Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Die beiden Kantaten, die am heutigen 17. Sonntag nach Trinitatis erklingen, stammen beide aus dem zweiten Leipziger Amtsjahr Bachs. Es sind sogen. Choralkantaten, die im Jahr 1724 kurz nacheinander aufgeführt wurden, so die Michaeliskantate BWV 130 "Herr Gott, dich loben alle wir" am Freitag, dem 29. September, und die Kantate BWV 114 "Ach lieben Christen, seid getrost" zwei Tage später, d.h. am 1. Oktober, der damals der 17. Sonntag nach Trinitatis war. Auch wenn sie heute Abend aus musikalischen Gründen in umgekehrter Reihenfolge erklingen, lassen sie doch erahnen, was es für die Leipziger Gottesdienstgemeinde bedeutet haben könnte, dass den sonn- und festtäglichen Kantaten ein ganzes Jahr lang Choräle zu Grunde lagen. Deren Grundform war immer die gleiche, indem der Wortlaut der ersten und der letzten Strophe mit der Melodie zusammen beibehalten wurde, während die dazwischen liegenden Strophen in Rezitative und Arien umgedichtet wurden, so dass sie von Bach frei vertont werden konnten.

Das Lied "Ach lieben Christen, seid getrost" von Johann Gigas, das auf die Melodie "Wo Gott, der Herr nicht bei uns hält" gesungen wurde, war nicht ein auf den 17. Sonntag nach Trinitatis gehörendes Lied. In den zeitgenössischen Gesangbüchern war es bei den Liedern "Von göttlicher Regierung und Vorsorge" eingeordnet. Zum Sonntagsevangelium aus Lukas 14, 1-11 hat es keinen direkten Bezug. Darin wird von der   Heilung eines Wassersüchtigen am Sabbat erzählt und in einem zweiten Teil die Ermahnung zur Bescheidenheit gegeben: "Wer sich selbst erhöhet, der soll erniedriget werden, und wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden." Beide Gedanken sind vom unbekannten Kantatendichter im Bassrezitativ Nr. 3 aufgenommen und also gleichsam in das Lied von Johannes Gigas eingefügt worden: Die Wassersucht aus der biblischen Erzählung   ist dabei zur Sündenwassersucht geworden, von der der Mensch geheilt werden muss, und beim Hochmut des Menschen wird auf die Geschichte vom Sündenfall im Paradies verwiesen: Mit Adam hat er angefangen, als dieser von der verbotenen Frucht ass, um Gott gleich zu werden. Es ist wohl kein Zufall, dass diese textlichen Erweiterungen des Liedes, die im Zusammenhang mit dem Sonntagsevangelium stehen, von der Bassstimme als der Stimme Christi gesungen werden. Dem Rezitativ Nr. 3 voraus gehen der gross angelegte Choralchorsatz Nr. 1 und die Tenorarie Nr. 2: "Wo wird in diesem Jammertal für meinen Geist die Zuflucht sein?", in deren im 12/8-Takt stehenden Vivace-Mittelteil die Antwort auf die eingangs gestellte Frage gegeben wird: "Allein zu Jesu Vaterhänden will ich mich in der Schwachheit wenden". In dieser Arie spielt eine virtuose Querflöte mit, wie übrigens in vielen Kantaten der zweiten Hälfte des Jahres 1724. Bach hatte damals offenbar einen guten Flötisten, den er gerne einsetzte.

Die auf das Rezitativ Nr. 3 folgenden Sätze 4-7 hängen alle mit dem Schluss des Evangeliums zusammen: "Wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden." Dabei geht es in echt barocker   Weise vor allem um den Tod, durch den als einen Tiefpunkt - und das heisst auch ganz real durch Gruft und Grab - der Mensch erst zur himmlischen Herrlichkeit, zu Freiheit und Verklärtheit gelangt. Das wird im Satz Nr.4 mit dem biblischen Bild des Weizenkorns dargestellt, das nur dann Frucht bringen kann, wenn es zuvor in die Erde gefallen und gestorben ist. Text und Melodie des Chorals sind hier wörtlich beibehalten und werden vom Sopran zeilenweise über einen quasi-ostinaten Instrumentalbass gesungen. Von Zuversicht und Getrostheit ist die Altarie Nr. 5 geprägt: "Du machst, o Tod, mir nun nicht ferner bange". Es ist der einzige Satz der Kantate, der in einer Durtonart steht; die mitspielenden Instrumente sind Oboe und Streicher. Wie schon im vorhergehenden Choral, in dem die Rettung aus dem Tod durch Christi "Gang zum Vater", d.h. durch dessen Erlösungswerk, begründet wurde, so verdankt auch hier der Mensch seine Bewahrung in der Gruft und sein einstiges Gerufenwerden dem Heiland. Ein kurzes Tenorrezitativ leitet über zum vierstimmig gesungenen schlichten Schlusschoral, dessen Text die Grundgedanken von Lied und Kantate noch einmal zusammenfasst und vor allem auf den paulinischen Gegensatz Adam-Christus hinweist. Dieser ist auch aus dem Messias von Händel bekannt: "Sintemal durch einen Menschen der Tod kommt und durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn gleichwie in Adam alle sterben, also werden sie in Christo alle lebendig gemacht werden" (1. Kor. 15, 21f.).

Das Fest des Erzengels Michael, das am 29. September gefeiert wird, war ursprünglich das Weihefest einer Michaelskirche an der Via Salaria in Rom. Es wurde später zum Hauptfest des Heiligen Michael, und es wurde auch von Luther beibehalten, allerdings in der erweiterten Form als Fest Michaels und aller Engel. Michael, dessen Name "Wer ist wie Gott?" eine Kampfansage an den Satan bedeutet, ist nach Luther "Gottes Schlagdrein". Er hat seine Stätte im Westen als Schutz gegen die Dämonen der Nacht, und so ist z. Bsp. auch im Basler Münster auf dem Schlussstein des Gewölbes über der Orgel ein Michael im Kampf mit dem Drachen zu sehen. Michael wird aber auch als Seelengeleiter verehrt und häufig als Seelenwäger beim Jüngsten Gericht dargestellt. In der lutherischen Kirche hat sich der Brauch, an Michaelis einen Gottesdienst zu feiern, bis in die Bachzeit erhalten. Inhaltlich spielte dabei die Epistellesung aus der Johannesoffenbarung 12, 1-12 mit der Schilderung des Kampfes Michaels und seiner Engel gegen den Drachen eine grössere Rolle als das Evangelium aus Matthäus 18, 1-11, in dem vom Kindersinn die Rede ist und von den Schutzengeln dieser Kinder vor Gottes Thron. Es sei nur an Bachs Michaeliskantaten "Es erhub sich ein Streit", "Man singet mit Freuden vom Sieg" und an den Chorsatz "Nun ist das Heil und die Kraft" erinnert.

Der Choralkantate BWV 130 "Herr Gott, dich loben alle wir" liegt das zwölfstrophige Michaelislied zu Grunde, das Paul Eber im Jahr 1554 als deutsche Übersetzung eines lateinischen Liedes seines Freundes Philipp Melanchthon herausgegeben hat. Die Meloldie stammt aus dem Genfer Hugenottenpsalter und ist eine der eher seltenen musikalischen Anleihen, die die lutherische Kirche bei der reformierten gemacht hat. Es erklingt heute abend in einem vierstimmigen Bachsatz zwischen den beiden Kantaten. Der Text der Michaeliskantate BWV 130 ist in engem Anschluss an das Lied entstanden. In beider Verlauf wird über die Engel das Folgende gesagt: Sie sind Geschöpfe Gottes, immer seinen Thron umschwebend, sie sind aber auch als starke Helden für die Menschen da, eine nötige Wacht gegen den immer auf Böses sinnenden Satan. Zwei alttestamentliche Beispiele aus dem Danielbuch werden für den Schutz der Engel angeführt: Daniel, der in der Löwengrube nicht gefressen wird, weil ein Engel den Löwen die Rachen zuhält, und die drei Männer im Feuerofen, die nicht verbrennen, weil ein vierter Mann - ebenfalls ein Engel - sie schützt. Im Anschluss daran wird Gott als "Fürst der Cherubinen", der er ist, auch weiterhin um den Dienst der Engel für die Gläubigen gebeten - bis hin zu dem durch sie begleiteten gen Himmel-Fahren, wie es einst dem Propheten Elia im feurigen Wagen beschieden war (2. Könige 2,11).

Obwohl das Michaelisfest in der lutherischen Kirche nicht den gleichen Rang hatte wie die Hochfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten, verwendet Bach in der Kantate BWV 130 das volle Barockorchester mit drei Oboen, Pauken, drei Trompeten, Streichern und Continuo. Dabei verleihen die Trompeten und die Pauken nicht nur dem Choralchorsatz Nr. 1 und dem Schlusschoral Nr. 6 besonderen Glanz, sondern sie spielen auch in der Bassarie Nr. 3 "Der alte Drache brennt vor Neid" mit. Diese aussergewönliche Besetzung hängt mit dem Inhalt der Arie zusammen, in welcher der heftige Kampf zwischen den Engeln und ihrem gefährlichen Gegenspieler, dem Satan, geschildert wird. Ein "grossartiges Schlachtgemälde" hat es Alfred Dürr genannt. Was darauf folgt, könnte kontrastreicher nicht sein. Es ist das mit den Worten "Wohl aber uns" beginnende Duettrezitativ Nr. 4 für Alt und Tenor, in dem die Singstimmen von den Streichern begleitet werden, ein Satz voller Ruhe, die Geborgenheit der Menschen im Schutz der Engel abbildend. In der sich anschliessenden gavottartigen Tenorarie Nr. 5 "Lass, o Fürst der Cherubinen", die im alla breve Takt steht, wirkt wiederum wie in der Kantate BWV 114 die Flöte mit, die Bach damals dank dem Vorhandensein eines guten Spielers einsetzen konnte. Eindrücklich ist, wie im Mittelteil durch die Koloraturen der Singstimme und der Flöte das Emporgetragen-Werden der Seele in den Himmel dargestellt wird. Mit zwei Choralstrophen wird die Kantate abgeschlossen, Dank und Bitte ausdrückend, wobei die Zeilenenden jeweils von den einfallenden Trompeten und Pauken glanzvoll gekrönt werden.

Wenn eingangs gesagt wurde, die heutige Reihenfolge der Kantaten sei musikalisch bedingt, so sei zum Schluss darauf hingewiesen, dass zwischen beiden auch eine textliche Klammer besteht. Es ist das Lob Gottes, mit dem die erste Kantate endet: "Drum loben wir den Herren" und die zweite Kantate beginnt: "Herr Gott, dich loben alle wir". Heilsgeschichte, in der Schlussstrophe der Kantate BVW 114 in knappster Form zusammengefasst, ist der Grund für das Lob im ersten Fall, und im zweiten ist es die Existenz der Engel als unsichtbare Helfer der Menschen im Leben und im Tod.

Dr. theol. Helene Werthemann