Bachkantaten in der Predigerkirche

 

 

Christ lag in Todesbanden

Die alten, einstimmigen Ostergesänge üben eine eigentümliche, archaische Kraft aus. Im modalen Raum der Kirchentonarten nahezu schwebend vermitteln sie eine melodische Weite, die von einem kosmischen Bewusstsein kündet, das dem mittelalterlichen Menschen noch selbstverständlich war. Mit der zunehmenden Mehrstimmigkeit gegen Ende des Mittelalters sowie der Etablierung der Terz als Konsonanz entsteht ein individuell wahrzunehmender psycho-akustischer Innenraum. Er entspricht den humanistischen Bestrebungen, den Menschen als Mittelpunkt des Kosmos zu sehen.  

Auf der Grundlage der mittelalterlichen Ostersequenz Victime paschali laudes des Wipo von Burgund (um 990-1050) und der Weise Christ ist erstanden schuf Martin Luther 1524 das heute noch sehr beliebte Lied Christ lag in Todesbanden. In der Barockzeit erfuhr dieser Choral wie andere grosse Lieder Martin Luthers (z. B. Nun komm der Heiden Heiland) eine einschneidende Modernisierung durch die Einführung von Leittönen. Sie bestätigen das Grundtongefühl einer melodischen Phrase. Die Melodie folgt nun barocken Kadenzmustern und wird gewissermassen etwas mehr geerdet. Zur levitas kommt die gravitas. Es ist auffallend, dass gerade die Künstler zur Zeit des Barocks sich vermehrt diesem ständigen Spannungsfeld ausgesetzt sehen; so entfaltet sich ihre Kunst und Musik zwischen Erdenschwere und Himmelsleichtigkeit.

 

BWV 4

Die Entstehungsgeschichte der Kantate BWV 4 ist unklar. Aufgrund ihrer Kompositionsart gilt sie als die vermutlich früheste Kantate Bachs, komponiert für den ersten Osterfeiertag 1707. Zu diesem Zeitpunkt bewarb Bach sich um die Stelle des Blasiusorganisten in Mühlhausen. Stimmenmaterial ist jedoch nur aus der Zeit 1724/1725 erhalten. Demnach scheint Bach im zweiten und dritten Leipziger Amtsjahr die Kantate zu Ostern mit einigen Anpassungen wieder aufgenommen haben. Welcher Art diese Änderungen sind, kann nach dem jetzigen Stand der Bachforschung aber nicht genau gesagt werden. Unserer heutigen Aufführung liegt die Fassung von 1725 zu Grunde.

Bach arbeitet hier mit den Elementen eines Kantatentypus des 17. Jahrhunderts, wie wir sie aus Kompositionen der Bachvorfahren und anderer mitteldeutscher Komponisten kennen. Es sind Variationstechniken, die auch in vielen Orgelpartiten und -Variationen auftreten. Mehrere auffallende Ähnlichkeiten mit der Kantate Pachelbels, "Christ lag in Todesbanden", lassen vermuten, dass Bach diese Komposition gekannt haben muss. Anders als Pachelbel, der den cantus firmus melodisch immer in der unveränderten Gestalt bringt (d-c-d-f-g-f-e-d), chromatisiert Bach den ersten melodischen Schritt (d-cis-d-f ...) durchwegs und erzielt dadurch wie oben beschrieben eine stärkere finale Richtung.

Werfen wir einen genaueren Blick auf die Gestalt dieser Musik des 22jährigen Bachs. Vertraut mit den späteren Bestandteilen einer Bachkantate mögen wir zunächst die Elemente Rezitativ und Arie vermissen, ebenso konzertante Einflüsse und Da-Capo-Formen. Dafür lässt sich eine Konzentration der kontrapunktischen Techniken erkennen. In den Chorsätzen (2+4) ist fast jedes Motiv aus dem Material des Chorals abgeleitet. Die weitgehend colla parte geführten Instrumente verwenden kleine Motive, die als Diminutionen der Choralmelodie erkannt werden können. Sogar in der kurzen 14(!)-taktigen instrumentalen Sinfonie erklingen (mit einer Ausnahme) nur Tonbeziehungen, die durch die Choralmelodie vorgegeben sind. In den Arien und Duetten löst sich Bach von der strengen Choralbindung; gleichzeitig treten jedoch zahlreiche ostinate Bassfiguren auf, die ihrerseits wieder stark affekt- und richtungsbestimmend sind. Hier wäre an die alte Wortbedeutung von Ostinato denken: hartnäckig bleibt der Bass bei seinem Gang und lässt sich nicht davon abbringen; ein Bild für das mit dem Tod ringende Leben.

 

Tradition und Innovation

Von der Vielfalt des Tonmaterials und von seiner inneren Dramatik her betrachtet bietet die Melodie "Christ lag in Todesbanden" bereits so viele Möglichkeiten, dass Bach hier primär nach bewährten traditionellen Kompositionsmodellen arbeiten kann. Dieser Zusammenhang erscheint auch inhaltlich begründet: Wo der Text von "Banden"-"erstanden" spricht, liegt die Bindung und Lösung (von Dissonanzen) nahe, ebenso die primäre Bindung an einen älteren Stil. Um so mehr fallen die Momente der Kantate auf, in denen ein von herkömmlichen Modellen abweichender, überraschender Gestus ins Spiel kommt. So z.B. die fortgesetzten Oktaven in Vers 2 ("den Tod niemand zwingen kunnt"), die entlarvte Todesgestalt in der Mitte von Vers 3 ("da bleibet nichts denn Tods Gestalt"), die enge Kanonbildung in Vers 4 ("Wie ein Tod den andern frass") und der übergrosse Sprung des Basses in das Reich des Todes (Vers 5: "das hält der Glaub' dem Tode für"). Die folgende Übersicht zeigt den Aufbau von BWV 4.

 

 

 


Christ lag in Todesbanden, Bapstsches Gesangbuch, Leipzig 1545

 

Sinfonia

Streicher

fünfstimmiger Satz

Vers 1

Christ lag in Todesbanden

Chor vierstimmig, c.f. im Sopran

Vers 2

Den Tod niemand zwingen kunnt

Duett Sopran-Alt, basso ostinato

Vers 3

Jesus Christus, Gottes Sohn         

Trio Tenor, Violine, basso ostinato

Vers 4

Es war ein wunderlicher Krieg      

Chor vierstimmig, c.f. im Alt

Vers 5

Hier ist das rechte Osterlamm

Bass, 5stimmiger Streichersatz

Vers 6

So feiern wir das hohe Fest

Duett Sopran-Tenor, basso ostinato

Vers 7

Wir essen und wir leben wohl

Chor, vierstimmiger Choralsatz

 

Erfreut euch, ihr Herzen

Diese Kantate entstand für den zweiten Ostertag. Erhalten sind Textdrucke für den 10. April 1724 und den 26. März 1731. Die überlieferte Partitur spiegelt hingegen einen späteren Aufführungszeitpunkt (um 1735). Die Kantate beginnt mit einem festlichen, konzertanten Eingangschor. Sie entfaltet eine frische, gleichsam jauchzende Kraft. Die Mitwirkung der Trompete ist eine Option, wie man dem autographen Titel entnimmt: "è una tromba se piace". In battaglia-artigen Figuren und schnellen Läufen streben die Geigen in die höchsten Höhen bis in die 6. Lage (a'''), und auch die Bässe loten den gesamten Tonraum bis in die Tiefe aus. Einem barocken Menschen dürfte hierbei sonnenklar gewesen sein, dass mit diesen Klangeffekten Christi Höllenfahrt und Auferstehung versinnbildlicht werden. Das Auferstehungsereignis erfasst den ganzen Kosmos. Dass die Einleitungsabschnitte wie auch der Mittelteil des Eingangssatzes ("Ihr könnet verjagen das Trauren") weitgehend nur von zwei Vokalstimmen bestritten wird, mag den später konsequent verfolgten dialogischen Charakter der ganzen Kantate vorbereiten.

Die Vertonung der ersten Zeilen "Erfreut euch, ihr Herzen, entweichet ihr Schmerzen" scheint in ihrer Melodieführung etwas merkwürdig: So sind manche Worte entgegen ihrer natürlichen Betonung und melodischen Gestalt gesetzt. Als unbefangener Hörer mag man sich ganz in den schwingenden Duktus des Osterjubels hinein geben. Ist man hingegen gewohnt, Bachs Wort-Ton-Beziehung als Einheit zu erleben, ergibt sich hier eine Schwierigkeit, die hellhörig macht. Sollte Bach - wie schon so oft - auch hier die Musik zu dieser Kantate vielleicht bereits früher verwendet und den Oster-Text erst nachträglich eingeführt haben? Mit solchen Fragestellungen ist bereits der Bachforscher Friedrich Smend um 1950 auf die Tatsache gestossen, dass Bach in der Tat für BWV 66 eine frühere weltliche Kantate parodiert hat. Es handelt sich um die 1718 für den Fürsten Leopold entstandene Glückwunsch-Serenata "Das frohlockende Anhalt" BWV 66a auf einen Text von Christian Friedrich Hunold, genannt Menantes. Der dem Eingangschor von 66 entsprechende Schlusschor in 66a lautet: "Es strahle die Sonne, es lache die Wonne, es lebe Fürst Leopold ewig beglückt." Da nur der Text überliefert ist, lässt sich die Originalgestalt höchstens formal rekonstruieren. Jedenfalls ist anzunehmen, dass Bach bis zu der vermutlich letzten Version von 1735 in verschiedenen Etappen Veränderungen vorgenommen hat. Wie bei anderen Parodien Bachs ist die Beschäftigung mit der weltlichen Vorlage auch hier aufschlussreich. In diesem Fall möge aber der Hinweis auf die dialogisch angelegten Textpassagen genügen. Diese Struktur mag Bach auch für einen Ostertext als geeignet empfunden haben.

 

Furcht und Hoffnung

Aus den beiden Gesprächspartnern "Fama" und   "Glückseligkeit Anhalts" wird in der Osterkantate ein Dialog zwischen Furcht und Hoffnung. Wie in der Echoarie aus dem Weihnachtsoratorium oder dem Gespräch zwischen der Seele und Jesus in der Arie "Wann kommst du, mein Heil?" (BWV 140) arbeitet Bach in den beiden Duetten (Satz 4 und 5) mit minimalen textlichen Verschiebungen

Hoffnung
"Mein Auge sieht den Heiland auferweckt. Es hält ihn nicht der Tod in Banden."

Furcht
" Kein Auge sieht den Heiland auferweckt. Es hält ihn noch der Tod in Banden."

Furcht
"Ich furchte zwar des Grabes Finsternissen."

Hoffnung
"Ich furchte nicht des Grabes Finsternissen."

Furcht
"Und klagete, mein Heil sei nun entrissen."

Hoffnung
"Und hoffete, mein Heil sei nicht entrissen."

Indem beide Stimmen die gleiche Melodie verwenden, deutet Bach an, wie nahe Todesfurcht und Auferstehungshoffnung beieinander liegen. Ein Wort, ein Buchstabe, ein Vorzeichen entscheidet darüber, mit welcher Perspektive wir weiterleben. Ohne auf die am Ostermontag verlesene Emmausgeschichte (Lk. 24, 13-35) näher einzugehen, trifft Bach mit dieser feinen Dialogkomposition die besondere Stimmung, in der sich die beiden Jünger befunden haben müssen: Verwirrt von den Ereignissen der letzten Tage, bangend zwischen Furcht und Hoffnung, kann ihnen erst die Begegnung mit dem Auferstandenen zur Gewissheit verhelfen. Sie erkennen ihn in den Zeichen von Brot und Wein. So kann die Furcht schlussendlich sagen: "Der Gott, der Wunder tut, hat meinen Geist durch Trostes Kraft gestärket, dass er den auferstandenen Jesum merket." (Satz 4)

Der fünfte Satz - ein Duett mit konzertierender Violine - changiert noch einmal zwischen Furcht und Hoffnung. Die fast ununterbrochene Motivik der Geigenfiguren entfaltet allerdings vorwiegend einen kämpferisch-sieghaften Charakter. "Nun ist mein Herze voller Trost, und wenn sich auch ein Feind erbost, so will ich in Gott zu siegen wissen." Dieser Gedanke des Trostes wird nun auch im Schlusschoral aufgegriffen, dem dreifachen Halleluja des Osterliedes Christ ist erstanden: "Des solln wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein."

Jörg-Andreas Bötticher