Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Am heutigen 5. Sonntag nach Trinitatis werden in der Predigerkirche Bach-Kantaten musiziert, die dem zweiten Jahrgang (1724-1725) und damit dem   Typus der Choralkantate zugehören. In den Textbüchern des ersten Kantatenjahrgangs   stand am Anfang häufig ein Bibelwort, am Ende ein Choral, und in der Mitte hatten frei erschaffene, textlich die jeweilige Perikope berücksichtigende Rezitative, Arien und Duette ihren Platz. Dieser Vielfalt wollte Bach in seinem zweiten Jahrgang eine größere Systematik entgegensetzen, die mit der einheitlicheren Gestaltung der Textbücher der Choralkantate gegeben war: Hierbei wählte der Dichter ein zur Perikope passendes Kirchenlied aus, platzierte den ersten Vers am Beginn, (meist) den letzen am Schluss, und für die mittleren Teile übernahm er weitere Strophen entweder wörtlich, oder er paraphrasierte deren Inhalt in freier Dichtung.

 

Meine Seel' erhebt den Herrn, BWV 10

Unter den Choralkantaten des zweiten Jahrganges nimmt BWV 10 einen besonderen Platz ein, denn Bachs Textdichter hat hier kein Kirchenlied, sondern den Evangelientext der Perikope zugrunde gelegt, die Geschichte von Marias Besuch bei Elisabeth (Lukas 1, 39-56). Eben ist Maria vom Engel des Herrn die Geburt Jesu verkündet worden, und nun macht sie sich auf den Weg zu ihrer Verwandten. Diese erkennt - vom Heiligen Geist berührt - Maria sogleich als Gottesmutter und preist sie, woraufhin Maria zu ihrem berühmten Lobgesang anhebt: "Magnificat anima mea dominum" - "Meine Seel' erhebt den Herrn". In der Kantate begegnet Evangelienwort im Eingangschor und im fünften Satz, während im Schlusschoral die Worte der Doxologie erklingen, die zwar nicht im Lukasevangelium stehen, die aber nach alter Tradition im Gottesdienst das Magnificat abschlossen. In den weiteren Binnensätzen hat der Librettist den Bibeltext in freier Dichtung nachgestaltet.

Bach komponierte die Kantate zum Fest Mariae Heimsuchung (Maria sucht Elisabeth nicht heim, sondern deren Heim auf ...) und führte sie am 2. Juli 1724 auf. Zwar liegt dem Werk kein Kirchenlied zugrunde, wohl aber eine Choralmelodie: Das deutschsprachige Magnificat steht im 9. Kirchenton ("tonus peregrinus" - "fremder Ton" mit der Besonderheit des zwischen g und a wandernden Rezitationstons), und es wurde zu Bachs Zeit in Leipzig an Nachmittagsgottesdiensten im vierstimmigen Satz von Johann Hermann Schein (1627) gesungen. Der erste Satz beginnt mit einem festfreudigen, temporeichen Instrumentalvorspiel, in dem die erste Violine die erste Oboe, die zweite Violine die zweite Oboe verdoppeln, gefolgt von den Gesangsstimmen, wobei der Sopran unisono mit der Trompete   in gedehnten Noten den Cantus firmus im tonus peregrinus ausführt und die übrigen Stimmen ihn in teils homophoner, teils imitatorischer Setzweise umspielen und umsingen. Nach einem instrumentalen Zwischenspiel folgt der zweite Bibelvers, und wieder hört man die von der Trompete verdoppelte und von den anderen Instrumental- und Vokalstimmen lebhaft umspielte Choralmelodie deutlich heraus, die nun vom Alt gesungen wird.

Satz zwei feiert die Stärke und Herrlichkeit Gottes. Den Eindruck von Kraft vermittelt ein Rhythmus, der die Zählzeiten des 4/4-Taktes aufs Deutlichste betont und eine Tonalität, die in solidem B-Dur ruht. Glanz gesellt sich zur Stärke durch die Oboen, die einstimmig spielen und über längere Strecken entweder die erste   oder die zweite Violine verdoppeln. Eingebettet in diesen instrumentalen Rahmen ist der Solosopran, der sich im Hinblick auf die Diktion dem Vorgegebenen anpasst, der aber darüber hinaus mit seinen hoch aufsteigenden Spitzentönen einen Hauch von "Herrlichkeit" in die Musik zu bringen vermag.

Ein Rezitativ leitet zu einer   kurzen Bass-Arie über, die von musikalischen Wortausdeutungen geradezu strotzt. Thema ist Gottes kompromisslose Gerechtigkeit den "Gewaltigen", den "Reichen" und den "Armen" gegenüber, ausgedrückt durch eine extrem sparsame Instrumentation - nur die Continuo-Besetzung ist beteiligt. Lustvoll malt nach ratterndem, auf die "Gewaltigen" verweisenden Vorspiel der Sänger in nicht weniger als sieben Abstiegsbewegungen aus, wie Gott diese vom Stuhl stößt und im "Schwefelpfuhl" versinken lässt. Den Reichen bestätigt der Sänger ihr "bloß"- und "leer"-Sein mit wirkungsvoll platzierten Pausen, und der Hunger leidenden Armen gedenkt er mit einem chromatischen Sekundabstieg; sie dürfen sich auf ein vom Sänger legatoartig wiegend gestaltetes "Gnadenmeer" freuen.

In Satz 5, dem zweiten der dem Lukasevangelium entnommenen Texte, duettieren Alt und Tenor in imitatorisch geführter Kontrapunktik, während die beiden Oboen oder wahlweise die Trompete einmal mehr den Cantus firmus erklingen lassen. Nach einem Accompagnato-Rezitativ hört man die tonus peregrinus-Melodie schließlich nochmals als klaren, schlichten Choralsatz - wiederum zwei Mal durchgeführt, womit das Dreifaltigkeitslob in gebührender Länge gesungen werden kann.

 

Es ist das Heil uns kommen her, BWV 9

Wie gesagt: Die Kantate BWV 9 gehört zum zweiten Kantatenjahrgang, die Schriftmerkmale deuten allerdings auf ihre Entstehung erst gegen 1732. Dies wird mit einer Konzertreise in Zusammenhang gebracht, die das Ehepaar Bach Mitte Juni 1724 nach Köthen an den Hof von Bachs früherem Arbeitgeber Fürst Leopold unternahm. " 1724. 18. Juli. Dem Director Musicus Bachen und seiner Ehefrauen, so sich hören lassen, zur Abfertigung 60.- Thlr .", verzeichnet das dortige Rechnungsbuch. Bach verschob, so wird angenommen, die Komposition der Kantate zum 6. Sonntag nach Trinitatis auf einen späteren Zeitpunkt, weil er mit den Vorbereitungen zu Köthener Feierlichkeiten (uns unbekannten Charakters) beschäftigt war, und komponierte das Werk erst rund acht Jahre später.   Er führte die Kantate allem Anschein nach nochmals 1735 auf, was hier nicht weiter wichtig sein müsste, wäre mit diesem Faktum nicht eine wundersam schöne Geschichte verbunden, eine Geschichte, nicht zu schön, um wahr zu sein: Teile einer von Friedemann Bach angefertigten Stimmenkopie von BWV 9, deren Schreibmerkmale auf ihre Entstehung um 1735 verweisen, gelangten Anfang des letzten Jahrhunderts auf verschlungenen Wegen von Wien nach New York. Dort wurden die Stimmen in den 60er Jahren von der Pierpont Morgan Library erworben, allerdings ohne den Traversopart, der in Wien noch vorhanden gewesen war, nun aber als unwiederbringlich verloren galt. Im Jahre 1971 spazierte ein musikliebender Herr nahe Greenwich Village an einem eben abgebrochenen Haus vorbei, als ihm im Bauschutt ein Bilderrahmen auffiel. Das Glas war zerbrochen, aber das Bild - ein Musikmanuskript - war unversehrt. Von einem Arbeiter, der gerade mit der Entsorgung der Trümmer beschäftigt war, erhielt der Herr die Erlaubnis, den Rahmen samt Inhalt mitzunehmen, und es stellte sich heraus, dass es die doppelseitig beschriebene Flötenstimme zu "Es ist das Heil uns kommen her" war.

Das dem sechsten Sonntag nach Trinitatis zugeordnete Evangelium stammt aus der Bergpredigt (Matth. 5, 20-26): Hier ermahnt Jesus die Seinen, nicht den Gesetzen   der Pharisäer, sondern dem eigenem, auf Versöhnungsbereitschaft fußendem Glauben zu folgen. Diesem Thema ist auch das Kirchenlied gewidmet, das der Kantate ihr Rückgrat gibt.   Der Text stammt von dem Luther-Zeitgenossen Paul Speratus (eine Latinisierung des Namens Hoffer), einem bedeutenden katholischen Theologen, der in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts zum Luthertum übergetreten war und daraufhin fast als Ketzer auf dem Scheiterhaufen geendet hätte.   Bachs Textdichter ließ die Kantate mit dem ersten Vers des zwölfstrophigen Liedes beginnen und mit dessen zehnten enden. In den fünf dazwischen angeordneten Sätzen paraphrasiert er die um Gesetz, Glaube und Hoffnung auf Erlösung kreisenden Stropheninhalte mehr oder weniger frei.

Der Eingangschor beginnt mit dem lieblich-leichten Konzertieren von Traversflöte und Oboe d'amore, in das sich bald die beiden Violinen und später auch der Bass einmischen - sei es, dass die Bläser kontrapunktisch geführt sind und Violine 1 mit der Flöte, Violine 2 mit der Oboe im Unisono verlaufen, sei es, dass die Violinen kontrapunktieren und durch die Bläser verdoppelt werden, sei es, dass alle Stimmen auf eigenem Weg zum großen Ganzen beitragen. Eingebettet in diesen Instrumentalsatz ist die Sopranstimme, die die Choralmelodie in deutlich artikulierenden Dreiviertelnoten vorträgt, umspielt von den imitatorisch geführten drei tieferen Gesangsstimmen. So entsteht ein dichtes Satzgeflecht, das aber bei aller Vielfalt mit seinem luftigen Dreivierteltakt und den warmen Klangfarben von Traversflöte und Oboe d'amore gleichwohl Leichtigkeit und Anmut ausstrahlt.

In starkem Kontrast hierzu stehen die drei Rezitative, die alle dem Bass anvertraut sind und in denen in strengem Secco-Charakter (nur Satz 4 endet mit einem zweitaktigen Arioso zum Bilde des Glaubens, der sich "fest um Jesu Armen schlingt") die Beziehungen zwischen Gesetz und Glaube sowie menschlicher Sündhaftigkeit und göttlicher Gnade ausgelegt werden. Die Tenorarie "Wir waren schon zu tief gesunken" malt ein düsteres Bild von der Verlorenheit der sündigen Seele. Die Solovioline gibt das Versinken im Abgrund mit einer absteigenden Sechzehntel-Figur vor, und der Tenor folgt ihr in reich mit Synkopen und Chromatik durchsetzter Melodieführung, jeweils die bedrohlichen Worte "Abgrund", "Not" und "Tod" hervorhebend.

Eine ganz andere Stimmung vermittelt Satz 5, ein Arien-Duett, in dem Sopran und Alt "des Herzens Glaubenstärke" besingen. Und wieder vollführt Bach hier das Kunststück, einen kontrapunktisch höchst anspruchsvollen Satz zu schreiben, der gleichwohl leicht und schwebend daherkommt. Die Traversflöte beginnt mit einer Sechzehntelfigur, die sogleich von der Oboe d'amore in der Unterquinte imitiert wird, und beide Instrumente musizieren bis zur Mitte des Vorspiels einen Kanon im Quintabstand. Dann gibt die Oboe das Thema vor und die Flöte antwortet in der Oberquarte. Nun folgt der Sopran mit einem Motiv, das der Traverso-Stimme nachgebildet ist, und im nächsten Takt setzt der Alt mit dem von der Oboe vorgegebenen Stimmverlauf ein. Beide singen ihrerseits einen Kanon in der Unterquinte, und nach acht Takten setzen erst die Oboe, dann die Traversflöte mit einem Kanon in der Oberquarte ein, so dass ein vokal-instrumentaler Doppelkanon entsteht. Im zweiten Teil der Arie bilden Alt und Oboe ein unison geführtes Stimmenpaar, das eine kanonische Stimme intoniert, die nach zwei Takten vom gleichfalls im Einklang musizierenden Sopran-Traverso-Paar beantwortet wird: Die durchweg kanonische Führung der Stimmen, der klar strukturierende Zweiertakt, das fast völlige Fehlen chromatische Wendungen, ein helles A-Dur - all das spiegelt die Sicherheit eines Gemütes, das fest im Glauben ruht - eine Botschaft, die der Choral als Schlusspunkt nochmals betont.

Dagmar Hoffmann-Axthelm