Bachkantaten in der Predigerkirche
   



Eya, wärn wir da!
Es könnte ein reizvolles Unterfangen sein, einmal zusammenzustellen, unter wie vielen unterschiedlichen Bildern und Begriffen das Himmelreich in den geistlichen Texten gesehen wird. Man würde es als den Paradiesesgarten Eden beschrieben finden und als die Stadt des neuen Jerusalem. Neben der frischen Aue für die Schafe mit Jesus als dem guten Hirten stünde der Freudensaal für die Feier des himmlischen Mahles. Und wie verhielte es sich akustisch? Ewiger himmlischer Lobgesang der Engel und der Menschen zum Preis der Trinität wäre zu hören, und daneben würden süsser Friede, sanfte Ruhe und selige Stille herrschen. Es wäre eine Zeit ohne Zeit. Wer nach den Quellen dieser Bilder fragen würde, müsste auf die Bibel verwiesen werden, wo dieser Strom seinen Anfang genommen hat, um sich dann durch die Jahrhunderte hindurch zu verbreiten, den Menschen immer wieder irdisches Leiden überstehen helfend und in ihnen den Wunsch nach dem Himmelreich weckend: "Eya, wärn wir da!"

Urbild eines solchen Menschen ist der greise Simeon. Von ihm wird im Lukasevangelium erzählt, er habe die Verheissung erhalten, er werde den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Messias gesehen. Als nun Maria und Joseph am 40. Tag nach der Geburt des Jesuskindes zur Reinigung der Mutter in den Tempel nach Jerusalem kamen, nahm der dort wartende Simeon das Kind auf die Arme und sprach sein berühmtes "Nunc dimittis - Nun lässest du, Herr, deinen Diener im Frieden fahren." Martin Luther hat dieses neutestamentliche Canticum als "Lobgesang Simeonis, des Altvaters" bezeichnet und seinem Lied "Mit Fried und Freud ich fahr dahin" zu Grunde gelegt. Da Luther das Fest Mariä Reinigung oder Mariä Lichtmess, das ursprünglich zu Ehren Mariens gefeiert wurde, als biblisch begründetes Christusfest beibehielt, wurde es in der lutherischen Kirche bis in die Bachzeit hinein gefeiert. Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass es auch mehrere Kantaten von Johann Sebastian Bach auf diesen Festtag gibt, deren bekannteste wohl die Kantate BWV 82 "Ich habe genung" ist. Es ist eine Solokantate für Bass, Oboe, Streicher und Continuo, die am 2. Februar 1727, im vierten Leipziger Amtsjahr Bachs also, zum ersten Mal aufgeführt wurde. In dieser Fassung wird sie auch im heutigen Konzert erklingen. Verschiedene weitere Fassungen lassen auf eine Wiederverwendung der Kantate bis in die späten Jahre Bachs schliessen. So wurde die Bassstimme einmal durch die Sopran-, einmal durch die Mezzosopranstimme ersetzt sowie die Oboe durch eine Flöte. Teile der Kantate, darunter die berühmte Arie "Schlummert ein, ihr matten Augen", finden sich auch im 2. Klavierbüchlein von Anna Magdalena Bach, von ihrer Hand geschrieben. Diese Auswechselbarkeit der Stimme macht deutlich, dass es auch in der ursprünglichen Fassung für Bass nicht Simeon selbst ist, der singt, sondern der gläubige Mensch der jeweiligen Gegenwart, der wie Simeon mit dem erwarteten Kind auf den Armen nun tatsächlich genug hat, und zwar genug an etwas (dem Jesuskind) und genug von etwas (der Welt).

Ich habe genung
Bachs Kantate, die von einem unbekannten Dichter stammt, besteht aus drei Arien und zwei Rezitativen im Wechsel. Sie hat keinen Schlusschoral, was für Bachs Kantaten selten ist. Die Arie Nr. 1, deren Form dreiteilig ist (A, B, B') wird durch den am Anfang, in der Mitte und am Schluss stehenden Satz "Ich habe genug" gegliedert. Ihr Thema mit einem Sextsprung aufwärts, das schon von der Oboe vorgetragen wird, drückt - nach Alfred Dürr - Simeons dankbar-beglückte Stimmung aus und lässt ebenso seinen sehnlichen Wunsch, "noch heute mit Freuden von hinnen zu scheiden", spürbar werden. Eine Umbildung des Anfangmotivs am Ende   aller drei Gesangsabschnitte, hat etwas abschliessend Beruhigendes an sich. Das Rezitativ Nr. 2 ist ein Seccorezitativ mit ariosen Einschüben, in dessen zweiter Hälfte eine neue Dimension des Genughabens hinzukommt, und zwar eine negative: Der Mensch hat genug von der Gebundenheit an die Ketten seines Leibes, er hat genug von der Welt. Hier geht es nicht mehr um das positiv-dankbare Genughaben des Simeon, sondern um das negativ-überdrüssige des Elia, des Hiob, des Jona, die alle auf ihre Weise von der Welt genug hatten. Die nun folgende Arie Nr. 3 "Schlummert ein, ihr matten Augen" ist eine der beliebtesten Arie Bachs überhaupt, eine Art Wiegenlied, von dem eine grosse Ruhe ausgeht. Albert Schweitzer hat sie als "Todes-Wiegen-lied" bezeichnet. In ihr wird die Grundtonart der Kantate c-moll durch die Paralleltonart Es-dur ersetzt. Im Mittelteil der Arie wird auch hier noch einmal kontrastartig von der Welt geredet. Die Welt ist Fremde, Ausland ("hier muss ich das Elend bauen" bedeutet "im Ausland wohnen"), "aber dort, dort werd ich schauen süssen Frieden, stille Ruh". Es gehört mit zum Eindrücklichsten dieser Arie, wenn auf das Wort "Ruh" die Streicher, die vorher pausiert haben, wieder einsetzen. Das Rezitativ Nr. 4 geht ganz direkt von Simeons Lobgesang aus, denn das hier erwähnte "schöne Nun" ist Simeons "Nunc dimittis - Nun lässest du, Herr, deinen Diener im Frieden fahren". Daran anschliessend folgt die klassische Beschreibung des Zustandes, in dem sich der Mensch nach der lutherischen Lehre zwischen Tod und Auferstehung befindet: Der Leib ruht in der Erde, die Seele aber in Gottes oder Abrahams Schoss, bis beide am Jüngsten Tag wieder miteinander vereinigt werden. Arios klingt das Rezitativ mit seinem Abschiedsgruss   an die Welt aus, worauf recht überraschend die freudig bewegte Vivace-Arie Nr. 5 "Ich freue mich auf meinen Tod" folgt. Die Freude auf den Tod wird hier mit dem Freiwerden des Menschen aus aller irdischen Gebundenheit begründet. Die Arie ist als Da-Capo-Arie vertont, so dass die Kantate textlich mit der starken Aussage endet: "Ich freue mich auf meinen Tod, ach, hätt er sich schon eingefunden", musikalisch aber mit dem fröhlichen Orchesterritornell.

   

Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn
Nur wenige Tage nach der alljährlichen Feier des Festes Mariä Reinigung fand am 6. Februar 1727 ein Gedächtnisgottesdienst in der spätromanischen Kirche des östlich von Leipzig gelegenen Dorfes Pomssen statt, und zwar zu Ehren des am 31. Oktober 1726 verstorbenen und wenig später in Pomssen beerdigten hochangesehenen Herrn Johann Christoph von Ponickau. Die Familie derer von Ponickau hatte ihre Grablege in der Kirche von Pomssen. Den Text für die Trauerfeier hatte der Verstorbene noch zu Lebzeiten selber festgelegt, indem er dazu die Stelle aus 1. Mose 32, Vers 27 auswählte: "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn". Es ist das Wort Jakobs, das er nach seinem Kampf mit dem Engel und diesen noch immer festhaltend ausgesprochen hatte. Um dieses Wort, das in der christlichen Kirche von alters her auf Jesus übertragen wurde, kreiste der ganze Gottesdienst, so die Predigt und so auch eine erste Kantate vor der Predigt, die von Johann Christian Henrici gedichtet und von Bach vertont worden war. Erhalten ist diese Kantate allerdings nicht in der Originalhandschrift, sondern nur in späteren Abschriften, die auf ihre Verwendung am Fest Mariä Reinigung schliessen lassen. Das war von ihrem Inhalt nach nahe liegend, liess sich doch das Wort Jakobs leicht auch dem das Jesuskind in Armen haltenden Simeon in den Mund legen.  

Die Kantate ist für die zwei Männerstimmen Tenor und Bass geschrieben. Sie verwendet ausserdem neben den Streichern und dem Basso continuo als Soloinstrumente Flöte, Oboe, Oboe d'amore und Violine, und zwar in verschiedenen, höchst aparten Kombinationen. Nur der vier-stimmige, allerdings sehr polyphone Schlusschoral setzt das Vorhandensein eines Chores voraus. Die Arie Nr. 1 ist ein Duett für die beiden Männerstimmen, die von den drei Soloinstrumenten Flöte, Oboe und Violine begleitet werden. Die unüberhörbare Kanonbildung bringt das unablässige Festhalten an Jesus zum Ausdruck. Auch die Tenorarie Nr. 2 wird ganz vom Textwort aus 1. Mose geprägt. Zwei Aspekte werden dabei von Bach musikalisch besonders hervorgehoben. Das ist einmal das Festhalten an Jesus, das in langen Notenwerten dargestellt wird, und das ist zum andern der Kampf, der mit lebhaften Sechzehnteln gezeichnet wird. Soloinstrument ist in diesem Satz die Oboe d'amore. Das ausinstrumentierte Tenorrezitativ Nr. 3 wird textlich von starken Gegensatzpaaren   geprägt: Verdruss/Kummer-Freude, Unruh-Ruh, Angst-sanftes Bette, um schliesslich wieder mit Jakobs Wort zu enden. Der 4. Satz für Bass und die Soloinstrumente Flöte und Violine ist von ganz besonderer Gestalt. In ihm wird nämlich der Arientext, nachdem er einmal ganz durchgesungen wurde, dreimal durch rezitativische Einschübe unterbrochen, auf die dann jeweils zwei Zeilen der Arie - sie werden als Arioso bezeichnet - folgen. Es ist ein frei gestaltetes Da Capo von grosser Eindringlichkeit. Die Kantate endet mit der leicht veränderten Schlussstrophe des äusserst beliebten und viel verwendeten Jesusliedes "Meinen Jesum lass ich nicht" von   Christian Keymann.

Zum Schluss sei noch der Frage nachgegangen, unter welchem Bild der Himmel in der Kantate BWV 157 gesehen wird. Es ist das Bild einer königlichen Hochzeit, an der die Gäste mit Kronen geschmückt teilnehmen werden. Aber auch die Lebensbächlein des Schlusschorals sollen nicht unerwähnt bleiben, zu denen geleitet zu werden, die Gläubigen hoffen. Beide Bilder stammen aus der Offenbarung des Johannes.   

Dr. theol. Helene Werthemann  

 

Der Hochwohlgebohrne Herr, Herr Johann Christoph von Ponickau ...
königl. Maj. in Pohlen und Churf. Durchl. zu Sachsen, wie auch Ihro Hoheit
der Königl. Frau Mutter Hochbestallt gewesener Cammer Herr ... (1652-1726)

Abb: Werner Neumann: Bilddokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs,
Kassel 1979, S. 208