Bachkantaten in der Predigerkirche
 

 

Die Choralkantaten nehmen in Bachs Leipziger Schaffen einen grossen Platz ein. Der Tradition der Liedvariationen der Renaissance folgend legt Bach nicht weniger als 40 seiner Kantaten evangelische Kirchenlieder zugrunde. Dabei geht er unterschiedlich mit der Vorlage des Choraltextes um; die Bandbreite reicht hier von einer strengen Befolgung des Textes, über eingeschobene Sätze mit ausgewählten Choralzitaten bis hin zu freien Umdichtungen. Für die Ecksätze hält er jedoch an der Choralvorlage fest. In Leipzig war es zumindest vor 1700 noch üblich, dass die Pastoren die als Liedmotette oder Kantate erklingenden Choräle dann auch als Grundlage für eine Liederpredigt verwendeten. Bachs Choralkantaten können durch ihren Text und die musikalische Umsetzung allerdings bereits als eigenständige Predigten gesehen werden, ist Bach doch ein "Prediger in Tönen" (Böhme 1985). Beide heute erklingenden Kantaten gehören zum ersten Choralkantatenjahrgang 1724; sie wurden am 2. bzw. 3. Sonntag nach Trinitatis erstmalig aufgeführt.

Ach Gott, vom Himmel sieh darein

Martin Luther schuf diesen Choral - ein reformatorisches Kampflied - 1524 als Umdichtung des 12. Psalms. Er steht im phrygischen Modus, der zu Luthers Zeit als cholerisch (Pareja 1492), von Bachs Zeitgenossen aber als "traurig und melancholisch" (Printz 1696) oder "zornig und sauerhafft" (Speer 1697) empfunden wurde. Bach eröffnet die Kantate mit einer Choralfuge im stile antico , der klassischen Vokalpolyphonie, die Bach sich durch das Studium der Werke seiner Vorfahren und Amtsvorgänger, Palestrinas, Frescobaldis, Kerlls u. a. und angeeignet hatte. Drei Merkmale kennzeichnen diesen besonderen Kompositionsstil: a) motettischer a-capella -Satz, rein vokal oder mit verdoppelnden Instrumenten, b) lineare Stimmführung in ruhiger Bewegung und c) bewusster Verzicht auf die Affektbezogenheit von Wort und Ton (Wolff 1968). Nach Mattheson darf dieser Stil allerdings nur "billig in geistlichen Sachen" verwendet werden, sofern man solche Sätze "kurz abfasst und mit anderen klüglich umwechselt".   Glücklicherweise hat Bach sich nicht an die Mahnung Matthesons gehalten, sondern gegen sein Lebensende vermehrt und noch konsequenter Werke im stile antico geschrieben, wie z.B. das 6stimmige Ricercar aus dem musikalischen Opfer (1747).

Streicher und Oboen, dazu vier Posaunen - damals gespielt von den Stadtpfeifern - verdoppeln die Vokalstimmen. Im Alt erklingt der cantus firmus "Ach Gott" in langen Notenwerten. Diese Kombination von Posaunenklang und alla breve -Stil verleiht dem Satz etwas Ernstes und Gravitätisches. Während Bach eine oder drei Posaunen in einem guten Dutzend seiner Werke verlangt, gibt es übrigens nur drei Kantaten sowie eine von ihm bearbeitete Palestrina-Messe, in denen vier Posaunen den Vokalsatz verdoppeln.

In den folgenden zwei Sätzen erscheinen nur kurze melodische Choralzitate. Die Altarie, die die Ketzerei und die "Rottengeister" anprangert, würde man zunächst etwas heftiger erwarten, dabei kommt sie im milden B-Dur als luftig-lockeres Stückchen daher. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich allerdings die Gleichzeitigkeit von ostinatem, hartnäckig beharrendem Bassrhythmus, 16teln der Gesangsstimme und galanten, "neumodischen" Triolenfiguren der Sologeige als feine Hermeneutik: Die Ketzerei erscheint als sanfte Verführung (vgl. den zweiten Choralvers: "Sie gleissen schön von aussen"). Das sorgfältig auskomponierte recitativo accompagnato des Basses greift in den ersten Begleitfiguren die charakteristischen Halbtonschritte des Chorals auf. Inhaltlich leitet es die Theologie des Kreuzes ein, die in der nachfolgenden Tenorarie elaboriert wird. Ein kurzes, prägnantes Ritornell mit gegenläufigen Bewegungen wird auf verschiedene Tonstufen versetzt und periodisch gegliedert. Dabei mag der Gedanke der Reinigung und der Bewährung im Vordergrund gestanden haben. Im Mittelteil wird dasselbe Motiv - leicht abgewandelt - zum Ausdruck der dabei notwendigen Geduld verwendet. Eine schlichte Vertonung der 6. Choralstrophe macht den Beschluss.

Johann Rudolf Ahle

Die zwei Werke von Bachs Amtsvor(vor)gänger in Mühlhausen, Johann Rudolf Ahle (1625 -1673) wurden als Ergänzung zu den heutigen Bachkantaten gewählt, weil sie einerseits annähernd die gleiche Besetzung verwenden und andererseits zeigen, welchen Kompositionsstil Bach 1707 in Mühlhausen als Tradition vorgefunden hat. Das geistliche Konzert "Zwingt die Saiten in Cythara" über die zweite Strophe des bekannten "Morgenstern"-Liedes stammt aus Ahles Neu-gepflanzten Thüringischen Lust-Gartens dritter und letzter Theil (Mühlhausen 1665). Ein Violinduo, ein Vokaltrio und ein Bläserquartett dialogisieren; dabei verarbeitet Ahle die Motivik der einzelnen Choralzeilen äusserst vielfältig und fantasievoll: als Instrumentalkonzert, homophoner Satz, als Choralfughette und im Diminutionsstil. Die kleine Choralfuge über "Ach Herr, mich armen Sünder" ist 1664 erschienen und schlicht als Aria bezeichnet. Sie ist ein sechsstimmiger, vokaler alla breve -Satz; wir haben dafür eine gemischt vokal-instrumentale Ausführung gewählt, wie sie auch von Schütz, Schein u.a. praktiziert wurde.

Ach Herr, mich armen Sünder

Diese im 17. und 18. Jahrhundert sehr beliebte Choralmelodie stammt von Hans Leo Hassler. Es existieren verschiedene Textunterlegungen, von denen die bekannteren sind: Herzlich tut mich verlangen, O Haupt voll Blut und Wunden, Wie soll ich dich empfangen . Die Verse "Ach Herr, mich armen Sünder" hat Cyriakus Schneegass 1597 auf der Grundlage des 6. Psalmes gedichtet. Von Bach liegen mehrere Vertonungen dieser Choralmelodie vor, als vierstimmige Choralsätze und Orgelbearbeitungen.

Die Kantate BWV 135 erklang am 25. Juni 1724. Obwohl das Autograph und die Originalstimmen vorübergehend verloren gegangen waren, wurden Ausschnitte daraus bereits 1806 in der Berlinischen Musikalischen Zeitung vorgestellt. Allerdings als abschreckendes Beispiel, um "das Unnatürliche, Gezwungene der Declamation, das Jagen nach auffallendem Ausdruck der einzelnen Worte, die überladenen, die Wahrheit und Natur der Declamation zerstörenden Bässe, das Unnatürliche, Gesuchte und Unsingbare der Melodien" zu zeigen. Würden Sie heute über diese Kantate auch so urteilen, wie Johann Friedrich Reichardt an der Schwelle zur Romantik?

Der Eröffnungssatz ist eine Choralfantasie; jede Choralzeile wird von den Instrumenten dreistimmig vorimitiert, bevor der Chor einsetzt. Der cantus firmus liegt im Bass und wird von einer Bassposaune verstärkt. Das Motiv der Anfangszeile zieht sich in Achtelnoten durch das ganze Stück, ja, es tritt nahezu in jedem Takt einmal auf. Diese melodische Geste kann man als demütig-bittende Verneigung vor Gott sehen; durch die ständige Wiederholung bekommt sie etwas Mantrahaftes.

Ach heile mich

Nach einem dramatischen Rezitativ, das gegen die barocke Regel des konsonanten Anfangs mit einer Septim-Dissonanz beginnt (ein Kranker kennt keine Regeln mehr), folgt eine zunächst tröstend anmutende Arie in C-Dur für Tenor und zwei Oboen. In der Melodik der Gesangsstimme verbindet Bach drei Affekte, a) die Bitte um den Trost, b) das Versinken in den Tod und c) die Freude an der erhofften Begegnung mit Jesus. Bach verlangt viel vom Tenor: fremde Sprünge (z.B. Septimen auf- und absteigend), umfangreiche Koloraturen und Phrasen mit Umfängen von eineinhalb Oktaven. An dieser Arie mag man die oben erwähnte Äusserung Reichardts nachvollziehen; aber Bachs Kompositionstechnik und Melodiegestalt erscheint für uns als eine bewusste Wahl, um eben die Gegensätzlichkeit der Affekte plastisch auszudrücken. Noch extremer wird es an der Stelle: "Denn im Tod ist alles stille." Bach lässt hier die Bewegung dreimal hintereinander völlig zum Stillstand kommen.

Das nächste Rezitativ (Satz 4=Choralstrophe 4) führt den Gedanken der persönlichen Not noch mehr nach innen ("ich gräme mich fast tot"). Dieser Tiefpunkt ist gleichzeitig der Wendepunkt, aus dem mit Jesu Hilfe ein kämpferischer Neubeginn erfolgt: "Er lässt nach Tränen und nach Weinen die Freudensonne wieder scheinen." Bach weist diese Textaussage dem Basssänger zu; dieser wird von einem dreistimmigen Streichersatz begleitet, wobei die Solovioline seine Motive vorimitiert und leidenschaftlich weiterführt. Besonders eindrücklich ist dies hörbar an der Stelle "die Feinde müssen plötzlich fallen und ihre Pfeile rückwärts prallen". Im folgenden Schlusschoral, der 6. Choralstrophe, erklingen noch einmal alle Instrumente des Eingangschores zur Doxologie. Zusätzlich instrumentiert Bach ein Cornetto als Sopranverstärkung; dies wird in unserer Aufführung durch Oboe ersetzt.

Jörg-Andreas Bötticher