Bachkantaten in der Predigerkirche
 
 

Am Abend aber desselbigen Sabbats BWV 42

Der Sonntag Quasimodogeniti ("wie die Neugeborenen"), der erste Sonntag nach Ostern, ist der Neugeburt der Jünger und aller Christen durch die Erlösungstat Jesu gewidmet. Im zugeordneten Johannesevangelium wird die Geschichte vom Erscheinen Christi vor seinen Jüngern erzählt: "Am Abend aber desselbigen Sabbats", nachdem der Auferstandene bereits Maria Magdalena vor dem leeren Grab als Gärtner erschienen war, "da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Jüden, kam Jesus und trat mitten ein." Jesus grüßt seine Jünger, bläst sie mit dem Heiligen Geist an und fordert sie auf, seine Nachfolge auf Erden zu übernehmen: "Nehmet hin den Heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten" (Joh. 20, 19-23).

Bachs Kantate, im zweiten Kantatenzyklus überliefert, wurde am 8. April 1725 uraufgeführt. Der unbekannte Textdichter beginnt das Eingangsrezitativ mit dem Evangeliumstext, in dem die Jünger sich aus Angst vor den Juden verstecken und Jesus sie von dieser Angst befreit. In der darauf folgenden Arie lässt er ein weiteres Bibelwort anklingen, das Zuversicht in bedrohlichen Situationen verheißt: "Wo zwei und drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Matth. 18, 20), und dem vierten Satz liegt gleichfalls ein Zitat zugrunde: der Choral "Verzage nicht, du Häuflein klein", den 1632 der protestantische Pfarrer Jacob Fabricius zur moralischen Unterstützung der schwedischen Truppen im Dreißigjährigen Krieg gedichtet hatte. Im Rezitativ und der anschließenden Arie stellt der Autor nochmals die Angst der Jünger vor den Juden und Jesus als den Schutz und Schild der Kirche dar. Als Schlusschoral wählt er Luthers deutsche Übersetzung und Vertonung des "Da pacem, domine" mit der die Obrigkeit in die Fürbitte einbeziehenden Erweiterung Johann Walters, des Torgauer Kantors und Lutherfreundes.

Außer dem fünften und dem sechsten Satz verwendet der Textdichter also ausnahmslos - wenn auch gelegentlich abgewandelte - Zitate. So mag es verwundern, dass er in seinem eigenen Beitrag, den Sätzen 5 und 6, zwar nicht wörtlich, wohl aber inhaltlich zitiert, indem er nochmals mit seinen eigenen Worten den biblischen Bericht von der "Furcht für denen Jüden" und dem Eintreten Christi für seine Kirche wiederholt, obwohl davon schon zu Beginn die Rede war.

Das lenkt den Blick auf die aus heutiger Sicht bedrückende Tatsache, dass ein lutherisch geprägter Protestant in jenen Tagen ausdrücklich zum Antijudaismus verpflichtet war. In seiner Schrift "Von den Jüden und ihren Lügen" (1543) hatte Luther vehement vor dem jüdischen Glauben als vor einer Krankheit gewarnt, die, wenn man sich mit ihr infiziere, unweigerlich zu Hölle und Fegefeuer führe. Denn Gott habe geschworen, den Menschen den Messias zu senden und habe diesen Schwur mit Christus eingelöst. Indem die Juden Jesus nicht als Gottessohn erkannt und begrüßt hätten, ihn vielmehr hätten kreuzigen lassen, ließen sie Gott als meineidig dastehen. Dies aber sei eine Todsünde, von der es keine Erlösung gebe und die nur mit ewiger Verdammnis geahndet werden könne. Um seine Glaubensbrüder und -schwestern vor solchem Schicksal zu warnen, gab Luther ihnen in der genannten Schrift sieben "Ratschläge", wie sie sich vor judaistischer Ansteckung schützen sollten. Von denen besagt einer, dass "man jre Synagoga mit feur verbrenne", ein anderer, "das man auch jre Heuser desgleichen zerbreche und zerstoere", ein dritter, "das man ihnen neme alle jre Betbuechlin", ein vierter, "das man jren Rabinern bey leib und leben verbiete hinfurt zu leren" ...

Antijudaismus war auch zur Bachzeit noch selbstverständlicher, unbefragter Bestandteil (nicht nur) der protestantischen Kultur. So stand in Bachs Bücherschrank ein 1200 Seiten umfassender Foliant mit dem Titel "Judaismus oder Jüdenthum. Das ist: Ausführlicher Bericht von des Jüdischen Volcks Unglauben, Blindheit und Verstockung". Der Verfasser Johannes Müller, Pastor an St. Petri in Hamburg, bezieht sich dort auf Luthers "Ratschläge", erweitert sie auf deren 17 und droht jedem Christen mit ewiger Verdammnis, sollte er sich wider "besseres" Wissen mit Juden oder deren Glauben einlassen.   Damit darf natürlich Bach in keiner Weise eine individuelle antijudaistische Haltung unterschoben werden. Er hatte sicher keinen persönlichen Kontakt zu Juden, da diese in Leipzig kein Wohnrecht hatten und die Stadt nur zu Messezeiten besuchen durften. Nimmt man seinen überlieferten Buchbestand, der neben vielen lutherische Werken auch etliche Polemiken   u.a. gegen den Katholizismus, den Atheismus, den Calvinismus und eben auch das genannte Werk gegen den Judaismus enthielt,   als - fernen - Spiegel seiner Geisteshaltung, so ergibt sich das bekannte Bild eines bodenständigen und wohl auch streitbaren Lutheraners. Und so mag es auch Bachs anonymer Textdichter für seine Pflicht gehalten haben, in seinem Kantatentext gleich doppelt auf die "Gefahren" hinzuweisen, die den Christen der herrschenden Lehrmeinung nach vom Judentum drohten.                          

Musikalisch lässt Bach das Ganze keineswegs ängstlich, sondern festlich-prächtig mit einer Sinfonia in hellem D-Dur beginnen, in der Streicher und Bläser mit wechselnden Themen, wechselnden Affekten und vielfachem Stimmtausch so kunstreich konzertieren, dass in der Bachforschung die Meinung herrscht, diesem Stück läge der Eingangssatz eines verlorenen Instrumentalkonzertes zugrunde.   Im folgenden Rezitativ - dem Träger des Bibelwortes - ist sie dann da, die "Furcht vor den Jüden", musikalisch hervorgerufen durch den Wechsel in die Paralleltonart h-moll, durch die dissonante Führung der Singstimme und den Orgelpunkt, den Orgel und Fagott über vier der sechs Takte aushalten und den die besaiteten Continuo-Instrumente in Sechzehnteln (herz)klopfen. Die Altarie ist ein weit ausschwingendes, figurenreiches Zusammenspiel der beiden Oboen und der Singstimme, dessen tiefe Ernsthaftigkeit durch einen Mittelteil unterbrochen wird, in dem bei Takt- und Tempowechsel die Singstimme und das Fagott ein Zuversicht ausstrahlendes Zwiegespräch führen. Satz 4, obgleich "Choral" überschrieben, komponiert Bach als ein unabhängig von der überlieferten Choralmelodie teils homophon, teils kontrapunktisch geführtes Duett von Sopran und Tenor mit figurativ begleitendem Violoncello und Fagott, dem ein Rezitativ mit kurzem Accompagnato-Einschub folgt, der das "Wüten" der Feinde ohrenfällig macht. Die Bass-Arie schließlich porträtiert Christus als Sieger über die Verfolger, deren Versinnbildlichung den beiden einander "verfolgenden" und damit für fast durchgängige Sechzehntel-Bewegung sorgenden Violinen anvertraut ist, während der Bass Sinnträger für die überlegene Ruhe ist, aus der heraus Christus den "Schild der Seinen" hält. Der vierstimmige Choral "Verleih und Frieden gnädiglich" beschließt das Werk.

Nun danket alle Gott BWV 192

Diese Kantate, deren liturgische Bestimmung nicht bekannt ist, wird in die Zeit um 1730 datiert, stammt also aus Bachs späterem Kantatenschaffen. Im überlieferten Stimmsatz fehlt die Tenorstimme - sie wurde von der Bachforschung rekonstruiert.

Bach komponiert hier keinen neu gedichteten Text, sondern legt seiner Kantate die drei Strophen des Kirchenliedes "Nun danket alle Gott" zugrunde - einen Text, dem man nicht anmerkt, dass er gleichfalls im Schatten eines furchtbaren Religionskrieges - diesmal zwischen Katholiken und Protestanten - entstanden ist. Sein Verfasser Martin Rinckart (1586-1649), Pfarrer im sächsischen Eilenburg, hatte ihn inmitten des Dreißigjährigen Krieges 1630 zur 100-Jahrfeier der Augsburger Konfession geschrieben.   Rinckart hat in seinem Leben unendliches Unglück erlebt - furchtbare Kriegsgräuel, Hungersnöte, uneinlösbare Reparationsforderungen der schwedischen Besatzer an seine völlig verarmte Stadt, eine Pestepidemie, der Tausende von Mitbürgern, unter ihnen Rinckarts Frau, zum Opfer fielen. Umso berührender und einfühlbarer ist angesichts dieses Elends die einfache Bitte an den "ewig reichen Gott", den Menschen ein "fröhliches Herz" und "edlen Frieden" zu geben.

Wie Bach die den Text tragenden Affekte von Fröhlichkeit, Dankbarkeit, Friedens-Sehnsucht und Gotteslob musikalisch verschmelzen lässt, ist einmal mehr atemberaubend. Die erste Strophe legt er als großen Chorsatz mit instrumentaler Einleitung und ebensolchen Ritornellen an, wobei in regem Wechselspiel Bläser und Streicher untereinander oder Bläser und Streicher miteinander konzertieren. Eingebettet in dieses farbenfrohe instrumentale Miteinander ist der Chorsatz, der zunächst im vierstimmigen kontrapunktischen Satz anhebt, um gleich darauf mit einer Fugenexposition der drei Unterstimmen fortzufahren, während der Sopran in ebenmäßigen Dreiviertel-Noten den cantus firmus ebenso ernsthaft wie festlich vorträgt. Der Satz mündet in ein instrumentales Schlussritornell, in dessen abschließender Kadenz sich höchst überraschend   nochmals die Sänger mit der homophon gesetzten Aufforderung "Nun danket alle Gott" zu Worte melden.

Die zweite Strophe gestaltet Bach als Duett zwischen Sopran und Bass, in dem die beiden Stimmen einander umspielen und umschmiegen, um zu den Worten "edlen Frieden" in liedhaft-einträchtige Terzparallelen zu verfallen. Der dritte Satz hat Festcharakter, denn zum Text "Lob, Ehr' und Preis sei Gott, dem Vater und dem Sohne ..." stürmt in fröhlichem 12/8-Takt eine Gigue daher, in deren munteres Treiben sich bald auch Alt, Tenor und Bass einmischen. Dafür, dass daraus gleichwohl kein Tanzvergnügen wird, sorgt der Sopran, der - wie bereits im ersten Satz - mit eindringlicher Transparenz die Choralmelodie singt und dem Satz ein silbernes, spirituelles Leuchten einhaucht.

Dagmar Hoffmann-Axthelm