Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Wo stets ein kläglicher Gesang in die erschrocknen Ohren fällt - Trauerkantaten von Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann

Johann Sebastian Bach (1685-1750), Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit (Actus tragicus), BWV 106

Auch ohne die Bezeichnung "Actus tragicus", die sich nur auf einer Abschrift dieser Kantate aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts findet, liesse sich ihre Funktion als Trauerkantate erschliessen. Textlich folgt sie weitgehend einem Formular für "Tägliche Seuffzer und Gebet üm ein seliges Ende", das 1668 in Leipzig in Johann Olearius' Christlicher Bet-Schule gedruckt wurde. Und zur protestantischen ars moriendi gehörte das Memorieren solcher Trostsprüche, die im Leben ausgewählt, während des Sterbens gesprochen und schliesslich auch in der Trauerfeier thematisiert werden sollten. Demnach könnte sich die auf den ersten Blick bunte Mischung von Bibelzitaten und Choralversen um eine persönliche Wahl eines Verstorbenen handeln, die Bach in seiner Mühlhausener Zeit (wohl 1707) vertonte.

Anders als in den Leipziger Kantaten mit ihrer klar gliedernden Abfolge von Rezitativ und Arie zeigt sich im Actus tragicus eine kleingliedrigere Aneinanderreihung einzelner Abschnitte. Aber es würde sich nicht um eine Komposition Bachs handeln, würden sich darin nicht gleichwohl eine klare Disposition mit vielfältigen Aspekten einer einheitlicheren Durchgestaltung der Abschnitte finden (insbesondere in der zentralen Chorfuge "Es ist der alte Bund", aber auch in der Tonartendisposition usw.).

Die schon in der Besetzung mit je zwei Blockflöten und Gamben sowie Basso continuo als "stille Musik" gekennzeichnete einleitende Sonatina gibt die musikalische Grundstimmung vor (mit der Tempoangabe Adagio molto, einem 'Zittern' der Streicher mittels Bogenvibrato und berührende Echo-Effekte der Blockflöten). Der folgende Choral bietet die textliche Grundaussage: Der unausweichliche Tod ist eine göttliche Fügung, die freudig anzuerkennen ist und darin Trost schafft. Zeilenweise setzt Bach eine andere musikalische Faktur ein (Tempo, Taktart, Charakter) und nutzt die Gelegenheiten, musikalisch-rhetorische Figuren einzusetzen. So ist das "weben" auch musikalisch verwoben, "lange" semantisch mit ausgehaltenem Ton umgesetzt, "sterben" mit Chromatik verbunden. Den inhaltlichen zentralen Nachsatz "wenn ER will" setzt Bach deutlich ab, um nochmals pointiert auf die Allgewalt Gottes hinzuweisen. Eine in diese Zäsur hinein erklingende melodische Abwärtsfigur der Blockflöte wird im direkt anschliessenden Tenor-Solo "Ach, Herr!" aufgegriffen, wobei die musikalische Szene mitsamt ihren Akteuren wieder wechselt. Der hier vorgetragenen Bitte, die Unausweislichkeit des Todes verstehen zu lernen, folgt eine fast forsch vorgetragene Ermahnung im Bass-Solo "Bestelle dein Haus!", sich auf den Moment des Todes vorzubereiten.

Wiederum direkt schliesst die Chorfuge "Es ist der alte Bund" von Bass, Tenor und Alt an, die in ihrer strengen Form die Unerbittlichkeit des Todes wie vielleicht auch die Strenge der alttestamentarischen Botschaft versinnbildlicht. Eine markante verminderte Quinte im Thema verleiht dem Satz einen schmerzlichen Charakter. Zunächst zwischen den insgesamt dreimal wiederholten Fugenteilen, dann aber auch parallel und schliesslich allein sich behauptend erklingt der Sopran mit dem Ruf "Ja, Herr Jesu, komm!". Dies könnte für die Gegenbotschaft des Neuen Testaments und die vom Schrecken des Todes erlösende Kraft Jesu' stehen. Nicht genug, Bach zitiert zusätzlich als Kommentar in der Instrumentalbegleitung die Choralmelodie "Ich hab' mein' Sach' Gott heimgestellt". Am Schluss behält der Sopran buchstäblich das letzte Wort, während die Begleitung allmählich 'erstirbt' und sich in Stille verflüchtigt. Der Abschnitt endet mit einer außergewöhnlichen Pause (für den Tod bzw. die Ewigkeit), nachdem als letzte Worte "Herr Jesu", der Grund der Erlösung, erklang.

Der folgende Teil - Alt-Solo "In deine Hände befehle ich meinen Geist" und gemeinsames Duett mit dem Bass "Heute wirst du mit mir im Paradies sein ", der Alt zitiert dazu das Lutherlied "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" - zeigt das Resultat, vertraut sich der Mensch Gott an: aus dem gefürchteten Sterben wird ein sanfter und stiller Schlaf. So endet auch die Musik, mit einem auskomponierten Piano. Am Ende der Kantate steht ein positiv-heller Choral "Glorie, Lob, Ehr   und Herrlichkeit", gefüllt mit einem 'Jubilus' der Flöten, dessen Schlusszeile "Durch Jesum Christum, amen" als allegro-Fuge mit Steigerung zum Schluss hin gestaltet ist. Das schließende "Amen" wird zur Bekräftigung mehrfach wiederholt, ein letztes Mal mit einem Echo der Instrumente.

 

Georg Philipp Telemann (1681-1767), Du aber, Daniel, gehe hin, TWV 4:17

Die Aufführung einer Komposition von Georg Philipp Telemann in einer ausschliesslich Werken Johann Sebastian Bachs gewidmeten Reihe könnte merkwürdig erscheinen. Es wäre aber ungerecht, für eine Paarung von Telemanns Trauer-Kantate "Du aber, Daniel" und Bachs Actus Tragicus vor allem organisatorisch-praktische Gründe zu vermuten, indem für beide Werke eine ähnliche Besetzung (insbesondere die Beschäftigung von Blockflöten und Gamben) vonnöten ist. Gerade die Besetzung mit Gamben ist typisch für Trauer-Musik, wie etwa bei Buxtehude und anderen zu sehen ist. Und immerhin war Telemann der seinerzeit ungleich berühmtere Musikerkollege, der auch 1722 die erste Wahl des Leipziger Magistrats für den vakanten Posten des Thomas-Kantors gewesen war. Es gibt also mehrere gute Gründe, die beiden Kompositionen nebeneinander zu stellen.

Für welchen Anlass Telemann diese Kantate schrieb, ist unbekannt. So variieren in der Literatur auch die vorgeschlagenen Datierungen beträchtlich und reichen von seinen Eisenacher Tagen (1708-12), über seine Zeit in Frankfurt a. M. (1712-1720) bis zu seinen ersten Jahren in Hamburg (ab 1721). Diese zeitliche Streuung spiegelt aber nicht nur ein Forschungsproblem - so ist dem Komponisten Telemann bislang nicht annähernd so viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil geworden wie Bach, zudem wurde die einzige erhaltene Abschrift der Kantate bis vor kurzem mit dem Bestand der Berliner Sing-Akademie verloren geglaubt -, sondern hängt auch mit dem Stilwandel der Kantate zu Beginn des 18. Jahrhunderts zusammen, die eine genaue Datierung aus stilistischen Gründen erschwert.

Die Basis der Kantate und der Text des Eingangschores stammt aus dem Schluss des alttestamentarischen Buches Daniel (12,13), was von den anschliessenden Arien und Rezitative ausgedeutet wird. Am Ende seiner Phrophetien vom Ende der Zeit stellt Daniel die bange Frage: "Mein Herr / Was wird darnach werden?" und erhält die Auskunft, dass dies erst beim Jüngsten Gericht offenbart werde: "Du aber Daniel / gehe hin / bis das Ende komme / und ruhe / dass du aufstehest in deinem Teil / am Ende der Tage." Der rechtschaffend lebende und handelnde Christ hat also nichts zu befürchten und kann den Tod unbesorgt, ja freudig hinnehmen (Bass-Rezitativ "Mit Freuden folgt die Seele" und Arie "Du Aufenthalt der blassen Sorgen" im freudigen Dreiertakt). Da das irdische Leben eben nur ein "wüster Ort" ist, "wo stets ein kläglicher Gesang in die erschrocknen Ohren fällt", stellt sich der Tod als ersehnte Erlösung dar (Bass-Arie "Komm, sanfter Tod, du Schlafes Bruder"). Im zweiten Teil der fast symmetrisch angeordneten Kantate wird diese positive Bedeutung des ja nur aus irdischer Perspektive schmerzlichen Verlustes bestätigt und auf das Vorbild des Opfertodes von Jesus bezogen (Sopran-Rezitativ "Mit sehnendem Vergnügen" und Arie "Brecht, ihr müden Augenlider"). Das abschliessende Bass-Rezitativ nimmt wieder Bezug auf den erlösten Daniel und reflektiert erstmals den realen Schmerz angesichts des die Kantate veranlassenden Todesfalls ("Zwar schauen wir mit Seufzen und mit Sehnen die schwarze Totenbahre an"), verweist aber im gleichen Atemzug auf den tröstlichen Aspekt und leitet den Schlusschoral ein: "Schlaft wohl, ihr seligen Gebeine".

Die einleitende instrumentale Sonata, die nach Johann Mattheson "in einem kurtzen Begriff und Vorspiel eine kleine Abbildung desjenigen machen, so nachfolgen soll" zu geben hat, stellt (wie im Actus tragicus von Bach) den Ton vor: Sie greift zum einen den positiven Aspekt der 'Ruhe' auf, indem gleich am Beginn der Melodie ein langer Halteton steht und die harmonische Bewegung des Basso continuo entsprechend langsam verläuft. Zum anderen kündigen sich aber auch ein schmerzlicher Affekt an, wenn nach der Wiederholung des Themas eine Eintrübung der Stimmung durch fremdartige Modulationen mit Vorhaltsdissonanzen auftreten, die auch am Ende über einem tasto solo des Basso continuo nochmals anklingen. Damit sind zwei wesentliche Spannungspole - Ruhe und Schmerz - der Kantate exponiert, die im Folgenden immer wieder aufgegriffen werden.

So beginnt der vierstimmige Chorsatz homophon - wiederum die 'Ruhe' mit einer Verlangsamung des musikalischen Geschehens darstellend -, und wechselt erst zu "dass du aufstehest" in einen fugierten Abschnitt, die 'Auferstehung' mit einer Schichtung der Einsätze vom Bass bis zum Sopran versinnbildlichend. Solche wort-ausdeutenden musikalischen Figuren und Wendungen finden sich allenthalben in der Kantate, achtet man entsprechende Wörter wie eben 'ruhen', 'lachen' (mit einer das Lachen nachahmenden Figur) , 'kläglich' (mit Dissonanzen), 'fahren' (mit einer raumgreifenden Koloratur) usw. Sie finden sich aber auch in instrumentalen Partien, etwa in dem kurzen Einwurf nach der Bass-Arie "Du Aufenthalt ...", der mit einem Tremolo das nachfolgend thematisierte 'unruhige Meer' evoziert. Eine ähnliche Figur setzt Telemann auch im Arioso "Komm, sanfter Tod" ein, nun aber passend zum Textgehalt buchstäblich beruhigt.

Die Sopran-Arie "Brecht, ihr müden Augenlider" - ein anrührender Dialog zwischen Solo-Oboe und Stimme, dazu bietet ein in kleinen Notenwerten gehaltenes Unisono der Gamben einen filigranen kontrapunktischen Rahmen - hält weitere versinnbildlichende Momente bereit, wie das 'Durchbrochene' der Pizzicato- bzw. Staccato-Begleitung, wie auch der brechenden Lider und des erstarrenden Körpers, pointiert auch in der Singstimme beim wiederholten "brecht" des Textes.

Viele dieser musikalischen, figurativen Stilmittel finden sich auch im abschließenden Chor "Schlaft wohl ..." wieder, der fast wie ein Wiegenlied wirkt: Die lang gehaltenen Töne der Melodie (in den begleitenden Instrumenten) und das in grossen Notenwerten notierte und entsprechend langsamer gesungene "Schlaft wohl", oder die wie auf Zehenspitzen daherkommende Begleitung der Streicher. Ein Stimmungswechsel (mit coll'arco -Wechsel der Streicher) beim Hinweis auf die Verwesung und eine drastische Generalpause zu "Staub" deuten nochmals die Endgültigkeit des Todes an, bevor der tröstliche Chorabschnitt wiederholt wird.

Martin Kirnbauer