Bachkantaten in der Predigerkirche
 
   
   
Schau, lieber Gott, wie meine Feind (BWV 153)

In der Weihnachts- und Neujahrszeit 1723/1724 verwöhnte der im Frühjahr 1723 angetretene neue Thomaskantor die Leipziger mit einem ebenso reichen wie anspruchsvollen Musikprogramm: Am 1. Weihnachtsfeiertag konnten sie morgens um 7.00 Uhr zu St. Thomas die Kantate "Christen, ätzet diesen Tag" und das für Leipzig neu komponierte Sanctus D-Dur (BWV 238) hören. Wer später aufstehen wollte, hatte die Gelegenheit, die Kantate um 9.00 Uhr in der Universitätskirche zu erleben, und all diejenigen, die erst nach dem Mittagessen in die Kirche gehen wollten, konnten sie mitsamt dem gleichfalls neu komponierten Magnificat (BWV 243a) beim Vespergottesdienst in der Nikolaikirche hören. Am 26.12. wurden morgens um 7.00 Uhr in der Nikolaikirche die (neue) Kantate "Darzu ist erschienen der Sohn Gottes" (BWV 40) sowie das Sanctus und zum Vespergottesdienst um 13.30 Uhr dieselbe Kantate und das Magnificat in St. Thomas geboten. Am 27.12., dem dritten Weihnachtstag, konnte man im Frühgottesdienst in St. Nikolai die (neue) Kantate "Sehet, welch eine Liebe" (BWV 67) und am Neujahrstag die Kantate "Singet dem Herrn ein neues Lied" (BWV 190, gleichfalls neu komponiert) morgens in der Nikolai- und am frühen Nachmittag in der Thomaskirche hören.

In diesem Jahr fiel Neujahr auf einen Samstag, so dass der 2. Januar der "Erste Sonntag nach Neujahr" war und als solcher gleichfalls mit Musik versehen werden musste. Das änderte nichts daran, dass am 6. Januar bereits das nächste anspruchsvolle Fest anstand: Epiphanias mit der doppelt in St. Thomas und St. Nikolai aufgeführten neu komponierten Kantate "Sie werden aus Saba alle kommen" (BWV 65), und drei Tage später wurde zum 1. Sonntag nach Epiphanias wiederum ein neues Kantatenwerk aufgeführt, "Mein liebster Jesus ist verloren" (BWV 154).

Es ist und bleibt schleierhaft, wie nicht nur Bach, sondern auch seine Mitstreiter diesen musikalischen Härtetest bewältigten: die aus dem Familien- und Schülerkreis stammenden Kopisten, die mit fliegender Feder Stimmen schreiben mussten sowie die Thomaner und die Instrumentalisten des "Stadtmusik-Kollegiums", die schwierige und schwierigste Partien in Windeseile zu lernen und konzertreif aufzuführen hatten. Immerhin meint man heute, die relativ bescheidene Ausstattung der Kantate "Schau, lieber Gott, wie meine Feind" mit nur drei Solisten, zwei Violinen und Basso Continuo sowie einer musikalischen Faktur, die auf anspruchsvolle Chorsätze verzichtet, sei darauf zurückzuführen, dass Bach seine Musiker im Hinblick auf die Herausforderungen der jüngsten Vergangenheit und der nahen Zukunft nach Möglichkeit habe schonen wollen.

Herausgekommen ist gleichwohl ein Juwel - ein Dialog zwischen einer gepeinigten Seele und Gott. Der unbekannte Textdichter lässt sich durch das Evangelium und die Epistel des zugehörigen Sonntags anregen: die Erzählung von der Flucht nach Ägypten und dem bethlehemitischen Kindermord (Matthäus 2, 13-23) sowie den ersten Petrusbrief (4, 12-19), "Vom Ausharren in der Verfolgung". Bach beginnt mit dem vierstimmig ausgesetzten Choral nach dem Lied "Schau, lieber Gott" von David Denicke (1646), in dem die christliche Seele sich von den Feinden "Teufel, Fleisch und Welt" bedroht sieht und Gott um Verhinderung großen Unglücks bittet. Im folgenden Rezitativ wird die Angst ausgedrückt, "Löwen und Drachen" wollten "mir mit Wut und Grimmigkeit in kurzer Zeit den Garaus völlig machen". Dann erhebt sich die Stimme Gottes, eingehüllt in das Jesaja-Wort "Fürchte dich nicht, ich bin mit dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit" (41, 10). Wie immer, wenn bei Bach Gott oder Christus das Wort ergreifen, wird die Partie vom Bass ausgeführt und um der größtmöglichen Eindeutigkeit willen das Instrumentarium auf das Continuo beschränkt. Im Tenor-Rezitativ steigert sich die Not der gequälten Seele womöglich noch, worauf im Choral "Und ob gleich alle Teufel", der fünften Strophe aus dem Paul Gerhard-Lied "Befiehl du deine Wege" (1653), Zeugenschaft abgelegt wird, dass Gott seine Gläubigen nicht im Stich lassen wird. In der folgenden Tenorarie schickt Bach den Sänger und die Instrumentalisten mit wild rüttelnden 32tel-Ketten, scharfen Punktierungen und chromatischen Extremen durch "Trübsalswetter", "Fluthen" und "Unglücksflammen". Aber nun hat die Seele Gottes Stimme verinnerlicht, und zu den Worten "Ich bin dein Hort und Erretter" hält sie den Stürmen mit neuer Ruhe stand.   Mit einem Rezitativ, das erst die tödliche   Bedrohung des Jesuskindes durch Herodes und dann - mit ariosem Tempo- und Satzwechsel - die im Petrusbrief thematisierte Bereitschaft ausdrückt, in Erwartung des Himmelreichs freudig mit Jesus zu leiden, wird eine Brücke zur Schlussarie gebaut: zu einer sich im Dreiertakt wiegenden Tanzmusik,   in der in einfachem, homophonem Satz zunächst das irdische Leiden als Freude vermittelt und dann mit einem Tempowechsel (Allegro) fröhlich die seligen Himmelsfreuden besungen werden.


Alles nur nach Gottes Willen (BWV 72)

Die beiden Kantaten "Alles nur nach Gottes Willen" (BWV 72) und "Ich steh' mit einem Fuß im Grabe" (BWV 156) gehören zum 3. Sonntag nach Epiphanias und damit zur Erzählung von der Heilung eines Aussätzigen und eines Gichtbrüchigen (Matth. 8, 1-13). Die zugehörige Lesung aus dem Römerbrief des Paulus (12, 17-21) mahnt zu christlicher Lebensführung.

"Alles nur nach Gottes Willen" wurde erstmals am 27. Januar 1726 aufgeführt. Der Text der Kantate   stammt von Salomon Franck (1659-1725) und ist getragen von der freudigen Bereitschaft des christlichen Ich, sich Gottes Geboten zu unterwerfen, womit Franck eher indirekt auf den Evangelientext eingeht. Die Dichtung ist wohl vor allem als Echo auf das Großereignis zu verstehen, das nach dem Bericht des Matthäus unmittelbar vor den Wunderheilungen stattgefunden hat - auf die Bergpredigt, in der Jesus Gottesglauben und Mitmenschlichkeit lehrt. Entsprechend ereignisreich geht es im Eingangschor zu:   Kraftvoll beginnen Oboen, Bratsche und Basso continuo mit einem markanten viertaktigen Motiv, das die erste und zweite Zählzeit betont - ein Rhythmus, der die Hörer bald lehren wird, dass hier die musikalische Gestaltung des Wortes "Alles" vorbereitet wird. Gelockert wird diese strenge Struktur durch die beiden Violinen, die einander in kunstvollem Wechsel dergestalt   Sechzehntel-Figuren zuspielen, dass der Hörer ein durchgehendes Auf- und Abwärtseilen zu vernehmen meint. Bald mischt sich die Bratsche und schließlich auch der Bass in dieses Spiel ein, um es bei Einsatz des Chores an die Sänger abzugeben, die nun ihrerseits das "Alles"-Motiv mit dem zugehörigen Wort ausfüllen, um gleichzeitig die 16-Figurationen aufzunehmen, diesmal beginnend mit dem Sopran und kanonisch fortgesponnen in den drei tieferen   Stimmen.   Das vokal-instrumentale Wechselspiel setzt sich fort bis zu einem Ritornell der Instrumente, woraufhin die Musik zu den Worten "Gottes Wille soll mich stillen bei Gewölke [musikalisch veranschaulicht durch kanonisch geführte Sechzehntel diesmal von ,unten', vom Bass, nach ,oben'] und Sonnenschein", woraufhin also die Musik für kurze Zeit in ruhigeren Bahnen verläuft. Gleich darauf geht es in den Schlussteil, der die Motivik und Textur des ersten Teiles wieder aufnimmt. Eine wahrhaft festfreudige Beteuerung, wirklich ALLES nur nach Gottes Willen zu tun!

Ungewöhnlich ist auch das nachfolgende, in Recitativo, Arioso und Aria gegliederte Stück. Gleichzeitig enthält es einen direkten Bezug zum Evangeliums-Text: Dort tritt ein Aussätziger auf Jesus zu und spricht ihn in tiefem, zuversichtlichen Glauben an: "Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen". Salomon Franck macht daraus in seiner Dichtung mit den Worten "Herr, so du willt" eine zehnfache Reihung von Glaubensbezeugungen, mit denen der Christ angehalten wird, dem gläubigen Vertrauen des Aussätzigen nachzueifern. Bach folgt dieser Vorgabe mit dem Wechselspiel zweier rhythmischer Formeln zu diesen Worten, und in der anschließenden Arie lässt er den Alt in klar gliederndem 4/4-Takt, unterstützt von den beiden einander lebhaft kontrapunktierenden Violinen, nochmals seine Hingabebereitschaft an Christus beteuern. Mit der Sopranarie "Mein Jesus will es tun" schwebt, klangsinnlich veranschaulicht durch die Oboen, gleichsam eine Stimme von oben herab, die die Gläubigen der Treue Christi versichert, und mit dem Choral "Was mein Gott will, das g'scheh allzeit" aus der Feder Markgraf Albrechts von Brandenburg (1547) setzt Bach einen denkbar geeigneten Schlusspunkt zum Thema Gotteswillig- und -gläubigkeit.


Ich steh mit einem Fuß im Grabe (BWV 156)

Der Text zur Kantate BWV 156 stammt aus einem Zyklus von Kantatentexten, den Christian Friedrich Henrici (1700-1764), bekannt unter dem Künstlernamen Picander, 1728 als Cantaten auf die Sonn- und Festtage durch das gantze Jahr publizierte. Im Vorwort drückt er explizit die Erwartung aus, seine Dichtungen mögen "durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Capellmeisters Bach" in Leipzigs Kirchen zu Gehör gebracht werden. In welchem Maße sich diese Erwartung erfüllte, wissen wir nicht; es lässt sich aber nachweisen, dass Bach zumindest neun dieser Kantaten vertont hat, wenn auch nicht alle vollständig überliefert sind. "Ich steh' mit einem Fuß im Grabe" dürfte am 23. Januar 1729 uraufgeführt worden sein. Picanders Text kreist - angeregt durch den von Angst und Krankheit berichtenden Evangeliumstext - um die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz und die Bereitschaft des gläubigen Ich, sich vorbehaltlos Gottes Willen zu beugen.

Die Kantate beginnt mit einer "Sinfonia", einem wunderbar kantabelen Oboensolo mit Streicherbegleitung, das Bach nach Annahme der Bachforschung dem langsamen Satz eines verlorenen Oboenkonzertes entnommen hat. Überraschend schließt der Satz nicht auf der Tonika in F-Dur, sondern auf der Dominante, was die Hörerwartung mit besonderer Intensität auf die nachfolgende Arie lenkt. Hier geben die chorisch geführten Instrumente Violino 1, 2 und Viola das Thema der Tenorstimme vor, die den Sinn der über zwei Takte ausgehaltenen Note zu Beginn als musikalische Übersetzung von "Ich steh'" und die darauf folgende schrittweise abwärtsgerichtete Achtelbewegung als diejenige der Worte "mit einem Fuß" ausdeutet, während der Abwärtssprung im Quintintervall am Schluss der Viertaktperiode das "Grab" symbolisiert. Sich kunstvoll in diese Kontrapunktik einwebend, singt der Sopran den Sterbechoral "Machs mit mir, Gott, nach deiner Güt'" des Thomaskantors Johann Hermann Schein (1586-1630). Die Worte "Willst du mich meiner Sünden wegen ins Krankenbette legen ..." spielen auf die Erzählung vom Hauptmann zu Kapernaum an, der Jesus bittet, seinen gichtbrüchigen Knecht zu heilen, wobei bei Picander keine körperliche Krankheit, sondern die sündige Seele als Krankheitserreger gedeutet wird. In der Alt-Arie "Herr, was du willt" spielen die unisono gesetzten Violinen sowie Solo-Oboe, Altstimme und Continuo bei heiterer, im Dreivierteltakt daherkommender Grundstimmung aufs Eingängigste mit den Affekten von Freude auf der einen und Leid und Sterben auf der anderen Seite, und im Schlusschoral wird auf ein Kirchenlied von Kaspar Bienemann (1582) ein letztes Mal die in der Perikope vorgegebene Unterwerfungsbereitschaft unter den Gotteswillen zum Ausdruck gebracht: "Herr, wie du willt, so schicks mit mir".

Dagmar Hoffmann-Axthelm