Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   
   

Sterben, Betrübnis, Dank
Drei dramatische Themen in J. S. Bachs
musikalischer Sprache des Glaubens

 

Die drei Leipziger Kantaten Johann Sebastian Bachs, die heute erklingen, sind musikalisch-dramatische Predigten in Wort und Ton: höchst anspruchsvoll-ansprechende Barockmusik und zugleich klingende Auslegung der Bibel. Impuls der Inspiration ist zunächst das jeweilige Sonntagsevangelium: bei BWV 8 "Liebster Gott, wenn werd ich sterben" die Auferweckung des Jünglings zu Nain (Lukas 7,11-17; 16. Sonntag nach Trinitatis); bei BWV 138 "Was betrübst du dich, mein Herz?" ein Abschnitt aus der Bergpredigt (Matthäus 6,24-34; 15. Sonntag n. Trin.) und schließlich bei BWV 17 "Wer Dank opfert, der preiset mich" die Heilung der zehn Aussätzigen (Lukas 17,11-19; 14. Sonntag n. Trin.).

Doch keines dieser Evangelien wird in Bachs entsprechender Kantate "erschöpfend" behandelt. Vielmehr greift der jeweilige Textdichter einen Gedanken heraus, um - auf der dreifachen Grundlage des biblischen Zeugnisses, der poetischen Qualität und der musikalisch-inspirierenden Wortwahl - dem Komponisten ein "Vertonungsangebot" zu unterbreiten. Hauptabsicht des kreativen Spiels von Wort und Ton ist es dann, den Hörerinnen und Hörern Antworten auf die Botschaft des Evangeliums gleichsam in den Mund zu legen: in der dramatischen Gestik des Fragens und Antwortens, im Wechselspiel von Zweifeln und Glauben, nicht zuletzt in der Spannung zwischen traditionellen Choralstrophen ("Wir") und modern-opernhafter Affektdarstellung ("Ich") in Rezitativen und Arien. Entscheidend für Bach ist, dass er all diese Aspekte nicht nur aneinander reiht, sondern sie höchst kunstvoll miteinander verbindet, ja sogar ineinander verschränkt.

Der geistlich-thematische Fokus der heutigen Werke wird bereits in den Überschriften deutlich. Die Auferweckung des Jünglings zu Nain führt in der am 24. September 1724 erstmals erklungenen Choralkantate "Liebster Gott, wenn werd ich sterben?" auf die Spur der barocken Ars moriendi, wobei der Akzent hier besonders auf der Dialektik von Zeit und Ewigkeit liegt. Ein musikalisch überaus ergiebiges Thema! Der nicht mit letzter Sicherheit namentlich zu identifizierende Textdichter - der Leipziger Bachforscher Hans-Joachim Schulze hat den Theologen Andreas Stübel (1653-1725) als vermutlichen Verfasser des Choralkantatenjahrgangs ausfindig gemacht - übernimmt wörtlich die Anfangs- und Schlussstrophe des Liedes von Caspar Neumann (vor 1697), wohingegen er die mittleren Strophen zu Rezitativ- und Arientexten umgestaltet.

Der Eingangschor ist eines der eigenwilligsten Tongemälde aus Bachs Feder. Das pizzicato sempre der Streicher evoziert    Glockenklänge als Sinnbild der vergehenden Zeit (chronos); zugleich aber ertönt in höchster Flötenlage das Bimmeln eines Sterbeglöckchens: In Christus leben und sterben wir zur rechten Zeit (kairos). Der Bachforscher Arnold Schering hat die Wirkung dieser Tonrepetitionen ein wenig romantisierend beschrieben: "Ein Zittern mag jedesmal durch Bachs Gemeinde gelaufen sein, wenn immer wieder unvermutet und nach sekundenlangem Stillschweigen dieses seelenlose Geklingel sich hören ließ." In den Orchestersatz im pastoralen 12/8-Takt wird der Choral zeilenweise "eingebaut". Einzig die beiden Oboen ergänzen das musikalische Uhrwerk von Anfang an mit ihren tröstlichen Kantilenen.

Die mittleren Sätze von BWV 8 gehen musikalisch-symbolisch den Weg der Ars moriendi in mehreren Stationen: den Tod bereits im Leben ausgiebig bedenken, also die Ars moriendi als Ars vivendi gestalten, dies ist das kontemplative Programm der Tenorarie, in welcher der Mensch ("mein Geist") zu sich selbst spricht. Die hochvirtuose Arie für Bass und Flöte hingegen ist der "Weltverneinung" verpflichtet ("Nichts, was mir gefällt, besitzet die Welt") und sucht die Todesangst mit all ihren Sorgen aktiv zu vertreiben. Die Modernität des Bachschen Werkes erweist sich darin, dass sich immer wieder unsichere Fragen zwischen die Antworten drängen. Ein allzu rasches Fertigwerden mit dem Tod ist nicht im Sinne biblischer Spiritualität. Vielmehr geht es darum, die in barocken Sterbehandbüchern häufig traktierte neugierige Frage nach dem Zeitpunkt des Todes "... wenn werd ich sterben?" (Eingangssatz) hinter sich zu lassen - im Vertrauen darauf, dass die Bitte "Mach einmal mein Ende gut" (Schlusschoral) auch in der eigenen Todesstunde nicht unerhört bleiben wird. Der eigene Beitrag hierzu ist das Bedenken der Ewigkeit mitten in der Zeit, indem etwa der jeweils neue Morgen als Sinnbild des ewigen, "seligen" und "fröhlichen" Morgens der Auferstehung erlebt wird. Den Schlusschoral - nun spricht der Geist den "Herrscher über Tod und Leben" an - übernahm Bach von dem Leipziger Nikolaiorganisten Daniel Vetter (1679-1721)), von dem im Übrigen auch die Melodie des Liedes stammt.

Die Kantate "Was betrübst du dich, mein Herz?" , die erstmals am 5. September 1723 erklungen ist, also im ersten Leipziger Kantatenjahrgang Bachs, entzündet sich gleichsam an der Betrübnis der Jünger Jesu, um das von Jesus in der Bergpredigt gelehrte und gelebte Gottvertrauen als "Kontrapunkt" hierzu ins Spiel zu bringen. Wie so oft ist der den Hörerinnen und Hörern vertraute Choral Sinnbild des Vertrauens, während die Betrübnis-Einwände höchst bildreich und affektvoll im rezitativisch-dramatischen Stil erklingen. Die ersten drei Sätze bilden einen Gesamtkomplex, der bereits auf die späteren Choralkantaten vorausweist. Eine Art Fortsetzung der Thematik von BWV 8 hören wir im Gegensatz zwischen dem "zeitlichen Gut" und der anzustrebenden "himmlischen" Perspektive, die allen Sorgen den Abschied gibt und so zu neuem Gottvertrauen findet.

Der unbekannte Textdichter gestaltet die Aufforderung aus der Bergpredigt als Dialog mit zwei Rollen: die Botschaft des Vertrauens (Choralstrophen aus ein und demselben Lied, Nürnberg 1561) und die vielen Einwände der Sorge (Rezitative). Die ersten drei Sätze bilden eine Einheit, verbleiben aber im Gegeneinander und Nebeneinander von Sorge und Vertrauen. Bach musikalisiert den Gegensatz als Spannung von Chromatik und Diatonik, etwa wenn er im ersten Satz der Vorimitation jeder Choralzeile durch die Oboe d'amore I eine seufzende Gegenstimme der zweiten Oboe d'amore beigibt; oder wenn er in den ersten Choralzeilen den Bass verspätet und wiederum seufzend einsetzen lässt, was sich ab dem Stichwort "Vertrau!" ändert: Nun beginnt der Bass ganz ohne schmerzliche Chromatik und in fließender Achtelbewegung. Die rezitativische Frage "Wer steht mir denn in meinem Kummer bei?" erfährt zwar die Choral-Antwort "Dein Vater und dein Herre Gott" - doch es fehlt noch die entscheidende persönliche Aneignung dieser Antwort.

Erst die von zwei Rezitativen gerahmte und ausgedehnte Bassarie (Satz 5) inszeniert dies, indem sie die Ars vivendi überaus tänzerisch und koloraturenreich akzentuiert. Der Schlusschoral mündet mit Worten vom "armen Erdenkloß" - wer wollte es Thomas Mann verübeln, dass er solche Strophen in seinen "Buddenbrooks"-Andachten parodiert hat? - dramaturgisch korrekt in die irdische Trostlosigkeit. Bach bleibt dabei aber nicht stehen, sondern "kontrapunktiert" den irdischen mit dem weit wichtigeren himmlischen Aspekt, indem er diese letzte Strophe - vergleichbar dem Eingangschor von BWV 8 - in die pastorale Klangwelt der Erfüllung taucht. "Die Welt ist euch ein Himmelreich" könnte man mit Worten einer anderen Kantate assoziieren - ein musikalisch-spirituell höchst anspruchsvolles Programm, das kein Nacheinander von irdisch (jetzt) und himmlisch (dann) meint, sondern deren Ineinander, sogar "mitten in dem Leide"!

Zwei musikalische Experimentierfelder sind es, die Bach in BWV 138 beschreitet: Zum einen erprobt er die Tragfähigkeit eines Chorals als Kantaten-Grundlage; zum anderen schafft er nicht nur einzelne Sätze, sondern größere Satzkomplexe mit dichten Übergängen. Und beides steht wohl nicht zuletzt im Dienst seiner dramaturgischen Grundidee, die Kantate als Drama fidei per musica zu gestalten. Er will nicht nur quasi-statisch sagen, was Glauben heißt, sondern dramatisch mit den avanciertesten Mitteln seiner Kunst "inszenieren", wie Glauben sich vollzieht.

Die menschliche Antwort auf Gottes Handeln ist Thema der Kantate "Wer Dank opfert, der preiset mich" , die am 22. September 1726 in Leipzig erstmals erklungen ist. Der Textdichter interpretiert das Evangelium von der Heilung der zehn Aussätzigen mitsamt dem Dank, den nur einer von ihnen Jesus entgegenbringt. Hierzu gliedert der Librettist die Dankesschuld theologisch in zwei Aspekte, die sich in den beiden Teilen der Kantate (vor der Predigt und zum Abendmahl) gleichsam spiegeln: Ein erster - im Luthertum nicht selten   kritisierter - Weg des Dankens geht von der wohlgeordneten Schöpfung aus und verbindet sich als menschliche Antwort zugleich mit dem Lobpreis aller Geschöpfe, die "Odem haben" (Psalm 150). Also Dank der Schöpfung und für die Schöpfung, wobei die "ganze Welt" stringent als elementare ("Luft, Wasser ..."), fruchtbare ("Natur mit ungezählten Gaben"), lebendige ("was den Odem hegt") und schließlich menschliche (Lobpreis "mit lauter Stimme") skizziert wird, was zugleich den akustischen Spannungsbogen von "stumm" bis "laut" ergibt.

Der zweite Dank gilt dann der Erlösung, wobei die zeitliche Heilung im Evangelium zum Vorbild des endzeitlichen-ewigen, mithin ganzheitlichen Heiles wird: "... und mich an Leib und Seel vollkommentlich zu heilen". Zwanglos ergibt sich als dramaturgisch-theologisches Gerüst so der Dreischritt Schöpfung-Erlösung-Vollendung. Allein der Schlusschoral führt in den irdischen Bereich zurück und rundet sich im heutigen Programm zum Gedanken des Lebensendes hin, mit dem die erste Kantate "Liebster Gott, wenn werd ich sterben?" eingesetzt hatte: "Also der Mensch vergehet, sein End, das ist ihm nah".

Dem Eingangschor "Wer Dank opfert, der preiset mich" liegt keine Liedstophe wie in den beiden zuvor erklungenen Kantaten zugrunde, sondern ein Bibelwort aus Psalm 50. Bach gestaltet es als großräumige Eröffnung in der für ihn typischen Balance von vokal und instrumental, konzertant und textgezeugt. Die in den Worten angezielte Einheit von menschlichem Dank-Opfer und göttlichem Den-Weg-Zeigen realisiert Bach musikalisch, indem er diese beiden Textabschnitt in vokaler Zweistimmigkeit pointiert simultan erklingen lässt. Als Schöpfungs-Arie hören wir dann Psalm 36 "Herr, deine Güte reicht ..." in einem Quartettsatz, dessen Stimmenzahl vielleicht auf die vier Himmelsrichtungen verweist, die ja ein Aspekt der Schöpfungsordnung sind.

Der zweite Kantatenteil beginnt mit einem Bibelwort aus dem Sonntagsevangelium. Nach der "natürlichen Theologie" des ersten Teils akzentuiert der Textdichter nun das "sola gratia". Wie so oft in lutherischen Texten wird der biblische Opfergedanke gleichsam transponiert in das Gotteslob: Dank und Lob sind das Opfer - in manchen Kantatentexten ist sogar, auf die vokal-instrumentale Musik bezogen, vom "Opfer der Lippen und Saiten" die Rede. Der Schlusschoral bringt dann, eher ungewöhnlich in Bachs Kantatenwerk, keinen eschatologischen Ausblick, sondern wiederum die Rückwendung ins Irdische. So ergänzt er die überaus positive Sicht der Natur als Weg zur Gotteserkenntnis aus dem ersten Kantatenteil mit dem Aspekt der Hinfälligkeit alles Irdischen. Damit ergibt sich ein in sich spannungsvolles, aber gerade dadurch überzeugendes Gesamtbild der Schöpfung. Mit der Zeile "Sein End, das ist ihm nah" steht das eindringliche Memento mori am Schluss der heutigen Bachschen Auslegung des Glaubens. Sie will Sterbekunst sein, die Lebenslust ermöglicht; ihre kritische (bisweilen wohl überkritische) Sicht der "Welt" soll Engagement in der Welt nicht ausschließen.

Als Beitrag zu einer "Theologischen Ästhetik" (Hans Urs von Balthasar) weist Bachs sinnlich-sinnvolle Musik zugleich über sich hinaus. Sie stellt alle Themen und Gesten des Glaubens bildhaft und affektvoll-dramatisch dar, um nach deren Wahrheit im Sinne persönlicher Bewährung zu fragen. Antworten mögen die Hörerinnen und Hörer selbst geben. Dies ist ja bis heute faszinierend an Bach: Er ermuntert dazu, sich selbst emotional wie rational in seinen Kantaten zu finden: Musik-machend und hörend - heute mit drei Aspekten des biblischen Glaubens: Sterben, Betrübnis und Dank.

Meinrad Walter