Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   

Für den heutigen Sonntag wurden Kantaten ohne feste kirchenjahreszeitliche Bestimmung ausgewählt. Dem schweren und nachdrücklichen Gestus der Kantate BWV 1083, "Tilge, Höchster, meine Sünden" steht der weitgehend heitere Charakter der Choralkantate BWV 117, "Sei Lob und Ehr dem Höchsten Gut" als starker Kontrast gegenüber.

Tilge, Höchster, meine Sünden

Diese Kantate nimmt in vieler Hinsicht eine Sonderstellung unter Bachs Kantaten ein. Es handelt sich um eine Bearbeitung des 1736 entstandenen Stabat Maters von Giovanni Battista Pergolesi. Ohne dessen Namen zu nennen, betitelt Bach im autographen Particell (einer Art verkürzter Partitur) "Psalm 51. Motetto a due Voce, tre stromenti e Continuo". Merkwürdig scheinen die Verwendung des Wortes Motetto und der Verzicht auf die Angabe des ursprünglichen Verfassers. Im barocken Verständnis waren musikalische Themen und deren Verarbeitung allerdings Allgemeingut, vergleichbar der Idee der Standards im Jazz, zu denen jeder Spieler seine eigenen Versionen liefert. So ist auch die Liste der Themen und Werke anderer Komponisten, die Bach bearbeitet hat, relativ lange: Konzerte von Vivaldi, Marcello, Torelli, Telemann und Johann Ernst von Sachsen-Weimar, Sonaten von Reincken, Kantatensätze von Telemann, Conti, Knüpfer und Rosenmüller, Messsätze von Bassani, Durante, Kerll, Lotti und Palestrina, ein Magnificat von Caldara, Passionspasticci von Händel und Keiser, Fugenthemen von Corelli und Legrenzi u.a. Dabei beschränkt sich Bach in der Regel auf eine eigene Instrumentierung und wenige kompositorische oder formale Veränderungen, oder er passt die Vorlage an andere Instrumente an (oft Tasteninstrumente) und fügt Verzierungen hinzu. Im Fall der vorliegenden Kantate gehen seine 1746/47 vorgenommenen Eingriffe jedoch wesentlich weiter:

(1) Anstelle des originalen, aus 20 dreizeiligen Versen bestehenden Textes der mittelalterlichen Stabat-Mater-Sequenz schreibt Bach oder sein anonymer Textdichter eine gereimte Fassung des 51. Psalms. Dieser Psalm gehört zu den sieben Busspsalmen und schien Bach wohl für den von Pergolesi vorgegebenen Affekt am geeignetsten. (2) An etlichen Stellen passt Bach die Melodieführung der Solostimme dem neuen Text an. (3) Die bei Pergolesi oft parallel zum Bass geführte Bratschenstimme erfährt eine Aufwertung, indem Bach ihr eigenständige, bisweilen konzertierende Figuren zuschreibt. Dies ist besonders ohrenfällig in Versus 5, 7, und 8. (4) Aufgrund des Psalmtextes vertauscht Bach die letzten beiden Sätze Pergolesis. (5) Das nun etwas kurz geratene Schluss-Amen in f-Moll lässt er in F-Dur wiederholen und erzielt so einen überraschend fröhlich-zuversichtlichen Schluss. (6) Den in Pergolesis Vorlage schon reichlich vorhandenen Spielanweisungen (Artikulationsbezeichnungen, Dynamik, Verzierungen) fügt Bach weitere sehr detaillierte Angaben hinzu. Dabei zeigt er sich auf der Höhe des neuen galant-empfindsamen Stils, wie er in Dresden und Berlin praktiziert wurde. (7) Abweichend von Pergolesi differenziert Bach den Streichersatz in Solo- und Ripienostellen und schafft damit grössere dynamische Kontraste.

All diese Eingriffe zeugen von einem sorgfältigen Aneignungs- und Durchdringungsprozess und geben keinen Anlass zu der Vermutung, Bach hätte hier aus Not schnell auf ein Werk eines anderen Komponisten zurückgegriffen. Im Gegenteil, er scheint von Pergolesis Werk so begeistert gewesen zu sein, dass er sich die meditativ-verdichtete Qualität dieses einmaligen Passionswerks nicht entgehen lassen wollte und mit der Bearbeitung nach Wegen gesucht hat, es auch im lutherischen Gottesdienst einsetzen zu können. Diese Kantate oder Motette, die in der Neuen Bachausgabe übrigens erst seit wenigen Jahren vorliegt, wirft zudem die ketzerische Frage auf, ob sich unter das Kantaten-Corpus Johann Sebastian Bachs nicht noch weitere Kantaten geschlichen haben, die auf nicht-bachische Vorlagen zurückzuführen wären.


Sei Lob und Ehr dem höchsten Gott

Als Grundlage der Kantate BWV 117, deren Entstehungszeit auf 1728-1731 einzugrenzen ist, wählt Bach den gleichnamigen neunstrophigen Choral von Johann Jacob Schütz (1673). Dieser Choral gehört zu den Lob- und Dankliedern und wurde - worauf Hans-Joachim Schulze unlängst hingewiesen hat - in zeitgenössischen Gesangbüchern aus Bachs Umfeld dem 12. Sonntag nach Trinitatis zugeordnet. Jeder Vers schliesst mit der Aufforderung "Gebt unserm Gott die Ehre", einem auf 5. Mose 32, 3 zurückgehenden Lobgesang. Bach belässt den Text unverändert und komponiert zu jedem Vers einen Satz. Die refrainartige Wiederholung "Gebt unserm Gott..." schafft in ihrer kompositorischen Umsetzung gewisse formale Schwierigkeiten; sie schliesst beispielsweise eine normale Da Capo-Form der Arien von vornherein aus. Bach gelingt es jedoch, diese Aufgabe jedes Mal anders zu lösen. Einerseits bedient er sich eines verkürzten Da Capos, welches nur die instrumentalen Vorspiele wiederholt (1, 3, 9). Andererseits baut er gewissermassen eine grosse Da Capo-Form auf, indem er zum Schluss die letzte Choralstrophe der Musik des Eingangschores unterlegt.

Der Eingangssatz beginnt als tänzerisches Instrumentalritornell. Im Leitmotiv der Oberstimmen ist das Tonmaterial der ersten Choralzeile versteckt. Beginnend mit dem Bass wechseln sich Dreiklangsbrechungen in allen Stimmen ab; sie erzeugen den Eindruck eines klangvollen Vorwärtsstrebens. Nach 24 Takten setzt der Chor mit einem relativ schlichten vierstimmigen Choralsatz ein, der nur mit wenigen Durchgangsnoten aufgelockert ist ("Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut, dem Vater aller Güte"). Dabei spielen sich die verschiedenen Stimmgruppen des Orchesters das Dreiklangsmotiv gegenseitig zu. Überraschenderweise verzichtet Bach auf die übliche Wiederholung der ersten zwei Choralzeilen. Während er in der 3. und 5. Choralzeile die drei unteren Chorstimmen locker imitatorisch mit einem bewegteren Bass einsetzen lässt, verfährt er in der vierten und sechsten wieder schlichter. Die siebte und letzte Zeile stellt das Motto "Gebt unserm Gott die Ehre" vor; zur Bekräftigung lässt Bach die Unterstimmen diese Aufforderung gleich dreimal wiederholen. Unterdessen erklingt im Orchester bereits wieder das Da Capo des Anfangsritornells. Durch die in Orchester und Chor unterschiedlich langen, zum Teil einander überlagernden Formelemente erreicht Bach in diesem mit 100 Takten üppigen Eingangschor eine spannende Balance zwischen formaler Vielfalt und einheitlichem Gestus - reiches, überschwängliches Gotteslob.

Die weiteren Sätze lassen die drei unteren Gesangsstimmen in Arien und Rezitativen zu Wort kommen. Möglicherweise stand Bach für diese Kantate ein Knabe zur Verfügung, der zwar "notdürftig den Choral singen" konnte,   wie er selbst im "Entwurff einer wohlbestallten Kirchenmusic" 1730 schrieb, aber für figurale Sachen, sprich Arien nicht geeignet war. So lässt es sich erklären, weshalb bei einer neunteiligen Kantate keine Sopranarie vorgesehen ist. Dabei darf allerdings die Aufgabe, einen Choral sauber und kräftig gegen ein ganzes Orchester und drei starke Unterstimmen singen zu können, ja nicht unterschätzt werden...

Das Bassrezitativ (2) geht aus einem freien Duktus ins Arioso über und wiederholt die Worte "Gebt unserm Gott allein die Ehre" viermal. Die anschliessende Tenorarie (3) ist ein schönes Beispiel eines mit einer relativ einheitlichen Melodik durchgestalteten Quattuors. Sinnigerweise unterstreichen die langen Koloraturen die Haupt-Sinnwörter dieses Satzes: halten - walten - Königreich - Ehre. Im 4. Versus, einem Choralsatz mit vielen bewegten Durchgängen, greift Bach auf den vollen Klang des Einleitungssatzes zurück. Vermutlich wurde danach die Predigt gehalten.

Das Altrezitativ (5) wird als Accompagnato von einem Streichersatz begleitet. Dabei ist es naheliegend, dass der Streicherklang entsprechend des Textes für die göttliche Präsenz steht, die "die Seinen stetig hin und her" leitet. Nahtlos schliesst sich der Textrefrain an. Hier führt Bach ein vom Choral abgeleitetes Motiv an, das er auch im zweiten Teil der folgenden Bassarie (6) wiederholt und somit die beiden Sätze kunstvoll verschränkt. Dieses fein gearbeitete Trio für Bass, Violine und Basso Continuo spricht von Trost und Hilfe, Mangel und Überfluss. Bach kreiert nun kein die gegensätzlichen Begriffe verbindendes Motiv, sondern komponiert sorgfältig und beweglich am Text entlang, malt sozusagen jedes Wort auf eine eigene Weise. Besonders anschaulich sind die rhetorischen Pausen nach dem Wort "nirgend" und das spürbare sich Beruhigen auf das Wort "Ruh". Der 7. Versus, ein langsam-feierlicher Tanzsatz, könnte einer Orchestersuite entstammen. Die meist in der hohen Oktave spielende Traversflöte verdoppelt zu Beginn die Linie der ersten Geige und gibt ihr leuchtenden Glanz. Danach folgt sie in lieblichen Terzen, Sexten oder Oktaven der Altstimme, während das Orchester sich auf kurze Einwürfe beschränkt. Gleichsam ermutigt durch diese konzertante Aufgabe wagt sich die Flöte auch in einem kurzen orchestralen Zwischenspiel zu solistischen, fast übermütigen Einwürfen, um aber kurz darauf wieder zur ursprünglichen Aufgabe   zurückzukehren. Ein letztes, knappes Rezitativ (8) leitet zur Grundtonart zurück, woran sich die Wiederholung des Eingangschores, aber diesmal mit der Schlussstrophe anschliesst. Ein grandioser formaler Effekt, den Bach äusserst selten angewendet hat (bekanntestes Beispiel: 4. Kantate des Weihnachtsoratoriums, "Herrscher des Himmels").

Für einmal haben wir in dieser Bachkantate aufgrund der unverändert übernommenen Choralstrophen keine Betrachtung des Leides oder der Sündhaftigkeit der Welt. Von wenigen kurzen Textpassagen abgesehen hat Bach hier primär die Freude am Lob Gottes in Musik gesetzt. Die spürbare jugendliche Unverbrauchtheit lässt an den Ausspruch Jesu denken: "Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über" (Mt. 12, 34).

Jörg-Andreas Bötticher