Bachkantaten in der Predigerkirche
 

Der heutige Kantatensonntag wartet im Rahmen der mit Besonderem ohnehin reich gesegneten Reihe "Bachkantaten in der Predigerkirche" mit einer weiteren Besonderheit auf: Wir bekommen es nicht mit den üblichen zwei, sondern mit nicht weniger als fünf Kirchenkantaten zu tun.

Jesus schläft, was soll ich hoffen BWV 81
"Da nun aber der itzige status musices gantz anders weder ehedem beschaffen, die Kunst üm sehr viel gestiegen, der gusto sich verwunderns-würdig geändert, dahero auch die ehemalige Arth von music unsern Ohren nicht mehr klingen will."  Mit diesen Worten reagierte Bach 1730 auf Vorwürfe von Seiten der Leipziger Regierung ("eine wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit"), der Thomaskantor und städtische Musikdirektor vernachlässige seine Pflichten, Gesangs- und Lateinstunden zu geben, gehe während seiner Arbeitszeit auf Reisen, ohne vorher um Urlaub gebeten zu haben und sei überhaupt "incorrigibel".

Mit dem "verwunderungs-würdig" veränderten "gusto" spielte Bach auf den Einfluss an, den die italienische Musik auf die geistliche und weltliche Musik des Nordens nahm. Seit dem frühen 17. Jahrhundert hatte diese mit ihrer weniger an den Verstand als an die Gefühlswelt der Zuhörer appellierenden Dramatik die transalpinen Lande im Sturm erobert. Jeder Landesherr, der es sich irgend leisten konnte, baute sich sein Opernhaus, engagierte italienische Gesangssolisten und Hofkapellmeister und bewies seine Weltläufigkeit dadurch, dass er italienische Opern aufführen ließ.

Bach nahm an diesem Geschehen den lebhaftesten Anteil. Er studierte nicht nur Palestrinas Missa sine nomine und den strengen Satz, sondern er transkribierte auch Instrumentalwerke seiner italienischen Zeitgenossen A. und B. Marcello, G. Torelli und A. Vivaldi für Tasteninstrumente. Gern nahm er seinen Ältesten Wilhelm Friedemann mit in die Dresdener Hofoper, um sich dort - wenn auch mit leichtem Spott ("Friedemann, wollen wir nicht einmal wieder die schönen Dresdner Liederchen hören?") - die neuesten italienischen Opern von A. Lotti oder J. A. Hasse anzuhören.

Natürlich hinterließen diese musikalischen Eindrücke bei einem musikalischen Universalgenie wie Bach ihre Spuren, und so erinnert manche Kirchenkantate bei aller kirchlich gebundenen Perikopen-Auslegung aufs Herzhafteste an das weltliche Musikdrama mit seinen akzentuierten Rezitativen und affektstrotzenden Arien. Die Kantate "Jesus schläft, was soll ich hoffen" könnte man als Mini-Oper bezeichnen, wäre da nicht der schlichte Schlusschoral, der im Sinne eines Gemeindekirchenliedes dem Drama einen im Gottvertrauen wurzelnden Schlusspunkt setzt.

Die Kantate stammt aus dem ersten Kantatenjahrgang. Sie wurde für den 30. Januar 1724 komponiert, den 4. Sonntag nach Trinitatis, dem als Evangeliumstext die Stillung des Sturms auf dem See Genezareth durch Jesus zugeordnet ist (Matth. 8, 23-27). Der Text ist ein Stoff, aus dem Opern gemacht sind, erzählt er doch von tödlicher Gefahr und wunderbarer Rettung. Jesus besteigt mit seinen Jüngern ein Fischerboot, fährt auf den See hinaus, und schon ereignet sich ein erstes Wunder: Es erhebt sich ein furchtbarer Sturm, aber Jesus schläft friedlich, obwohl die Wellen über das Boot hinwegfegen und es zu verschlingen drohen. Die Jünger wecken ihren Meister in Todesangst, aber der sagt nur: "Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?", um sogleich ein zweites Wunder zu vollbringen: "Und stand auf und bedrohte den Wind und das Meer. Da wurde es ganz stille."

Der unbekannte Textdichter setzt in der Eingangsarie das eigene Ich an die Stelle der Jünger und lässt es in den Abgrund eines Todes in gottverlassener Einsamkeit blicken. Die Musik nimmt diesen von Qual und Angst geprägten Ton mit ihren Mitteln auf: mit der Seufzerthematik, der reich angewandten Chromatik, den drei tiefen, dem Alt über 2 1/2 Takte aufgebürdeten Orgelpunkten und den klopfenden Achtel-Orgelpunkten im Continuo sowie den die Streicher oktavierenden Blockflöten, die in ihrer ebenmäßigen Tongebung die Fahlheit des Satzes noch steigern. Das "Ich" fleht im Rezitativ um eine Orientierung durch Christus, aber als Antwort folgt eine furiose Arie, in der sich der Leibhaftige ("die schäumende Wellen von Belials Bächen") in stolzer, zerstörerischer Wut als machtvoller Antipode Christi präsentiert. In rasanten Zweiunddreißigstel-Läufen stürmt die erste Geige in gnadenlosem Auf und Ab durch die Oktaven, während der Tenor kaum weniger brutal seine "verdoppelte Wut" skandiert. Drei Mal stürzt - für den Zuhörer höchst überraschend - dieser Ausbruch in ein kurzes, stilles, leises Adagio, in dem sich der Christ an seine Verpflichtung zur Standhaftigkeit erinnert, aber gleich schlagen die wütenden Wellen wieder über ihm zusammen. Dann kommt die Wende: Jesus ist erwacht, und mit äußerster Strenge - musikalisch durch ein lediglich generalbassbegleitetes Arioso der Bass-Stimme gezeichnet - hält er den schwankenden Christen das Bibelwort "Ihr Kleingläubigen ..." entgegen. Der 5. Satz ist wiederum eine Sturmarie, aber nun hat nicht Satan, sondern Jesus die Macht, und so herrscht Ordnung in der Bewegung: Anders als bei der Belial-Arie wählt Bach hier die Form der Da-Capo-Arie, die mit ihrem den Anfang wiederholenden Schlussteil eine beruhigende, bestätigende Wirkung ausübt; die Sechzehntel-Läufe überschlagen sich nicht, sondern kommen wohlartikuliert daher, und die Oboi d'Amore lassen ahnungsweise ein sanftes himmlisches Leuchten durch das Klanggeflecht hindurchschimmern. Wunderbar stimmig sind Text und schlichter vierstimmiger Satz des Schlusschorals gewählt: die zweite Strophe von Johann Francks Kirchenlied "Jesu meine Freude" (1650), in der sich der Christ trotz allen Sturmeskrachens und -blitzens, trotz Satanswitterns und Feinderbitterns, seiner Geborgenheit in Christus gewiss sein darf.

Missa in G  BWV 236
War das Komponieren von Kirchenkantaten in Bachs frühen Leipziger Jahren nicht nur Amtspflicht, sondern ein gründlich genutzter Tummelplatz für kompositorische Innovationen und Experimente, so lässt sich gegen Ende der 1720er Jahre im Bachschen Oeuvre ein deutliches Nachlassen der Kantatenproduktion beobachten. Bach erfüllte seine gottesdienstlichen Pflichten nun vermehrt dadurch, dass er bereits vorhandene Kantaten oder auch Werke anderer Komponisten aufführte. Stattdessen zeigt sich eine Neigung, ältere Kantaten umzuarbeiten und ihnen damit neue Aufführungsmöglichkeiten zu erschließen. Gleichzeitig ist ein zunehmendes Interessen an der lateinischer Messe zu beobachten - lateinische, nur aus Kyrie und Gloria bestehende Kurzmessen musizierte man im lutherischen Gottesdienst an hohen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten. So entstand 1733 eine aus Kyrie und Gloria bestehende Kurzmesse, aus der später die h-moll-Messe werden sollte, und 1738/39 schuf Bach die vier Kurzmessen BWV 233 F, BWV 234 A, BWV 235 g und BWV 236 G. Freilich ist keines dieser Werke eine Originalkomposition, ihr musikalisches Material stammt ausnahmslos aus früheren Kirchenkantaten.

Einem Gedanken des Bach-Forschers Martin Geck folgend, hat Bach hiermit vielleicht einen doppelten Zweck verfolgt: Weil die Gattung der von Bach gepflegten Kirchenkantate von den Zeitgenossen zunehmend als altmodisch empfunden wurde, mag Bach das Bedürfnis gehabt haben, einige seiner Kirchenkantaten auf diesem Wege zu "retten". Zum anderen erlebte die Musik durch die Umarbeitung eine Verdichtung, Konzentration und Abstraktheit, um die es dem älter werdenden Meister in zunehmendem Maße zu tun war. Der Kantor verschwindet hinter der in das Gewand der altehrwürdigen Messetexte gehüllten Musik, und gleichzeitig erklingt diese als ureigene Schöpfung des Künstlers.

Im Falle der Missa in G schöpft Bach aus nicht weniger als vier Kantaten-Quellen. Wie alle seine Kurzmessen hat auch diese Missa sechs Teile: Das textarme "Kyrie" besteht aus einem, das wortreiche Gloria aus fünf Teilen. Das "Kyrie" parodiert den einleitenden Satz zur Kantate "Sieh zu, dass deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei", BWV 179, eine Chorfuge, bei der Instrumente und Singstimmen colla parte geführt sind. Der 1. Satz des "Gloria" geht auf den ersten Satz der Kantate "Gott der Herr ist Sonn und Schild", BWV 79 zurück, gleichfalls einen Chorsatz mit umfangreicher instrumentaler Einleitung und reicher Instrumentation: neben den Streichern zwei Oboen, zwei Hörnern und Pauken; in der Parodie hören wir demgegenüber nur Streicher und Oboen. Für das "Gratias", eine Bass-Arie, steht der 4. Satz aus "Warum betrübst du mich, mein Herz", BWV 138 Pate, auch er eine Bass-Arie - in beiden Fällen mit Streichern und Generalbass instrumentiert. Das Vorbild von Teil 4, "Domine Deus", stammt wiederum aus "Gott der Herr ist Sonn und Schild". In der Parodie hat Bach hier vier einleitende Continuo-Takte hinzugefügt, und die ursprünglich in Dezimenparallelen anhebende Arie von Sopran und Bass zu einem Duett zwischen Sopran und Alt umgestaltet, das seinen Anfang in Terzparallelen nimmt. Teil 5, das "Quoniam" ist eine Neutextierung der Tenor-Arie aus BWV 179 mit dem Text "Falscher Heuchler Ebenbild", in der Parodie mit auf Solooboe und Generalbass beschränkter Instrumentierung. In Teil 6 schließlich, "Cum sancto spiritu", greift Bach auf den ersten Satz aus der Kantate "Wer Dank opfert, der preiset mich", BWV 17 zurück, einen Chorsatz mit umfangreicher Sinfonia und nachfolgender Fugenexposition. In der Parodiefassung stellt Bach dem einen achttaktigen Anfangsteil voran, in dem alle vier Stimmen den gesamten Text homophon vortragen, um mit der vorgegebenen Fugenexposition fortzufahren und dann in ein kunstvolles Wechselspiel zwischen homophoner und kontrapunktischer Satzweise zu verfallen.

Das ganze "Gloria" ist von wundersam schöner Symmetrie geprägt: Die beiden gewichtigen Chorsätze bilden die Eckpfeiler, und die beiden Arien rahmen das Duett der beiden hohen Stimmen ein, womit sie es zum Mittelpunkt des ganzen "Gloria" machen. Denn dieser liebliche Mittelsatz formuliert die zentrale christliche Glaubensaussage: "Agnus Dei, qui tollis peccata mundi", "Lamm Gottes, das du trägst die Sünden der Welt".

Dagmar Hoffmann-Axthelm