Bachkantaten in der Predigerkirche |
BWV 38 Einen stilistischen Umschwung führt die auf ein kurzes Rezitativ folgende Tenorarie herbei, die nach der düsteren Welt des Chorals ganz vom Gedanken des Trostes beherrscht wird. Trotz der durch die Oboen mit herbeigeführten weichen Klangfarbe weist der Satz eine Reihe kunstvoller Gestaltungsmittel auf, die von der Verwendung einer festgehaltenen Figur im Continuo bis hin zu sprechenden Synkopen in den Oberstimmen und textausdeutenden Figuren vor allem im Mittelteil reicht. Auch die Holzbläser treten immer wieder aus der schlichten Terz- und Sextführung heraus; Bachs Vertonung macht allenthalben klar, daß auch das ersehnte "Trostwort" dem Gläubigen nicht alle Beschwernis nimmt. Das folgende Rezitativ beweist einmal mehr Bachs Meisterschaft und Einfallsreichtum im Umgang mit dem Choral. Nicht zufällig ist es mit dem Zusatz "a battuta" (im strikten Taktschlag auszuführen) versehen worden - vielmehr verbirgt sich in seiner Baßstimme ein vollständiger Durchlauf der gesamten Choralmelodie. Der Satz nimmt somit ariose Züge an, ohne dabei auf eine überzeugende Darstellung des spannungsreichen Textes zu verzichten. Alfred Dürrs Ansicht, daß die Übernahme des Cantus firmus in den Baß eine subtile Strategie Bachs darstellt, um einen besonders weit vom Choral entfernten Text doch wieder an das Kirchenlied zu binden, hat sicher manches für sich. Bachs Terzette verdienten eigentlich eine eigene Darstellung. Der Thomaskantor scheint auf diese rare Besetzungsvariante stets besondere satztechnische Mühe verwandt zu haben. In unserem Fall beginnt das Stück mit einem Ritornell des Generalbasses, das mit seiner absteigenden und bohrenden Sequenz den Hörer direkt in den Satzverlauf hineinzuziehen scheint. Dieses musikalisch recht autonome Element vermag sich im Fortgang gegen die dichten Imitationen der Singstimmen zu behaupten; in gewisser Weise diente es Bach als Gewähr dafür, gegenüber der zu mancherlei Einzelausdeutungen einladenden Bildwelt des Textes ein nötiges Maß an struktureller Konstanz zu behaupten. Innerhalb des Satzverlaufes lassen sich zwei durch ein weiteres Continuoritornell getrennte und dabei sehr konträre Abschnitte ausmachen. Während im ersten Vokaldurchlauf engschrittig absteigende und dicht ineinander verschlungene Linien die "Ketten" des Unglücks nachzeichnen, bevor Bach mit einer heftigen Geste das "plötzliche" Verschwinden der Trübsal evoziert, verwandelt sich zu Beginn des zweiten Teils nicht nur der Textsinn in Freude und Zuversicht, auch die zuvor stetig nach unten sinkende Musik wird durch eine aufwärts strebende Dreiklangsbrechung wirksam ins Gegenteil verkehrt. Indem Bach aber mit der Zeile "nach dieser Nacht voll Not und Sorgen" erneut auf die Linienführung des tragischen Beginns einschwenkt und später auch das Ritornellmotiv des Basses in die Singstimmen übernimmt, führt er das Stück zu einem sowohl musikalisch als auch in seiner Textnachzeichnung überzeugenden Abschluß.
BWV 109 Weit entfernt davon, nur jenes knappe und "dogmenlastige" Zwischenspiel zwischen den vermeintlich "großen" und im eigentlichen Sinne "musikalischen" Sätzen einer Kantate zu bilden, als das der eilige Musikkonsument die barocken Rezitative nicht selten anzusehen scheint, entpuppt sich das erste Rezitativ als gleichgewichtiges Meisterwerk und dabei anrührender Dialog zweier Seelen in einer Brust, die hier durch ausdruckstarke Pausen, schroffe dynamische Gegensätze und unerwartete harmonische Ausweichungen charakterisiert werden. Bach hat die ungewöhnliche Dramaturgie einer Textvorlage dankbar angenommen, bei der von der üblichen Abfolge vom Zweifel hin zur Gewißheit keine Rede sein kann. Der Librettist erweist sich stattdessen als geschickter Prediger, der das Moment der bewussten Verunsicherung durch überlanges Ausbleiben der göttlichen Hilfe, das auch die Heilungsgeschichten des Evangeliums nicht selten prägt, bis zum Äußersten auszureizen wußte. Was in robustem B-Dur begann, endet nach mancherlei Wendungen in einem schmerzvollen Adagio-Arioso in e-Moll (!); Zuversicht und (Selbst-)Vertrauen weichen nahezu der Verzweiflung über die als unerträglich empfundene Gottesferne ("ach Herr, wie lange?"). Die folgende Arie nimmt diesen Ton auf und malt mit einer hochdramatischen Musik die Haltlosigkeit und Wankelmütigkeit des zwischen Hoffen und Bangen hin- und her gerissenen, "geängsteten" Herzens. Bach mobilisiert dafür das komplette Arsenal der spätbarocken Figurensprache und Affektausdeutung - neben dem bildhaften "Abreißen" der Melodielinie rufen scharfe Punktierungen und herabstürzende Triolenketten ein Bild der Unordnung und Ziellosigkeit hervor. Nicht einmal der B-Teil der ausgedehnten da capo-Arie vermag diesen Eindruck zu wenden - vielmehr scheint Bachs Vertonung mit ihren teils chromatisch absteigenden Harmonien über dem ausgehaltenen Wort "Schmerz" die geistliche Pein des Beters nur noch weiter steigern zu wollen. Kompositorisch gesehen, handelt es sich bei der Arie im Kern um einen virtuosen Triosatz zwischen Violine I, Tenor und Continuo, der durch die Mittelstimmen, die fast ausschließlich absteigende Passagen ausführen, wirkungsvoll aufgefüllt wird. Das Rezitativ Nr. 4, der kürzeste Satz des Werkes, bringt dennoch den lang erwarteten Umschlag und gleichzeitig den Übergang von der biblischen Erzählung zur aktuellen Ansprache an die Hörergemeinde ("weil Jesus jetzt noch Wunder tut"). Der hier noch verhaltene d-Moll-Schluß wird im F-Dur der folgenden Arie endgültig in eine andere Region überführt. Bach hat sich zusätzlich für einen Menuett-Rhythmus entschieden, der in demonstrativer, allerdings auch etwas trockener Weise für Erleichterung sorgt, ganz so, als solle die Bindung an ein gleichförmiges gebundenes Formmodell die haltgebende Rolle des Glaubens illustrieren. Was dem unbefangenen Hörer als das äußerlichste Stück der Kantate äußerlich erscheinen mag, kann auch als Ergebnis von Bachs Bemühen um eine klare und gehobene Sprechweise verstanden werden - ein von ihm relativ oft als Ausdruck für wiedergefundene Sicherheit verwendeter musikalischer Gestus. Im Schlußsatz greift Bach ein Formmodell auf, das ebenfalls auffällig viele seiner frühen Leipziger Kantaten prägt. An die Stelle einer schlichten Choralharmonisation hat Bach hier einen rhythmisch-motivisch sehr profilierten Orchestersatz gestellt, in den die einzelnen Choralverse zeilenweise eingearbeitet sind. Da Bach bereits eine seiner Bewerbungskantaten zu Estomihi 1723 ("Jesus nahm zu sich die Zwölfe" BWV 22) in dieser Weise abgeschlossen hatte, könnte es sich bei diesem Modell - als dessen bekannteste Ausformulierungen der berühmte Choral aus der Kantate BWV 147 (Jesus bleibet meine Freude) oder der Schlusssatz des Weihnachtsoratorium gelten können - nach Auffassung Peter Wollnys um eine in Leipzig beliebte Variante handeln, die sich bereits auf die Zeit Kuhnaus zurückführen lässt. Mit seiner Moll-Tonalität und dem etwas bärbeißigen Bewegungscharakter ist dieser Satz allerdings alles andere als ein heiterer Kehraus, was angesichts der verwendeten Liedstrophe aus dem Choral "Durch Adams Fall ist ganz verderbt" auch überraschen würde. Eher handelt es sich um eine kämpferische Zusammenfassung der im Kantatenlibretto in seltener Deutlichkeit ausgesprochenen Gegensätze.
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