Bachkantaten in der Predigerkirche
 
 
Gaudete in Domino semper
Der heutige dritte Adventssonntag hat von seinem Introitus aus dem Philipperbrief des Paulus (Kapitel 4, 4f.) den Namen "Sonntag Gaudete" erhalten: "Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Der Herr ist nahe!" Bei Paulus war mit diesem Nahesein des Herrn die Nähe der Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag gemeint. Im liturgischen Ablauf des Kirchenjahres rückte dann aber der Gedanke an die Nähe des jährlich zu feiernden Geburtsfestes in den Vordergrund, und so erklingen auch heute Abend – die Bedeutung dieses Festes vorweg bedenkend und in der Vorfreude darauf – zwei Bachsche Weihnachtskantaten. Dies geschieht, obwohl es in den Leipziger Gottesdiensten der Bachzeit vom 2. bis zum 4. Adventssonntag keine Figuralmusik gegeben hat, da die Adventszeit damals eine Zeit der ernsten Vorbereitung auf Weihnachten gewesen war so wie die Passionszeit auf Ostern.


Der Kantatendichter Georg Christian Lehms
Für einmal ist der Name des Dichters der beiden Kantaten, die heute aufgeführt werden, bekannt. Es ist Georg Christian Lehms (geb. 1684), der von 1710 bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1717 Hofbibliothekar und Hofpoet in Darmstadt gewesen war. Er war zu seiner Zeit ein bekannter und gesuchter Gelegenheitsdichter, verfasste Romane, galante Poesien, Opernlibretti, Kantatentexte für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres und als Hauptwerk ein Lexikon mit dem Titel "Teutschlands galante Poetinnen", in dessen Vorrede er erklärte, dass das weibliche Geschlecht so geschickt zum Studieren sei als das männliche. Lehms war Lutheraner, ein streitbarer in seiner Jugendzeit, er stand aber, ohne selbst Pietist zu sein, auch pietistischen Kreisen nicht ferne. Seine Kantatenjahrgänge kamen von 1711 an heraus und wurden von den Darmstädter Komponisten Christoph Graupner und Gottfried Grünewald benützt. Texte aus dem ersten Band mit dem Titel "Gottgefälliges Kirchen-Opffer" wurden aber auch von Bach vertont. Zehn der erhaltenen Bachkantaten gehen textlich auf Lehms zurück, wobei Bach sich besonders von Weihnachten 1725 an der Lehmschen "Andächtigen Betrachtungen", wie der Dichter seine Kantaten nannte, bediente. So erklang am 25. Dezember 1725 die Kantate BWV 110 "Unser Mund sei voll Lachens", am Stephanstag die Kantate BWV 57 "Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet" und am 3. Weihnachtsfeiertag die Kantate BWV 151 "Süsser Trost, mein Jesus kömmt". An Neujahr 1726 wurde die Reihe fortgesetzt.


Süsser Trost, mein Jesus kömmt
Es ist eine intime Kantate, mit der das heutige Konzert beginnt. Obwohl von Lehms für den Nachmittagsgottesdienstes des 27. Dezember gedichtet, vertonte Bach den Text für den Hauptgottesdienst am Morgen, verzichtete dabei aber auf ein grosses Orchester. Auch der über die Festtage stark beanspruchte Chor hatte am 27. Dezember nur den Schlusschoral zu singen. Diesem Schlusschoral gehen zweimal eine Arie und ein Rezitativ im Wechsel voran, wobei Lehms möglicherweise an eine einzige Solostimme gedacht hatte, während Bach die vier Sätze auf die vier Stimmlagen verteilte. Das wird dem Text insofern gerecht, als dieser um die eine wichtige Grundaussage kreist, die im Bassrezitativ Nr. 2 so formuliert wird: Gottes Sohn kommt vom Himmel auf die Erde hinunter in grösste Niedrigkeit und Armut, um die ganze Welt aus ihren Sklavenketten und ihrer Dienstbarkeit zu erretten. Und diese Grundaussage wird nun in jedem der vier Solosätze auf eine auch sprachlich je eigene Art betrachtet – im Infinitiv oder im Imperativ oder im Vokativ. Süssen Trost empfindet – und verbreitet – der Sopran in der Arie Nr. 1 beim Gedanken an Jesu Geburt. Es ist eine Da-capo-Arie, die molt' adagio beginnt und endet, in einem Vivace-Mittelteil aber der Freude lebhaften Ausdruck verleiht. Zur Singstimme gesellt sich eine Flöte, die mit reichen Melismen die im Text erwähnte Süssigkeit des Trostes darstellt. Das Bassrezitativ Nr. 2 ruft das eigene Herz zur Freude über die Menschwerdung Gottes auf. Es ist als Secco-Rezitativ vertont, wobei das Wort "ärmer" am Schluss (Gott will auf Erden ... noch viel ärmer werden) hervorgehoben wird. Dadurch wird die Verbindung zur Altarie Nr. 3 hergestellt: "In Jesu Demut kann ich Trost, in seiner Armut Reichtum finden." Diese Arie steht in Moll, gleichsam als Ausdruck des von Jesus erreichten Tiefpunktes, "seines schlechten Standes", aus dem dann doch gerade für das menschliche Ich Trost und Reichtum, Heil und Wohl und Segenskränze kommen. Die Altstimme wird hier von einer instrumentalen Obligatstimme aus Violinen, Viola und einer Oboe d'amore begleitet. Und nun wird im Tenorrezitativ Nr. 4 noch eine weitere Folge der Herabkunft des Gottessohnes erwähnt, nämlich die Öffnung des Himmels und das Aufleuchten des Lichtes der Seligkeit. Diese Aussage wird in der Form der Anrede an Christus gemacht, wobei ihm gleichzeitig das Versprechen gegeben wird, "so wollen wir dich auch dafür in unser Herze fassen". Nicht dieser Gedanke des Einswerden mit Christus wird aber im Schlusschoral aufgenommen, sondern derjenige des geöffneten Himmels: "Heut schleusst er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis." Der Schlusschoral knüpft so an die Eingangsarie an, in der ja auch schon davon die Rede war, dass die Menschen "nun zum Himmel auserkoren" sind.


Unser Mund sei voll Lachens
und unsre Zunge voll Rühmens

Mit Lob, Ehr und Preis wurde die Kantate BWV 151 beendet, mit Jubel beginnt die Kantate BWV 110. Sie gehört zu Lehms Andachten, die er für den Sonntagmorgengottesdienst gedichtet hat und die sich formal von den nachmittäglichen dadurch unterscheiden, dass es in ihnen keine Rezitative gibt. Sie bestehen vielmehr aus einem Wechsel von wörtlichen Bibelzitaten und frei gedichteten Arien. Die Bibelstellen wurden jeweils von Lehms selbst im 1711 gedruckten Textbuch angegeben, und man staunt einmal mehr über die Bibelkenntnis der damaligen Menschen, nicht nur der Theologen, sondern auch der Laien. Dabei ist es vielleicht als eine Besonderheit der Kantate BWV 110 zu bezeichnen, dass Lehms es wagt, den Bibeltext des Eingangssatzes leicht zu verändern. Da das, was im Psalm 126 als Zukunftshoffnung Israels in der babylonischen Gefangenschaft formuliert ist: "Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden", nach christlichem Verständnis an Weihnachten in Erfüllung gegangen ist, kann die alttestamentliche Aussage: "Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein" zur Aufforderung in der Gegenwart werden: "Unser Mund sei voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens". Von Bach wird die gross angelegte Lehmsche Kantate als festliche Weihnachtsmusik vertont, in der neben dem Chor und den vier Solisten ein volles Barockorchester mit Pauken und Trompeten mitspielt. Die Wirkung einer solchen Festmusik muss nach der musikarmen Adventszeit überwältigend gewesen sein.


Für den Eingangschor verwendete Bach eine bereits bestehende Komposition, nämlich die Ouvertüre der Orchestersuite Nr. 4 in D-Dur, wobei der Grave-Teil am Anfang und am Schluss nur vom Orchester gespielt wird, während der vierstimmige Chor in den fugierten Mittelteil meisterhaft – so Alfred Dürr – hineinkomponiert wurde. Es ist ein mitreissender Satz, in dem sowohl das Lachen zu hören ist, als auch die Grosstat Gottes zur Darstellung kommt. Diese Grosstat zu bedenken, nämlich Gottes Menschwerdung mit der Folge, "dass wir Himmelskinder sein", fordert die Tenorarie Nr. 2 auf. Sie steht mit zwei Soloflöten in einem wirksamen Kontrast zum prunkvollen Eingangschor. Auch beginnt mit ihr der Mollbereich, der von Bach über weitere Sätze beibehalten wird. Noch einmal aber wird im Satz Nr. 3 auf die Grösse Gottes, seines Namens und seiner Taten verwiesen, und zwar wiederum mit einer alttestamentlichen Bibelstelle: "Dir Herr ist niemand gleich" (Jeremia 10, 6). Bach hat den Text in der Form eines kurzen Rezitativs für Bass vertont, wobei die Streicher achtmal mit dem gleichen Motiv nach oben weisen. Dürr hat diesen Satz als eine "Kostbarkeit" bezeichnet. Was ist angesichts dieser Grösse Gottes der Mensch, so fragt die Arie Nr. 4. nach Psalm 8, 5: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst und des Menschen Kind, das du dich seiner annimmst?" Die Antwort darauf ist eine doppelte: Der Mensch ist, wie Hiob von sich selbst gesagt hat, ein Wurm, er ist aber auch, wie Paulus es im Römerbrief formuliert hat, Gottes Sohn und Erbe. Es ist wohl kein Zufall, dass es gerade die Altstimme ist, die diese mit einem "Ach Herr!" beginnende Arie zu singen hat. Begleitet wird sie von einer obligaten Oboe d'amore. Mit dem Lobgesang der Engel "Ehre sei Gott in der Höhe" (Lukas 2, 14) kehrt die Kantate nun aber zur eigentlichen Weihnachtsthematik zurück. Auch für diesen fünften Satz hat Bach eine bestehende Komposition wieder verwendet. Es ist der vierte Einlagesatz "Virga Jesse floruit" aus dem an Weihnachten 1724 aufgeführten Magnificat BWV 243a. Die Form musste allerdings stark verändert und dem neuen Text angepasst werden. Auch Tonart und Besetzung wurden neu; aus F-dur wurde A-dur und aus dem Duett für Sopran und Bass ein solches für Sopran und Tenor. Gleich geblieben ist aber die wiegende Grundhaltung des 12/8-Taktes. Es sind nicht die himmlischen Heerscharen, die hier machtvoll im Chor auftreten; man könnte sich das Stück wohl eher als "an der Krippe zu singen" vorstellen. Mit der Arie Nr. 6 bricht nun aber der Jubel des ersten Satzes wieder aus. Der Bassstimme ist hier eine konzertierende Trompete zugesellt, und ein Oboenchor geht mit den Streichern zusammen. Wenn allerdings im Mittelteil der Arie die "andachtsvollen Saiten" zum Lob Gottes aufgefordert werden, schweigen die Bläser – abgesehen von einem einzigen kurzen Einwurf der Trompete, um dann beim Da-capo-Teil wieder voll dabei zu sein. Ein schlichter vierstimmiger Choralsatz schliesst die Kantate mit einem doppelten Alleluja ab.

Dr. theol. Helene Werthemann