Bachkantaten in der Predigerkirche
 

BWV 38
Aus tiefer Not schrei ich zu dir


Bachs geistliches Schaffen erstreckte sich über fast fünf Jahrzehnte und vollzog sich damit in einem in stetiger Veränderung begriffenen stilistischen Umfeld. Die Frage nach der relativen Modernität bzw. nach dem ihm später oft vorgeworfenen Konservatismus seiner Musik kann deshalb kaum in allgemeingültiger Weise beantwortet werden, sie stellte sich vielmehr zu unterschiedlichen Zeiten seines Wirkens immer wieder neu und anders.
In einer Reihe von Leipziger Kantatenchören hat Bach sich allerdings einer Kompositionsweise und Besetzung bedient, die bereits zu seinen Lebzeiten als eindeutig altertümlich und in spezifischer Weise traditionsgebunden aufgefasst werden musste. Entgegen der auch in seinen Choralkantaten dominierenden konzertanten Formen hat Bach sich in etwa zehn Fällen für eine streng motettische Setzweise entschieden, bei der allein die vier Singstimmen den Satz bestreiten, während die beteiligten Instrumente nur eine verdoppelnde Funktion übernehmen. In der Regel weisen diese Stücke zusätzlich die Besonderheit auf, daß diese colla parte, also "mit der Stimme" geführten Instrumente sich nicht auf Streicher und Holzbläser beschränken, sondern den als Klangfarbe ebenfalls archaischen und stark mit dem Choralgesang (insbesondere auch bei Beerdigungen) verbundenen Blechbläsersatz aus 3 bis 4 Posaunen mit und ohne Zink einbeziehen. Diese klassische "Stadtpfeiferbesetzung" muß Bach so fasziniert haben, daß er bereits bei seiner Leipziger Bewerbung zu Estomihi 1723 trotz knapper Vorbereitungszeit das fertig mitgebrachte Probestück "Du wahrer Gott und Davids Sohn" um einen Satz erweiterte, der diese Bläserbesetzung enthielt (es handelt sich dabei um den Choralchor "Christe, du Lamm Gottes", der später in die erste Fassung der Johannes-Passion einging). Daß Bach auch für den Eingangschor der am 21. Sonntag nach Trinitatis (29. Oktober) 1724 erstaufgeführten Kantate "Aus tiefer Not schrei ich zu dir" auf ein solches Arrangement zurückgriff, hängt gewiß mit Besonderheiten des zugrundeliegenden Liedes zusammen. Als auf Martin Luther zurückgehende Umdichtung des 130. Psalms konnte es als besonders ehrwürdig gelten; sein ernster Charakter und die markante phrygische Tonalität mögen überdies eine Behandlung in einem behutsam modernisierten "alten Vokalstil" (Stile antico) nahegelegt haben. Nicht zuletzt ist auch Bachs sechsstimmige Orgelbearbeitung dieses Chorals aus dem III. Teil der Klavierübung von 1739 einem ganz ähnlichen Satzprinzip verhaftet. Die dichten Imitationen der Unterstimmen bereiten dabei jeweils den Einsatz der Choralmelodie in breiten Notenwerten vor, der in den Kantate vom Sopran vorgetragen wird, während er in der Orgelfassung im Doppelpedal liegt.

Einen stilistischen Umschwung führt die auf ein kurzes Rezitativ folgende Tenorarie herbei, die nach der düsteren Welt des Chorals ganz vom Gedanken des Trostes beherrscht wird. Trotz der durch die Oboen mit herbeigeführten weichen Klangfarbe weist der Satz eine Reihe kunstvoller Gestaltungsmittel auf, die von der Verwendung einer festgehaltenen Figur im Continuo bis hin zu sprechenden Synkopen in den Oberstimmen und textausdeutenden Figuren vor allem im Mittelteil reicht. Auch die Holzbläser treten immer wieder aus der schlichten Terz- und Sextführung heraus; Bachs Vertonung macht allenthalben klar, daß auch das ersehnte "Trostwort" dem Gläubigen nicht alle Beschwernis nimmt.

Das folgende Rezitativ beweist einmal mehr Bachs Meisterschaft und Einfallsreichtum im Umgang mit dem Choral. Nicht zufällig ist es mit dem Zusatz "a battuta" (im strikten Taktschlag auszuführen) versehen worden - vielmehr verbirgt sich in seiner Baßstimme ein vollständiger Durchlauf der gesamten Choralmelodie. Der Satz nimmt somit ariose Züge an, ohne dabei auf eine überzeugende Darstellung des spannungsreichen Textes zu verzichten. Alfred Dürrs Ansicht, daß die Übernahme des Cantus firmus in den Baß eine subtile Strategie Bachs darstellt, um einen besonders weit vom Choral entfernten Text doch wieder an das Kirchenlied zu binden, hat sicher manches für sich.

Bachs Terzette verdienten eigentlich eine eigene Darstellung. Der Thomaskantor scheint auf diese rare Besetzungsvariante stets besondere satztechnische Mühe verwandt zu haben. In unserem Fall beginnt das Stück mit einem Ritornell des Generalbasses, das mit seiner absteigenden und bohrenden Sequenz den Hörer direkt in den Satzverlauf hineinzuziehen scheint. Dieses musikalisch recht autonome Element vermag sich im Fortgang gegen die dichten Imitationen der Singstimmen zu behaupten; in gewisser Weise diente es Bach als Gewähr dafür, gegenüber der zu mancherlei Einzelausdeutungen einladenden Bildwelt des Textes ein nötiges Maß an struktureller Konstanz zu behaupten. Innerhalb des Satzverlaufes lassen sich zwei durch ein weiteres Continuoritornell getrennte und dabei sehr konträre Abschnitte ausmachen. Während im ersten Vokaldurchlauf engschrittig absteigende und dicht ineinander verschlungene Linien die "Ketten" des Unglücks nachzeichnen, bevor Bach mit einer heftigen Geste das "plötzliche" Verschwinden der Trübsal evoziert, verwandelt sich zu Beginn des zweiten Teils nicht nur der Textsinn in Freude und Zuversicht,   auch die zuvor stetig nach unten sinkende Musik wird durch eine aufwärts strebende Dreiklangsbrechung wirksam ins Gegenteil verkehrt. Indem Bach aber mit der Zeile "nach dieser Nacht voll Not und Sorgen" erneut auf die Linienführung des tragischen Beginns einschwenkt und später auch das Ritornellmotiv des Basses in die Singstimmen übernimmt, führt er das Stück zu einem sowohl musikalisch als auch in seiner Textnachzeichnung überzeugenden Abschluß.
Ein wiederum um die dunkle Farbe der Posaunen angereicherter Choralsatz beschließt das überaus ernste Werk.

 

BWV 109
Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben!


"
Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben" - für dieses nur einzeilige Dictum wäre an sich eine Vertonung als Arioso für Solostimme und Instrumentalbegleitung die naheliegende und - als Äußerung eines einzelnen Beters - auch sprachlogisch korrekte Umsetzung gewesen. Nicht so jedoch in Bachs erstem Leipziger Kantatenjahrgang, als dessen Teil die Kantate BWV 109 am 21. Sonntag nach Trinitatis (17. Oktober) 1723 erstmals erklang. Bach hat in diesem ersten Amtsjahr neben überarbeiteten Kirchenstücken aus seiner Weimarer Zeit seinem Leipziger Publikum immer wieder Neukompositionen vorgestellt, die sich durch ausladende Dimensionen, farbenreiche Besetzungen und in jeder Hinsicht ungewöhnliche Lösungen auszeichneten und nach den musikalisch eher unauffälligen letzten Jahren seines Vorgängers Kuhnau für die Leipziger Stadtkirchenmusik eine spektakuläre Neubestimmung dargestellt haben müssen. Für das am Eingang stehende Wort aus dem Markus-Evangelium hat Bach daher eine Musik ersonnen, die die sehr persönliche Glaubensäußerung in ein kollektives Gemeindeerlebnis transformiert und dies mit der dunklen Klangpracht eines in Moll gehaltenen und offenbar nachträglich noch um ein Corno da caccia erweiterten Konzertsatzes verbindet.
Die Grundidee des Satzes besteht daher neben der eigentlichen musikalischen Invention - einem sprechend auftaktigen Aufwärtssprung mit nachfolgender Punktierung - in der Entfaltung eines strukturellen Verlaufs, der stark vom Wechsel zwischen in der Art eines Vorsängers agierenden Einzelstimmen und blockhaft hinzutretenden Tutti-Einwürfen geprägt ist. Nicht ganz ohne Grund hat deshalb Andrew Parrott gerade diesen Satz mit seiner auffällig solistischen Schreibweise als Argument für seine These einer durchgängigen Solobesetzung aller Vokalpartien herangezogen. Es macht dabei einen Teil der Meisterschaft dieses Stückes aus, dass es Bach gelingt, die solistischen Bögen dem Tutti nicht frontal entgegenzusetzen, sondern sie in organischer Weise aus der Akkordmasse heraus zu entwickeln und jeweils bis zu dem Punkt zu führen, an dem eine erneute Verdichtung und Stimmverstärkung notwendig erscheint. In diese unmittelbar aus dem Prinzip des Konzertierens abgeleitete Struktur, die auch den Orchestersatz auszeichnet, sind allerdings immer wieder dichte Imitationen eingearbeitet. Alfred Dürrs Eindruck, es handele sich um einen "auffallend locker gefügten" Eingangssatz, lässt sich angesichts der weithin eigenständigen Instrumentalstimmen und der äußerst planvoll angelegten Disposition der einzelnen Ensembleglieder nur bedingt nachvollziehen. Im Gegenteil, für den aufmerksamen Hörer entfaltet sich trotz der kontemplativen Grundstimmung des Satzes eine reichhaltige Klangwelt, die an die Stelle einer schematischen Zuspitzung des Materials eine Folge fließender Linien und verdichteter Klangfelder setzt, die die Grundaussage des Textes in immer neuer Beleuchtung vorstellen.

Weit entfernt davon, nur jenes knappe und "dogmenlastige" Zwischenspiel zwischen den vermeintlich "großen" und im eigentlichen Sinne "musikalischen" Sätzen einer Kantate zu bilden, als das der eilige Musikkonsument die barocken Rezitative nicht selten anzusehen scheint, entpuppt sich das erste Rezitativ als gleichgewichtiges Meisterwerk und dabei anrührender Dialog zweier Seelen in einer Brust, die hier durch ausdruckstarke Pausen, schroffe dynamische Gegensätze und unerwartete harmonische Ausweichungen charakterisiert werden. Bach hat die ungewöhnliche Dramaturgie einer Textvorlage dankbar angenommen, bei der von der üblichen Abfolge vom Zweifel hin zur Gewißheit keine Rede sein kann. Der Librettist erweist sich stattdessen als geschickter Prediger, der das Moment der bewussten Verunsicherung durch überlanges Ausbleiben der göttlichen Hilfe, das auch die Heilungsgeschichten des Evangeliums nicht selten prägt, bis zum Äußersten auszureizen wußte. Was in robustem B-Dur begann, endet nach mancherlei Wendungen in einem schmerzvollen Adagio-Arioso in e-Moll (!); Zuversicht und (Selbst-)Vertrauen weichen nahezu der Verzweiflung über die als unerträglich empfundene Gottesferne ("ach Herr, wie lange?").

Die folgende Arie nimmt diesen Ton auf und malt mit einer hochdramatischen Musik die Haltlosigkeit und Wankelmütigkeit des zwischen Hoffen und Bangen hin- und her gerissenen, "geängsteten" Herzens. Bach mobilisiert dafür das komplette Arsenal der spätbarocken Figurensprache und Affektausdeutung - neben dem bildhaften "Abreißen" der Melodielinie rufen scharfe Punktierungen und herabstürzende Triolenketten ein Bild der Unordnung und Ziellosigkeit hervor. Nicht einmal der B-Teil der ausgedehnten da capo-Arie vermag diesen Eindruck zu wenden - vielmehr scheint Bachs Vertonung mit ihren teils chromatisch absteigenden Harmonien über dem ausgehaltenen Wort "Schmerz" die geistliche Pein des Beters nur noch weiter steigern zu wollen. Kompositorisch gesehen, handelt es sich bei der Arie im Kern um einen virtuosen Triosatz zwischen Violine I, Tenor und Continuo, der durch die Mittelstimmen, die fast ausschließlich absteigende Passagen ausführen, wirkungsvoll aufgefüllt wird.

Das Rezitativ Nr. 4, der kürzeste Satz des Werkes, bringt dennoch den lang erwarteten Umschlag und gleichzeitig den Übergang von der biblischen Erzählung zur aktuellen Ansprache an die Hörergemeinde ("weil Jesus jetzt noch Wunder tut"). Der hier noch verhaltene d-Moll-Schluß wird im F-Dur der folgenden Arie endgültig in eine andere Region überführt. Bach hat sich zusätzlich für einen Menuett-Rhythmus entschieden, der in demonstrativer, allerdings auch etwas trockener Weise für Erleichterung sorgt, ganz so, als solle die Bindung an ein gleichförmiges gebundenes Formmodell die haltgebende Rolle des Glaubens illustrieren. Was dem unbefangenen Hörer als das äußerlichste Stück der Kantate äußerlich erscheinen mag, kann auch als Ergebnis von Bachs Bemühen um eine klare und gehobene Sprechweise verstanden werden - ein von ihm relativ oft als Ausdruck für wiedergefundene Sicherheit verwendeter musikalischer Gestus.

Im Schlußsatz greift Bach ein Formmodell auf, das ebenfalls auffällig viele seiner frühen Leipziger Kantaten prägt. An die Stelle einer schlichten Choralharmonisation hat Bach hier einen rhythmisch-motivisch sehr profilierten Orchestersatz gestellt, in den die einzelnen Choralverse zeilenweise eingearbeitet sind. Da Bach bereits eine seiner Bewerbungskantaten zu Estomihi 1723 ("Jesus nahm zu sich die Zwölfe" BWV 22) in dieser Weise abgeschlossen hatte, könnte es sich bei diesem Modell - als dessen bekannteste Ausformulierungen der berühmte Choral aus der Kantate BWV 147 (Jesus bleibet meine Freude) oder der Schlusssatz des Weihnachtsoratorium gelten können - nach Auffassung Peter Wollnys um eine in Leipzig beliebte Variante handeln, die sich bereits auf die Zeit Kuhnaus zurückführen lässt. Mit seiner Moll-Tonalität und dem etwas bärbeißigen Bewegungscharakter ist dieser Satz allerdings alles andere als ein heiterer Kehraus, was angesichts der verwendeten Liedstrophe aus dem Choral "Durch Adams Fall ist ganz verderbt" auch überraschen würde. Eher handelt es sich um eine kämpferische Zusammenfassung der im Kantatenlibretto in seltener Deutlichkeit ausgesprochenen Gegensätze.
Unter aufführungspraktischen Gesichtspunkten interessant ist das Vorhandensein einer originalen dritten Continuostimme, die Bachs originalen Zusatz "pro cembalo" trägt. Sie kann allerdings nur mit Vorsicht als Zeugnis für das heute immer beliebter werdende Doppel-Accompagnement herangezogen werden, da der Schreiber der Bezifferung nicht ermittelt ist und die Stimme daher auch zu einer späteren (auswärtigen?) Wiederaufführung ohne Orgel gehören kann.

Anselm Hartinger 2008