Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     

Erschallet, ihr Lieder, erklinget, ihr Saiten

Diese Kantate zum ersten Pfingsttag entstand in Weimar für den 20. Mai 1714. Mehrere Wiederaufführungen mit leichten Veränderungen sind nachweisbar; unsere heutige Aufführung folgt im Wesentlichen der zweiten Leipziger Fassung (13. Mai 1731). Der Text stammt vom Weimarer Hofdichter Salomon Franck und liest sich zu Beginn wie ein Grundsatzprogramm für die Kirchenmusik in ihrer vokalen und instrumentalen Ausgestaltung:  

Erschallet ihr Lieder, erklinget ihr Saiten !
O seligste Zeiten!
Gott will sich die Seele zu Tempeln bereiten.

Dass hinfort nicht mehr ein äusserer Tempel vonnöten ist, sondern die Seele zur Wohnstatt Gottes werden kann, ist ein Grundzug des theologisch sehr dichten Kantatentextes, der damit ein von der Mystik geprägtes Pfingstverständnis zeigt. Der Text lässt sich in folgendem Dreischritt gliedern (nach M. Walter 1999): Gotteslob und Pfingsten (Satz 1); Gott - Seele - Mystik (Satz 2-5); Abendmahl (Satz 6).

Gott schickt seinen Geist, den Tröster. Er ist derselbe, "der bei der Schöpfung blies", mit dem sich die Seele in Liebe vereinigt. So kann Franck im Liebesduett (Satz 5) die anima wie eine Geliebte freimütig bekennen lassen: "Du hast mir mein Herz genommen", worauf der spiritus sanctus antwortet: "Ich bin dein und du bist mein!" Der Schlusschoral, die vierte Strophe des "geistlichen Brautliedes" Wie schön leuchtet der Morgenstern, erscheint wie eine wunderbare Steigerung dieser Gedankengänge und führt die Idee der mystischen Vereinigung auf die höchste Stufe, das Abendmahl ("dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut").

   
     

BWV 172, 1 als Konzert

Bach war am 2. März 1714 zum Weimarer Konzertmeister ernannt worden. Die   ab Palmsonntag 1714 im Abstand von vier Wochen entstandenen Werke scheinen in ihren Eingangssätzen verschiedenen Formprinzipien verpflichtet, wie wenn Bach die formalen Möglichkeiten solcher Eröffnungssätze ausloten wollte: Fuge (BWV 182, Himmelskönig), Passacaglia (BWV 12, Weinen, Klagen), Konzert (BWV 172), Motette (BWV 21, Ich hatte viel Bekümmernis).

Das mit drei Trompeten und Pauken, Oboen und 5-stimmigen Streichern üppig besetzte Orchester beginnt einen mit 194 Takten recht langen, dreiteiligen konzertanten Satz. Im Vorspiel wird das fanfarenartig auf einem stabilen Dreiklang aufgebaute Thema ("Erschallet") vorgestellt. Beim Vokaleinsatz wird diese Form jedoch nicht einfach imitiert, sondern kunstvoll gespreizt und auf drei Klanggruppen aufgeteilt (Chor, Trompeten, Streicher mit Oboen). In grosszügigen, vielleicht Vivaldi oder Albinoni abgelauschten Sequenzen, führt Bach den Eingangssatz fort. Im Mittelteil, einem zweiteiligen Fugato schweigen die Trompeten; die restlichen Instrumentalstimmen werden colla parte mit den Sängern geführt. Die langen, im fünfstimmigen Satz dicht verflochtenen Melismen über dem Wort "bereiten" geben einen Eindruck, mit welchem Engagement Gott sich die Seele zu seiner Wohnung formt. Der darauf wiederholte A-Teil führt aus der hart erarbeiteten e-moll-Atmosphäre wieder zurück in ein strahlendes C-Dur. Nun folgen drei Arien, denen ein kurzes, in ein Arioso übergehendes Bassrezitativ vorangestellt ist, welches das einzige Bibelwort in dieser Kantate bringt (Joh. 14, 23).

   
     

Dreieinigkeit

Die Bassarie "Heiligste Dreieinigkeit" ist ein schönes Beispiel der Bachschen Auslegungskunst. Sie beginnt mit einem einzigen Basston, den man als Zeichen für die Unität, von der alles ihren Ursprung hat, sehen kann. Die drei (!) Trompeten intonieren unisono eine absteigende C-Dur-Fanfare. Dabei kann man im Sinne der Barockzeit den erklingenden Dur-Dreiklang) ganz direkt als Abbild des göttlichen Geheimnisses der Dreieinigkeit verstehen, wie z.B. der Komponist und Liederschreiber Johann Crüger 1630. Vom Grundton (Gott) ausgehend sehen manche Autoren in der Oktave (1:2) den Sohn und in der Quinte (2:3) den Heiligen Geist. Andere verstehen den Dreiklang als Allegorie der Trinität, wobei zur Quinte (Sohn) die vermittelnde Terz (Geist) tritt (Böddecker 1701).

Die absteigende Bewegung (rhetorisch: Katabasis-Figur) entspricht der alten hierarchischen Vorstellung von oben und unten. Oben ist die göttliche Welt, unten unsere "Herzenshütte". So fallen denn auch alle Kadenzen des Basses in die Tiefe. Im Folgenden verwendet Bach die drei Klangkörper Trompeten (mit Pauken), Solobass und vollbesetzte Continuogruppe im Wechsel. Die erste Trompete löst sich in den Ritornellen aus dem kompakten Bläsersatz und brilliert mit virtuosen Diminutionen (45 32tel-Noten   in Folge), was auf den im heutigen Konzert gespielten lochlosen historischen Trompeten eine enorme Herausforderung ist.

Die Tenorarie ist als (erneute) Aufforderung an den Menschen zu verstehen, seine Seele auf die Ankunft des heiligen Geistes vorzubereiten. Das Wehen des Geistes zeichnet Bach als stufenweise ab und auf schwebende Bewegung der unisono spielenden Streicher. Unweigerlich stellt sich das Urbild des auf dem Wasser schwebenden Geistes des ersten Schöpfungstages ein. Auch wenn der Geist weht, wo er will, gelingt es Bach hier mit wenigen Mitteln, das Paradoxon zu zeigen, dass der Geist ( Ruach ) schon da ist, und doch wieder neu als Tröster kommt. Im folgenden Liebesduett dialogisieren - über einem quasi gleich bleibenden Bass-Ritornell - Sopran ( anima ) und Alt ( spiritus sanctus ). Dazu tritt die Oboe mit der stark verzierten Melodie des Pfingstliedes "Komm heiliger Geist, Herre Gott". Geistige und seelische Ebene berühren sich und verschmelzen im gemeinsamen Schlusston. Der festliche Schlusschoral erhält durch die Violin-Oberstimme förmlich einen "Freudenschein". Mit der Wiederholung des Eingangschors (gemäss der Weimarer Fassung) ergibt sich eine 7-teilige Form, die an die sieben Gaben des Geistes erinnert.

 


Crescit spirantibus auris.
Es bläst der Geist die Liebe an,
dass sich ihr Feur vermehren kan.

Aus: Hermann Hugo: Die ihren Gott Liebende Seele, Vorgestellt in den Sinnbildern des Hermanni Hugonis über seine Pia Desideria, und des Ottonis Vaenii, über die Liebe Gottes : Mit neuen Kupffern und Versen, Welche zielen auf das Innere Christenthum : Aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzt, Regensburg, 1743

     

O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe

Die Kontroverse um den olympischen Fackellauf zeigt, welche Faszination bis heute von der Idee einer nie ewigen, nie versiegenden Flamme ausgeht. Parallel zum offenen Fackellauf, der mit vielfältigen natürlichen und menschlichen Widerständen rechnen muss, wird auf Olympia zu die eigentliche Flamme in einem Begleitfahrzeug transportiert, sicher geschützt vor Wind, Wetter und Demonstranten. "Jubelt der Flamme zu", empfehlen chinesische Behörden ihren Studenten in diesen Tagen. Wer schützt unser Seelenfünklein, welcher Flamme jubeln wir zu? Hier setzt der christliche Pfingstgedanke ein: Christus sendet uns seinen Geist, als tröstende Verheissung seiner Präsenz. Wie Feuerflammen zeigt er sich und schafft Verständnis und Verbindung über alle Grenzen hinaus.

Die Grundlage für BWV 34 bildet eine nur unvollständig erhaltene Hochzeitskantate, die Bach im Frühjahr 1726 vermutlich für einen Geistlichen geschrieben hatte. Für das Pfingstfest 1747 (21.5.) formte er die weltliche Kantate um, indem er einzelne Sätze umstellte und die Rezitative neu komponierte. Wie in BWV 172 ist auch für diese Kantate die Mystik ein, wenn nicht sogar der Schüssel zum Verständnis. Das ewige Feuer schafft Leben, schafft Liebe, wandelt die Seele und führt sie zur himmlischen Hochzeit.

Eine interessante Parallele, die in jüngster Zeit auch in der Bachforschung diskutiert wird (Tatlow 1991), liegt vor in der chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz (herausgegeben von Johann Valentin Andreae, Strassburg 1616). Dort werden die verschiedenen Stufen eines Hochzeitsfestes als hermetische Allegorie einer Transformation vom Weltlichen ins Göttliche beschrieben. Die Hauptperson, der Sinnsuchende Christian Rosenkreutz erlebt auf diesem Weg eine mystische Einweihung. Bei Bach, bzw. dem unbekannten Textdichter von BWV 34 heisst es: "Entzünde die Herzen und weihe sie ein." Wozu oder in was sollen sie denn eingeweiht werden? Da die chymische Hochzeit in Bachs theologischer Bibliothek nicht nachgewiesen ist, muss Bachs Bezug zu diesem Gedankengut vorerst Spekulation bleiben. Näherliegend ist die Deutung der "Pfingsteinweihung" nach Heinrich Müllers "Himmlischer Liebes=Kuß", Nürnberg 1722. Dort schreibt er in der 14. "Göttlichen Liebesflamme": "Hast uns auch mit dir durch den Heiligen Geist vereiniget, und zu einem Leibe verbunden. [...] Du willst in uns sein und wir sollen in dir sein. [...] Ach hilf, HErr JEsu, daß wir das erkennen, diese hohe Himmelsgemählschaft und königliche ewige Vereinigung recht bedencken, und mit dir ewig verlobt, vermählt und vereiniget bleiben." Von Müller besass Bach übrigens noch vier weitere Bücher, woraus man seine Wertschätzung dieses Rostocker Theologen ablesen kann.

 


Mein Hertz dein Kirchlein ist, dein Geist mein Hertzens Lehrer.
Ein Angst und Freud= ein Glaubens=Hoffnung=Lieb=Vermehrer.
Er zucket Himmel an. Er würcket Buß und Thränen.
Wann Er das Hertze trifft, so hört man Ach! im Sehnen.


Aus: Heinrich Müller: Vermehrter und durchgehends verbesserter himmlischer
Liebes-Kuss oder: Götlliche Liebes-Flamme: Das ist: Aufmunterung zur Liebe Gottes, Nürnberg 1722.

   

 

Züngelnde Flammen

Im Eingangssatz, der wie BWV 172 grossbesetzt und dreiteilig, aber noch etwas länger ist (244 Takte), züngeln sofort die Flammen; dies ist besonders gut hörbar in den fast pausenlos durchlaufenden 16tel-Figuren der ersten Geige. Dazu halten Sänger, Bläser und später auch die mittleren Streicher manche ihrer Töne "ewig" lange aus. Nach einem von der Mollparallele der Ausgangstonart (h-moll) zur Mollparallele des nächsten Satzes (fis-moll) überleitenden Rezitativ folgt eine Arie für Alt und gedämpfte Streicher, deren Linien von zwei Traversi oktavierend mitgespielt werden. Dadurch entsteht eine einerseits feine und intime, andererseits aber auch ätherische Stimmung. Der Vergleich mit der im ähnlichen Wiegerhythmus stehenden Arie "Schlummert ein" (BWV 82) drängt sich auf. Die hellere Tonart A-Dur in BWV 34/3 führt jedoch zu einem verliebt-schwebenden und (hoffentlich) nicht matt-schläfrigen Charakter. Der Schlusschor beginnt mit einem Segensspruch für den Hausstand aus Psalm 128, 6: "Friede sei über Israel". Er trug in der Hochzeitskantate BWV 34a, in welcher er vor dem Trauungsakt erklang, folgenden Text:

"Friede über Israel".
Eilt zu denen heilgen Stufen.
Eilt, der Höchste neigt sein Ohr.
Unser Wünschen dringt hervor,
Friede über Israel,
Friede über euch zu rufen.

In der Trauungskantate erscheint die Verbindung von Text und Melodie sehr direkt und unmittelbar verständlich ("eilt"=schnelle Tonleiterfiguren aufwärts, synkopierende kurze Einwürfe). In der Fassung für das Pfingstfest 1747 bekommt der ganze Schlusssatz einen eiligen, vorwärtsstrebenden Charakter ("Dankt den höchsten Wunderhänden"). Im ersten Moment fragt man sich, ob diese Textunterlegung vielleicht etwas unglücklich ist; man kann sie allerdings auch als exaltierten Ausdruck der inneren Begeisterung erleben, die das Pfingstereignis damals wie heute auszulösen vermag.

Jörg-Andreas Bötticher

 

Fotos: Jörg-Andreas Bötticher
Mit Dank an die UB Basel