelisstücke - neben den drei vollständigen Kantaten BWV 19, 149 und 130 ( "Herr Gott, dich loben alle wir" ) gehört seiner Textgrundlage wegen wohl auch der etwas rätselhafte und in seiner Echtheit nicht unumstrittene Doppelchor "Nun ist das Heil und die Kraft" BWV 50 dazu - diesem Typus klangprächtiger und kämpferisch-konzertanter Festmusiken zuzuordnen.

Die Kantate "Es erhub sich ein Streit" BWV 19 wurde nach Maßgabe der Chronologie von Alfred Dürr und Georg von Dadelsen zum 29. September 1726 komponiert. Sie gehört damit einem Zeitraum an, in dem Bachs Figuralaufführungen nach den opulenten Werken des ersten Jahrgangs 1723/24 und der konzeptionellen Geschlossenheit der Choralkantaten von 1724/25 ein uneinheitliches Bild aufwiesen, in dem sich ambitionierte Neukompositionen mit Darbietungen fremder Werke vor allem seines Meininger Verwandten Johann Ludwig Bach abwechselten. Autor der für das Kantatenlibretto stark veränderten Textgrundlage war Bachs Leipziger Hausdichter Picander. Dieser Text mit seinem geglückten Brückenschlag vom Engelskampf der Offenbarung hin zum segensreichen Wirken der Engel auch im Leben des einzelnen Christenmenschen kann geradezu als Beispiel dafür dienen, wie es barocken Librettisten gelang, ausgehend vom biblischen Dictum überzeugende Bezüge zur Glaubens- und Daseinserfahrung ihrer Zeitgenossen herzustellen. Fast möchte man an einen "Engelskalender" denken, so farbenreich und vielfältig wird dieses Wirken hier ausgemalt. Deutlich wird daran überdies, welch hohen Stellenwert die Verehrung der Engel zumindest in der älteren lutherischen Tradition noch einnahm.

Zur Kantate, die Bach selbst als "Concerto. à 14" bezeichnete, sind neben der autographen Originalpartitur auch die zugehörigen Aufführungsstimmen erhalten.   Ihr Eingangschor präsentiert sich als veritable Battalia im modernen Gewand einer Da-Capo-Arie für Chor und großes Orchester. Dabei beginnt der A-Teil ohne instrumentale Vorbereitung mit einer kraftvollen Vokalfuge, die mit einer wüsten "Streit"-Koloratur und einer virtuosen Führung vor allem der ersten Trompete unmittelbar die Atmosphäre des kriegerischen Geschehens evoziert. Daß Bach dabei neben den vorhersehbaren Figuren auf "Streit" und "Rache" der Illustration des Adjektivs "rasend" gegenüber der ebenso naheliegenden Nachzeichnung der "Schlange" den Vorzug gab, lenkt zu Recht die Aufmerksamkeit von der bildlichen Abschilderung auf den besonderen Frevel des in dieser Raserei beschlossenen Aufstandes gegen die göttliche Weltordnung. Der barocken Kontrasterwartung folgend, gibt sich der B-Teil dank seines kompakten Vokalsatzes trotz durchlaufender Sechzehntelbewegung des Basses und der Streicher zunächst kantabler, bevor auch die Singstimmen wieder in die Textausdeutung einbezogen werden. Michaels "Schar" wird dabei als vielzählige Menge kenntlich, während "Satans Grausamkeit" mit chromatisch absteigenden Linien und geschärften Harmonien gezeichnet wird.

Wäre es Komponist und Librettist allein um die Darstellung des biblischen Geschehens gegangen, so könnte die Kantate bereits mit dem folgenden Rezitativ, das den Sieg Michaels nochmals rekapituliert, zu Ende sein. Indem der Text jedoch als Metapher andauernder Bedrohung an das noch immer hörbare "Brüllen" des in die Hölle verstoßenen Satans erinnert, nimmt er dem Vorgang seine Abgeschlossenheit und gibt Betrachtungen Raum, die das fortwährende Schützen der Engel und die dafür nötigen menschlichen Anstrengungen zum Gegenstand haben.

Davon berichtet etwa die mit zwei Oboen d'amore, Sopran und Continuo zart besetzte Arie "Gott schickt uns Mahanaim zu" , deren theologisch anspielungsreicher Text eine musikalische Umsetzung provozierte, die geradezu als Mustersammlung hochbarocker abbildender Figuren gelten kann. "Stehen" und "Gehen", "nah" und "fern", "Ruh", "Feinde", "Feuer" und "Wagen" - kaum ein Schlüsselwort der Vorlage wird in Bachs plastischer Vertonung ausgelassen, wobei der meisterhaft durchgebildete Quartettsatz die latente Konventionalität dieses Vorgehens ausbalanciert.

Höhepunkt der Kantate ist sicherlich die Tenorarie "Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir" , die mit dem vorhergehenden Accompagnato ein Satzpaar bildet. Während das durch die Streicherbegleitung mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladene Rezitativ in drastischen Worten die Niedrigkeit des "Erdenkindes" in Erinnerung ruft und damit das im wundersamen Wirken der Engel ausgedrückte göttliche Erbarmen umso heller leuchten lässt, wird in der Arie der Perspektivwechsel hin zu diesem "schnöden" und sündigen Menschen vollzogen. Bach hat für dessen ängstlich-demütiges Flehen um den Schutz der himmlischen Mächte einen dichten Streichersatz komponiert, in dessen zutrauliches Siciliano sich die Singstimme mit ihren weitgeschwungenen Linien einzufügen weiß. Dazu tritt jedoch eine solistische Trompete, die zeilenweise die Melodie des Liedes "Herzlich lieb hab ich Dich, o Herr" (Martin Schalling, 1571) vorträgt, wobei im Kontext der Kantate wohl nur die Strophe "Ach Herr, laß Dein lieb Engelein, am letzten End die Seele mein, in Abrahams Schoß tragen" gemeint sein kann. Mit diesem zwar wort-, aber nicht textlosen Choral fügt Bach dem Satz und damit dem "Engelsdiskurs" der Kantate die im Libretto der Arie gar nicht angelegte Dimension des Sterbegeleites und der Todesüberwindung hinzu und hebt sie damit auf eine bedeutungsmäßig völlig neue Ebene. Gleichzeitig bedingten die Identität des Satzes als verkappte Choralbearbeitung und die Barform des Liedes eine modifizierte Da-Capo-Struktur der Arie - auch im Kantatenschaffen Bachs gehen anrührende Affektdeutung und innovative Satzkonzeption nur selten eine so glückliche Verbindung ein.

In die gleiche Richtung weist auch das folgende Sopransolo, das die erst im Schlußchoral erwähnte Figur des Elias bereits indirekt einführt, indem die Engel als "Himmelswagen" der Seele angesprochen werden.   Das kurze Rezitativ ist somit wie die ganze Kantate ein Meisterwerk theologischer Kommentierung und Argumentation. Dem Rang des Festes entsprechend endet das Werk mit einem vierstimmigen Kantionalsatz, der durch einen obligaten Trompetenchor klanglich erheblich aufgewertet wird.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass BWV 19 bereits im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine ungewöhnlich intensive Rezeptionsgeschichte erlebte. So sind von der Hand Wilhelm Friedemann Bachs zwei Aufführungsstimmen erhalten, die möglicherweise im Zusammenhang mit eigenen Darbietungsvorhaben des Hallenser Musikdirektors standen. Wie Forschungen Ulrich Leisingers gezeigt haben, legte Friedemanns Bruder Carl Philipp Emanuel Bach die Kantate seines Vaters in den Jahren 1770, 1776 und 1781 seinem eigenen "Quartalsstück" für den in Hamburg zu Michaelis beginnenden Aufführungsturnus zugrunde, wobei er durch die Wiederholung des Eingangschores sowie die Einbeziehung seines "Heilig" Wq. 217 und von Arien Georg Bendas nachhaltig in die Substanz der Komposition eingriff. Schließlich war der im September/Oktober 1822 unter Leitung von Thomaskantor Johann Gottfried Schicht zweimal dargebotene "Große Chor: Es erhub sich ein Streit" die wahrscheinlich einzige Figuralkomposition Johann Sebastian Bachs, die zwischen August Eberhard Müllers Bach-Bemühungen um 1800 und der Bach-Renaissance der 1840er Jahre im Leipziger Stadtgottesdienst überhaupt erklang. Offenbar erlaubte der besondere Erwartungshorizont des Michaelisfestes in diesem Fall ausnahmsweise eine Darbietung der seinerzeit eher als sperrig und veraltet empfundenen Figuralmusik Bachs.

Demgegenüber muß die Kantate "Man singet mit Freuden vom Sieg" BWV 149 auch heute noch als weniger bekannte Komposition gelten. Aufgrund des Verlustes der autographen Partitur und der originalen Aufführungsstimmen ist ihre Datierung mittels Papierbefund gegenwärtig nicht möglich, weshalb nur die Veröffentlichung des Picanderschen Textes im Jahre 1728 gewisse Anhaltspunkte geben kann. Auch die in den vorhandenen Abschriften offenkundig fehlerhaften Lesarten und fehlenden Angaben lassen sich daher nur bedingt korrigieren - so musste die Textunterlegung des Schlußchorals in der Neuen Bach-Ausgabe   nach dem Vorbild des gleichlautenden Schlußchorals der Johannes-Passion ergänzt werden.

Von ihrer klanglichen Ausstattung her ist BWV 149 noch glänzender besetzt als BWB 19, indem hier zu den Singstimmen, Streichern sowie Trompeten und Pauken noch ein Holzbläsersatz aus drei Oboen und Fagott tritt, der weitgehend obligat agiert und damit den weiträumig angelegten Eingangschor der Kantate zu einem mehrchörigen Konzert macht. Allerdings hat Bach dafür den Schlußchor "Ihr lieblichste Blicke" der Jagdkantate BWV 208 als Parodievorlage 208 herangezogen, wobei die Hörner der Vorlage nun passender Weise durch die für Michaelis obligatorischen Trompeten ersetzt wurden, was eine Transposition von F-Dur nach D-Dur nach sich zog. Die im Detail vielfach umgearbeitete Musik kann allerdings auch im neuen Gewand ihre fürstliche Attitüde nicht verleugnen - tatsächlich eignet sie sich vorzüglich, um nun anstelle des Weißenfelser und Weimarer Herzogs den Heiligen Michael als "Fürst der Seraphinen" zu preisen. Der bei aller Klangpracht elegant-gelassene Duktus des Eingangschores, der in manchem an den ebenfalls parodiegezeugten Eingangschor der Kantate IV des Weihnachts-Oratoriums erinnert, scheint mitsamt seiner Da- capo-Form einen genuin höfischen Typus zu verkörpern.

Für die weiteren Kantatensätze ist eine Ableitung aus Parodievorlagen zwar vermutet worden, bisher jedoch nicht beweisbar. Denkbar erschiene dies etwa für das Duett Nr. 6, "Seid wachsam, ihr heiligen Wächter ", dessen brummelige obligate Fagottstimme auf den ersten Blick nicht aus der Semantik des Michaelisfestes heraus erklärt werden kann. Unabhängig davon handelt es sich bei diesem Satz um eine hinreißende Erfindung, deren eingängigem Schwung man sich kaum entziehen kann.

Demgegenüber erweist sich die nur vom Continuo begleitete Baßarie Nr. 2 als äußerst komplexe Komposition, deren vertrackte Linien und entlegene Harmonien den vom Text vorgegebenen Lobpreis des siegenden Lammes ersichtlich mit der dafür aufgewendeten Mühsal konfrontieren. In starkem Kontrast dazu steht die Sopranarie "Gottes Engel weichen nie" , deren flüssiger Dreiertakt und schimmernde Streicherbesetzung zugleich als Abbild der schirmenden Engelflügel wie als Ausdruck der durch sie verkörperten Geborgenheit gedeutet werden können. Wie das Rezitativ Nr. 5 mit seiner einkomponierten "Himmelsleiter" offenbart, bildet der Gedanke des letzten Geleites der Engel auch in BWV 149 einen Bestandteil der musikalischen Theologie.

Einen höchst merkwürdigen und vielleicht auch hintersinnigen Effekt hat Bach sich für den Schlußchoral der Kantate aufgespart. Nachdem Trompeten und Pauken während sämtlicher Binnensätze und noch über den gesamten Choralsatz hinweg schweigen mußten, treten sie im vorletzten Takt plötzlich mit einem kurzen Tusch hervor. Daß die Komposition damit auf die allein den Auferstandenen zugängliche "ewige Majestät" Gottes anspielt, ist sicher unüberhörbar. Wie Bachs Trompeter allerdings darauf reagiert haben werden, daß ihr Kantor ihnen mit diesem minimalistischen Einsatz den fälligen Michaelis-Umtrunk um mindestens eine Viertelstunde hinausschob, läßt sich denken - gibt es doch genügend Berichte, die nahelegen, daß Musiker des Barock längere Pausen im liturgischen Ablauf und insbesondere die Predigt gern zum Besuch des nächstgelegenen Wirtshauses nutzten. Ob - wie Klaus Hofmann mit guten Gründen vorbrachte - die für die Bläser problematische Notation des Satzes in C-Dur statt in der Tonart des Eingangschores D-Dur auf ein Mißverständnis des Kopisten Penzel zurückgeht, wäre nur anhand der Originalmaterialien sicher zu entscheiden.

Anselm Hartinger