Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

"O Ewigkeit, du Donnerwort" BWV 20

Die Kantate "O Ewigkeit du Donnerwort" BWV 20 entstand als Kirchenmusik zum ersten Sonntag nach Trinitatis (11. Juni) des Jahres 1724 in Leipzig. Da Bach zum gleichen Sonntag des Vorjahres sein Amt als Thomaskantor angetreten hatte, begann mit dieser Kantate Bachs zweiter Leipziger Jahrgang. Gleichzeitig eröffnete er damit ein in seiner eigenen Schaffensbiographie singuläres Projekt: Die Kantaten des neuen Jahrgangs sollten durchgängig sowohl auf der textlichen als auch der musikalischen Substanz jeweils eines evangelischen Kirchenliedes beruhen. Bis zum zwischenzeitlichen Abbruch des Zyklus im Frühjahr des Folgejahres 1725 (der einer Anregung Hans-Joachim Schulzes zufolge auf den Tod des möglichen Textdichters Andreas Stübel zurückzuführen sein könnte) hatte Bach somit tatsächlich einmal Sonntag für Sonntag eine gänzlich neue Kantate zu komponieren, die sich ganz auf das entsprechende Chorallied beziehen sollte. Die dunkle, aber festliche Prägung des Eingangschores von BWV 20 speiste sich somit aus seiner doppelten Eröffnungsfunktion: bezogen sowohl auf Bachs "persönlichen" Jahreszyklus als auch auf das beginnende Langzeitvorhaben des "Choralkantaten"-Jahrganges. Mit ihren insgesamt 11 Sätzen gehört die zweiteilige Predigtkantate "O Ewigkeit, du Donnerwort" BWV 20 zu Bachs ausgedehntesten und gewichtigsten Figuralkompositionen (eine zweite Kantate mit zu Beginn teilweise identischem Text, den Dialog "O Ewigkeit, Du Donnerwort/Herr, ich warte auf dein Heil" BWV 60, hatte Bach bereits zum 24. Sonntag 1723 vorgelegt). Auch dies spricht für ihren Rang und zugleich für die Ambition hinter dem mit ihr eröffneten Choral-Projekt.

Grundlage des Kantatenlibrettos ist das achtzeilige Kirchenlied des bedeutenden norddeutschen Barockdichters Johann Rist (1642), das die bereits im Evangelium vom reichen Mann und armen Lazarus anklingende ewige Verdammnis thematisiert und interpretiert. Im Unterschied zu den frei nach dem Liedtext gedichteten Rezitativen und Arien beruhen Eingangschor und die Schlußchoräle beider Kantatenteile direkt auf Rists Strophen.

Bachs Vertonung dieser umfangreichen Vorlage ist nun eine echte "Schreckensmusik", die den Hörer vom ersten bis zum letzten Satz mit der fürchterlichen Erkenntnis der göttlichen Strafe in Ewigkeit regelrecht terrorisiert und Ton für Ton und Bild um Bild zu Umkehr und Weltabsage auffordert.

Bereits die ersten Takte des majestätischen Eingangschores machen die eingeschlagene Richtung unmißverständlich klar. Bach hat dafür - gewiß auch im Sinne der genannten doppelten Eröffnungsfunktion des Werkes - wie auch in einigen anderen Kantaten die Form einer französischen Ouvertüre gewählt, diese jedoch in mehrfacher Weise radikalisiert. Anders als im weitgehend schlichten Melodieeinbau der Kantate "Nun komm der Heiden Heiland" BWV 61 oder bei der Beschränkung auf einen Choreinbau allein in den geschwinden Mittelteil (wie in der Weihnachtskantate BWV 110 nach der Ouvertüre BWV 1069 sowie in den Kantaten BWV 119 und 194) ist Bach hier zu einer echten Synthese von figuriertem Choralsatz und Orchesterouvertüre gelangt. Auch der an sich naheliegenden Lösung, den zweiten dreizeiligen Stollen des Choraltextes mit der Wiederholung des gravitätischen A-Teils der Ouvertüre zu verbinden, hat Bach im Interesse einer überzeugenden Durchkomposition widerstanden. Er ordnet stattdessen diesen zweiten Stollen dem vivace überschriebenen Mittelteil zu, bevor die beiden letzten Zeilen des Abgesangs in höchst wirkungsvoller Weise als zweites Grave inszeniert werden.

Die für den Choralkantatenjahrgang konstitutive Idee, den Affekt und Textgehalt des Kirchenliedes bereits im Orchestersatz anklingen zu lassen, ist bereits bei seinem Eröffnungsstück BWV 20 in nahezu unüberbietbarer Weise verwirklicht worden. Bach hat dafür zwei komplementäre musikalische Ebenen entworfen, die den Orchestersatz teilweise bis zur realen Siebenstimmigkeit hin ausweiten, eine Komplexität, die sich beim Einsatz des Chores durch die stellenweise Ablösung des Singbasses vom Continuo sogar noch weiter steigert.

Die erste und in der Wahrnehmung zunächst dominierende dieser beiden Ebenen besteht aus den typischen Insignien der französischen Ouvertüre: scharf punktierte kurze Motive in den Streichern und im Generalbaß, die gelegentlich in rasant abwärts stürzende Sechzehntelketten übergehen. Diese herrschaftliche Aura betont sowohl den generell ernsten Charakter des Textes als auch die Implikation der Angst vor dem göttlichen Gericht. Das "durch die Seele bohrende Schwert" wird in der ganzen Tiefe des Schmerzes fühlbar; die auffällig abgerissenen Motive im Continuo könnten sich durchaus auf die Textzeile "O Anfang sonder Ende" beziehen.

Über diese schon für sich allein beeindruckende Vertonungsschicht hat Bach noch eine zweite Ebene gesetzt, die zu Beginn vom Oboenchor übernommen wird, der mit langen liegenden Noten und bedächtigen harmonischen Fortschreitungen die Ouvertüre überlagert. Dies kann kaum anders als im Sinne einer Darstellung der "Ewigkeit" interpretiert werden - Bach hat damit neben dem szenischen Realismus des "Donnerwortes" auch den Textsinn, die "ewige Dauer", in Musik gesetzt. Unüberhörbar wird dies beim Beginn der ersten Vokalzeile, wenn Bach den Singchor mit einem ausgehaltenen Orgelpunkt F im Continuo untersetzt - ein augen- und ohrenfälliges Abbild der Ewigkeit, die hier zugleich das fürchterliche Gesicht der alle (Zeit)-Vorstellungen sprengenden Verdammnis erhält. Daß im Eröffnungsabschnitt des Eingangschores beide Satzebenen durch permanenten Austausch zwischen den Instrumentengruppen und Continuopassagen nahezu durchgängig präsent sind, hat gewiß seinen deutenden Sinn: Nicht nur ist der Mensch zwischen beiden Polen seiner Existenz unablässig hin- und hergerissen, die Dimension der "Ewigkeit" ist - und zwar als Drohung und Verheißung - selbst im geschwinden und zuzeiten hitzigen Alltagsleben stets gegenwärtig.

In diesen bereits überaus dichten und auf Vertauschung und Entwicklung hin konzipierten Orchestersatz baut Bach nun zeilenweise den Choral ein, wobei die Sopranmelodie von einer Zugtrompete unterstützt wird und die Unterstimmen die Textaussage immer wieder durch gestische und sogar lautmalerische Rufe unterstreichen ("Du Donnerwort"!).

Ein besonderes Meisterstück ist dann die Weiterführung des Modells im Mittelteil der Ouvertüre. Ungerührt vom tieftraurigen Text und etlichen harmonischen Härten läßt Bach hier den beschwingten Dreiertakt der höfischen Orchestergattung durchlaufen. Unwillkürlich drängen sich dabei Bilder der strafenden Gerechtigkeit barocker Herrschaftsrepräsentation auf - es klingt, als würde der Mensch vom Gewicht einer in olympisch heiterer Selbstbespiegelung begriffenen souveränen Macht fortgerissen, die seine Kraft und Vorstellung bei weitem übersteigt. Im hohen Tempo und flüssigen Tonfall des Abschnittes wird die Komplexität der Fuge kaum hörbar, deren chromatisch absteigender Kontrapunkt nahezu die Qualität eines zweiten Themas annimmt. Die für den Eingangsabschnitt konstitutive Dichotomie zweier Ebenen und Motivcharaktere wird also auch hier gewahrt; Kontraste treten hervor, die an Texte wie das 1725 von Bach vertonte Dictum "Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen" erinnern.

Nachdem die Fuge in einen veritablen Klangstau mit Fermate mündete, beginnt ab Takt 90 der schauerliche Schlussteil der Ouvertüre. Die punktierten Motive des Beginns sind hier durch entgegengesetzt gerichtete Exklamationen von Streichern und Holzbläsern ersetzt worden, die nicht anders denn als Ausdruck des jähen Entsetzens verstanden werden können. Da der zugrundeliegende Text nun in den stärksten Bildern nur noch vom Individuum und seiner körperlich ausgedrückten Verzweiflung redet,   ist jegliche Dimension der "Ruhe" auch aus dem Orchstersatz verschwunden - sämtliche Mitwirkenden sind förmlich der allgemeinen Auflösung anheimgefallen. Das kurze Orchesternachspiel hat deshalb trotz seiner tonalen Klarheit alles andere als einen strahlenden Charakter, ja es scheint die Pein des heiser geschrieenen Menschen nur noch verlängern zu wollen.

Auch die folgenden Solosätze sind kaum geeignet, dieses niederschmetternde Bild aufzuhellen. Im Gegenteil - das erste Rezitativ und die Tenorarie vertiefen die Schreckensbotschaft immerwährender Verdammnis nur noch weiter, wobei die Arie zunächst das liegende "Ewigkeitsmotiv" der Ouvertüre aufgreift, während kleinschrittige Bewegungen des Sängers und der Instrumente die zitternde "Bangigkeit" nachzeichnen. Im B-Teil läßt Bach dann in barocker Figurenfreude auch noch die "Flammen" der Hölle anklingen, die hier allerdings nicht vom Orchester aus über dem Solisten zusammenschlagen, sondern allein von diesem selbst vorgestellt und damit empfunden werden. Spätestens hier wird deutlich, daß Bach in unserer Kantate nicht allein das göttliche Gericht abbildet, sondern zugleich den inneren Seelenvorgang seiner vorauseilenden und letztlich heilsamen Imagination.

Das folgende Satzpaar des Basses verstärkt diese Herzenspein nochmals und rechtfertigt sie zugleich im Kontext einer theologischen Argumentation. Während das Rezitativ immer neue Vergegenwärtigungen des Widerspruchs von Zeit und Unendlichkeit vorstellt, greift die Arie den tänzerischen Tonfall des Mittelteils der Ouvertüre wieder auf, dessen Interpretation als Affirmation der Gerichtsmacht Gottes über die Menschen sich somit bestätigt: "Gott ist gerecht in seinen Werken", und zwar selbst dann,   wenn er "auf kurze Sünden dieser Welt ... so lange Pein bestellt". Von der folgenden Choralstrophe noch bestätigt, handelt es sich dabei um eine schockierend drastische Aussage, an der sich nicht nur die Zuhörer in Bachs Leipzig gerieben haben werden.

Der auf die gewiß ebenfalls "erschröckliche" Predigt folgende zweite Teil der Kantate greift diesen Gerichtsduktus im Klang der Trompetenfanfaren und des vollen Orchesters unmittelbar auf, wobei der Text der Baßarie sich als eindringliche Mahnung zum Erwachen aus dem Sündenschlaf und damit zu Buße und Umkehr erweist ("Wacht auf, wacht auf, verlornen Schafe"). Nach dieser massiven Intervention suchen die beiden letzten Sätze mit sanfteren Tönen den Weg direkt zum Herzen des verstockten Sünders. Klingen im Rezitativ Nr. 9 nochmals die schon in den Punktierungen des Eingangschores vertretenen Sünden an   - die majestätische Ouvertürenmusik kann also nicht nur als Abbild der herrscherlichen Gewalt, sondern zugleich als kritische Vergegenwärtigung von "Hoffart, Reichtum, Ehr und Geld", dem vergänglichen weltlichen Gepränge gerade auch der hienieden Mächtigen also, verstanden werden -, so scheinen Alt und Tenor die rettende Einsicht der verstockten Weltkinder nun regelrecht zu erflehen. Wie sich am Verweis auf das Gleichnis von Lazarus und reichem Mann und dann noch mehr am Schlußchoral zeigt, bleibt die gewalttätige göttliche Strafdrohung in aller Liebe jedoch stets präsent. Kaum vorstellbar, daß es Bach nicht gelungen sein sollte, mit der elementar bewegenden Musik der Kantate BWV 20 seine Zuhörer in ungewöhnlichem Maße zu erreichen. Angesichts ihrer bevorstehenden Aufführung in einer Basler Kirche mag es interessant sein, darauf hinzuweisen, daß die autographe Originalpartitur der Kantate heute zu den Preziosen der Sacher-Stiftung am Münsterplatz gehört.

 

"Er rufet seinen Schafen mit Namen" BWV 175

Bachs Meisterschaft im kontrapunktischen Satz war weder zu seinen Lebzeiten noch in späteren Phasen seiner Rezeptionsgeschichte jemals umstritten. Sein vom Primat des Instrumentalen ausgehender Umgang mit der Singstimme traf jedoch vor allem im 19. Jahrhundert auf ebenso heftige Kritik wie Bachs vermeintlich ungenügende Instrumentationskunst. Eine Ansicht, die die für den dritten Pfingsttag 1725 auf einen Text der Leipziger Dichterin Christiane Mariane von Ziegler komponierte Kantate "Er rufet seinen Schafen mit Namen" in eindrucksvoller Weise widerlegt. Die Dichtungen der Zieglerin scheinen - wiewohl von recht heterogener poetischer Qualität - Bach immer wieder Bilder geboten zu haben, die ihn zu besonders farbenreichen Vertonungen anregten. Denn tatsächlich fordert mit dem Accompagnato Nr. 5 nur ein einziger der insgesamt sieben Sätze der Kantate die gewöhnliche Streicherbesetzung. Alle übrigen Sätze sind in exquisiter und teilweise für Bachs Werk außergewöhnlicher Weise klanglich ausstaffiert, wofür neben dem vom Evangelium und Kantatenlibretto vorgegebenen pastoralen Kontext vielleicht auch die weitergehende pfingstliche Idee der Verbreitung des Heiligen Geistes durch alle Länder, Zungen und Stimmen eine Rolle gespielt haben könnte. Wahrscheinlich ist überdies, daß die unterschiedlichen Instrumente und Satzcharaktere Attributen und Rollen entsprechen, mit denen sich Jesus und in gewisser Weise sogar sämtliche Personen der Trinität in differenzierter Weise und Ansprache an die Menschen wenden. So evozieren die obligaten drei Blockflöten im Eingangsdiktum und der folgenden Altarie auf perfekte Weise das Bild von Jesus als dem guten Hirten seiner hier sehr zutraulich dargestellten Schafe. Die hohe und dabei zugleich sanfte wie durchdringende Mittelstimme des Violoncello piccolo verkörpert hingegen gewiß Jesu "holde Stimme ... voller Lieb und Sanftmut", von der im Libretto die Rede ist. Damit könnte die Kantate in einer Apotheose der gelungenen Gotteserkenntnis und Hirtenliebe bereits zu Ende sein. Doch entspräche eine derart eindimensionale Entwicklungsdramaturgie weder der lebensweltlichen Realität noch der rhetorisch-psychologischen Komplexität theologischer Argumentationen des Barock. Daher führt das Rezitativ Nr. 5 zunächst ein Moment der bewußten Verunsicherung herbei, indem es ausgehend von einem weiteren Bibeldictum selbstkritisch die Verblendung der Menschen beklagt, die sich dieser göttlichen Zusage gegenüber taub stellen. Darauf aufbauend ruft nun der Baß - dessen begleitender Trompetenschall in diesem Zusammenhang eindeutig "herrscherlichen" Charakter aufweist - energisch zur Umkehr im Zeichen des Kreuzes auf: "Öffnet euch, ihr beiden Ohren". Die Zusammenführung zweier melodischer Trompetenstimmen ohne Pauken mit einem virtuos-eleganten Baßsolo entspricht dabei einem in Bachs Kantatenschaffen nahezu einzigartigen Experiment. Der Schlußchoral vereinigt dann die vier Singstimmen und die drei nochmals obligaten Blockflötenpartien zu einem eindringlichen Bild pastoraler Eintracht in Vielstimmigkeit, Wortvertrauen und Freude. Es handelt sich dabei um eine Neuinstrumentierung des Schlußchorals aus der spätestens 1724 uraufgeführten Kantate "Wer mich liebet, der wird mein Wort halten" BWV 59.

Anselm Hartinger