Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Mit dem heutigen Sonntag Cantate - "Singet dem Herrn ein neues Lied" - stehen wir mitten in der fünfzigtägigen Freudenzeit, der sogen. Quinquagesimalzeit, die von Ostern bis Pfingsten dauert. Die in dieser Kirchenjahrzeit verlesenen Sonntagsevangelien sind mehrheitlich den sogen. Abschiedsreden Jesu an seine Jünger entnommen, wie sie im Johannesevangelium in den Kapiteln 14 bis 16 aufgeschrieben sind. Jesus spricht darin immer wieder von seinem Hingang zum Vater und von der daraufhin folgenden Sendung des Heiligen Geistes, und mit Himmelfahrt und Pfingsten als den Höhepunkten der festlichen Quinquagesimalzeit hängen nun auch die beiden Kantaten zusammen, die im heutigen Konzert erklingen.

Wer da gläubet und getauft wird, der wird selig werden

Das Fest der Himmelfahrt Jesu wird am 40. Tag nach Ostern gefeiert. Dieses Datum wird im   Himmelfahrtsbericht des Lukas (Apostelgeschichte 1, 1-11) erwähnt, der am Himmelfahrtsfest als Epistel verlesen wird. Das Evangelium stammt aus dem Markusevangelium (16, 14-20), wo von den letzten Erscheinungen des Auferstandenen bei den Jüngern, seinem Missions- und Taufbefehl und seinem Aufgehobenwerden in den Himmel die Rede ist. Aus diesem ganzen Komplex hat der unbekannte Kantatendichter der Kantate BWV 37 als Wichtigstes die erste Hälfte des Verses 16 herausgenommen: "Wer da gläubet und getauft wird, der wird selig werden", um deren Hauptbegriffe "Glaube" und "Taufe" er seinen ganzen Text kreisen lässt. Der Dichter erweist sich dabei als sehr bibelkundig, lassen sich doch viele der von ihm verwendeten Begriffe wie Lebensbuch, Pfand, Siegel, gerecht allein durch Glauben direkt aus der Bibel   ableiten. Formal besteht die Kantate aus den sechs Teilen: neutestamentliches Bibelwort, Arie, Choral, Rezitativ, Arie, Choral, was sie mit verschiedenen Kantaten gemeinsam hat, die ebenfalls im Frühsommer des Jahres 1724 in Leipzig aufgeführt wurden.

Bachs Vertonung ist, was die Verwendung der Instrumente betrifft, für das wichtige Fest der Himmelfahrt Christi verhältnismässig bescheiden. Zu den Streichern kommen zwei Oboi d'amore; auf Hörner, Pauken und Trompeten wird verzichtet. Interessant ist, dass das aus dem Evangelium stammende, die Kantate einleitende Jesuswort: "Wer da gläubet und getauft wird" nicht vom Bass als der Stimme Christi gesungen wird, sondern vom vierstimmigen Chor. Vielleicht kann dies damit erklärt werden, dass die einstmalige Verheissung Jesu mittlerweile Bestandteil der kirchlichen Verkündigung geworden ist. Drei Themen, die bereits in der Orchestereinleitung vorkommen, werden später vom Chor aufgenommen. Das erste Thema, gespielt von den Oboen, ist hymnisch getragen, das zweite, gespielt von den Violinen, erinnert mit seinen Tonwiederholungen an das Lutherlied "Dies sind die heilgen zehn Gebot", das dritte absteigende liegt im Bass und ist mit der Schlusszeile des Liedes "Wie schön leuchtet der Morgenstern" identisch, ohne dass es freilich erwiesen wäre, dass diese Liedanspielungen von Bach bewusst gewollt waren. "Blauer Himmel" liege über der Himmelfahrtskantate "Wer da gläubet und getauft wird, der wird selig werden", sagte Albert Schweitzer. Das hängt wohl vor allem damit zusammen, dass nur die positive erste Hälfte des Jesuswortes verwendet wurde, während die harte zweite Hälfte fehlt: "Wer aber nicht gläubet, der wird verdammt werden."    

Vorwiegend um diesen Glauben geht es nun im weiteren Verlauf der Kantate. In der Tenorarie Nr. 2 wird er als Unterpfand der Liebe Jesu für die Menschen beschrieben und als kostbares Geschenk - "Kleinod" - an sie bezeichnet. Wie der Eingangschor, so steht auch diese Arie in A-Dur. Leider ist die originale Stimme der mitspielenden Solovioline verloren gegangen, an deren Stelle eine Rekonstruktion erklingt. Der Choral Nr. 3 nimmt mit der 5. Strophe des Liedes "Wie schön leuchtet der Morgenstern" von Philipp Nicolai den Gedanken der seit Ewigkeit bestehenden Liebe Gottes auf und schildert mit den Bildern des Hohenliedes die mystische Vereinigung mit ihm. Über einem durchgehenden, bewegten Instrumentalbass singen die Sopran- und die Altstimme kanonisch einsetzend die Choralmelodie, diese je nach Textinhalt leicht modifizierend. Sehr eindrücklich ist, wie im Sopran die Wiederholung des Stollens eine Oktave höher erklingt. Sollte die Kantate trotz ihrer Kürze zweiteilig aufgeführt worden sein, was auch schon angenommen wurde, so würde nun die Predigt folgen. Dadurch könnte der so ganz andere Tonfall des folgenden Rezitativs Nr. 4 seine Erklärung finden. Denn auf die innige Brautmystik des Chorals folgt nun eine eher lehrhafte, im Römerbrief des Paulus (Kapitel 3,28) begründete und von Luther übernommene Definition des Glaubens als der alleinigen Möglichkeit, vor Gott gerecht und selig zu werden. Alles anders als lehrhaft ist freilich Bachs Vertonung, der die Bedeutung dieses Zentrums lutherischen Bekenntnisses mit einem seiner wunderbaren ausinstrumentierten Seccorezitative hervorhebt. Ob freilich die hier singende Bassstimme als Stimme Christi zu verstehen ist, wie einmal vermutet wurde, bleibt zweifelhaft. Vom Textinhalt her ist wohl eher an die ermahnende Rede eines Theologen zu denken, dem vielleicht der ganze Kantatentext zu verdanken ist. In der sich anschliessenden dreiteiligen Bassarie Nr. 6, bei der das Gesamtinstrumentarium mitwirkt, geht es - den ganzen Kantateninhalt zusammenfassend - noch einmal um die drei zentralen   Begriffe: Glaube - Taufe - Seligkeit, von denen der geschenkte Glaube das wichtigste ist. Um ihn wird auch im Schlusschoral "Den Glauben mir verleihe" des in der Reformationszeit in Basel als Dichter, Sprachlehrer und Pädagoge wirkenden Johann Kolrose noch einmal gebeten.

Also hat Gott die Welt geliebt

Pfingsten, das am 50. Tag nach Ostern gefeierte Fest der Ausgiessung des Heiligen Geistes, zählt neben Weihnachten und Ostern zu den Hochfesten der christlichen Kirche. Alle drei wurden in Leipzig zur Zeit Bachs dreitägig begangen. Da Pfingsten von alters her auch Taufdatum war, nehmen die Lesungen des zweiten und dritten Pfingstfeiertages auf das Thema der Geist- und Wassertaufe Bezug. Am Pfingstmontag, auf den die Kantate BWV 173 "Erhöhtes Fleisch und Blut" gehört, wird erzählt, wie auf den Heiden Kornelius während einer Predigt des Petrus der Heilige Geist herab fiel, worauf Kornelius dann auch mit Wasser getauft wurde (Apostelgesch. 10, 42-48). Als Evangelium dieses Tages wird eine wichtige, das Heilsgeschehen von der Geburt Christi bis zu seinem Kreuzestod zusammenfassende Stelle aus dem Johannesevangelium  (3, 16-21 verlesen. Sie steht dort im Kontext des Gesprächs, das Jesus mit dem Pharisäer Nikodemus über die Wiedergeburt aus Wasser und Geist geführt hat, und ihre zentrale Botschaft lautet: "Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben" - alle, das meint   im Fall des Kornelius auch die Nichtjuden, "alle, die an ihn glauben", das meint die Rettung aller Glaubenden, was Heinrich Schütz in seiner Geistlichen Chormusik durch die mehrfache Wiederholung des Wortes "alle" ganz besonders hervorgehoben hat. Und wie wird nun in der Kantate von Bach diese Evangelienlesung verarbeitet? Letzten Endes ganz ähnlich, wie dies in der Himmelfahrtskantate geschehen ist. Auch jetzt wird nämlich nur die positive Seite betont: "Wer an ihn glaubt, wird nicht gerichtet", während die negative Seite: "Wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet" weggelassen wird. Es entsteht dadurch ein durchgehend von der Freude geprägtes Werk, das sich freilich formal von der Himmelfahrtskantate unterscheidet. Auffälligstes Merkmal ist dabei das bei Bach seltene Fehlen eines Chorals.

Dies hängt damit zusammen, dass die Kantate BWV 173 als Ganzes eine Parodie der Kantate BWV 173a "Durchlauchtster Leopold" ist, die Bach wahrscheinlich auf den 10. Dezember des Jahres 1722 für den Geburtstag des Fürsten Leopold in Köthen komponiert hatte. Als Kantate für den 2. Pfingstfeiertag wurde sie wohl erstmals im Jahr 1724 verwendet, wobei auch verschiedene   Aufführungen aus späterer Zeit bezeugt sind. Wie immer bleibt die Umwandlung von weltlich zu geistlich eine erstaunliche Tatsache - an Stelle des Landesvaters Leopold tritt Gottvater! Das war freilich in der Barockzeit weniger befremdlich als heute, da ja der Fürst damals als Stellvertreter Gottes auf Erden angesehen wurde. Ganze Textpartien, besonders solche des Rühmens, Dankens und Lobens, konnten deshalb von der Geburtstagskantate zusammen mit ihrer Musik direkt in die Pfingstkantate übernommen werden. Das geschieht vor allem in den Arien Nr. 2 und 3. Es macht aber die besondere Qualität der neuen Kantate aus, dass darin auch die wichtigsten Gedanken der Festtagslesungen ihren Platz gefunden haben. Das ist einerseits vom Evangelium her die an Weihnachten erinnernde Bedeutung der Menschwerdung des Sohnes Gottes, durch die das von ihm angenommene menschliche Fleisch und Blut in staunenswerter Weise selbst erhöht und der Mensch so schon auf Erden des Höchsten Kind wird. Das wird ­im Eingangsrezitativ mit der abschliessenden Wiederholung der ersten Zeile eindrücklich vertont. Und das ist andererseits von der Epistel her die kräftige Wirkung, die der Pfingstgeist mit seinen Gnadengaben auf den Menschen ausübt. Diese beiden Aussagen werden nun in den drei Strophen des Duetts Nr. 4 kombiniert und in einer sich steigerndenVariationenform vorgetragen, erst vom Bass und Sopran einzeln und dann von beiden Stimmen zusammen, wobei sich zu den Streicher sukzessive die beiden Flöten gesellen - ein nach Alfred Dürr ganz ungewöhnlich konzipierter Satz, der übrigens in der weltlichen Urform die Bezeichnung "Al tempo di Minuetto" trägt. Auch das Rezitativ Nr. 5, das in ein längeres Arioso übergeht, ist ein Duett, während die Pfingstkantate - anders als die weltliche Glückwunschkantate - nicht mit einem Duett, sondern mit einem Chorsatz endet. Das von Bach dazu verwendete musikalische Material ist das gleiche, der Text aber entfernt sich vom Original und nimmt noch einmal auf den Pfingstgeist mit seinen Gaben Bezug.

Dr. theol. Helene Werthemann