Bachkantaten in der Predigerkirche
   
     

Beide Kantaten des heutigen Abends beziehen sich auf Ereignisse im Leben des heranwachsenden Jesus; beide sind Dialogkantaten für Sopran und Bass. Sinnbildlich stehen die zwei am weitesten voneinander entfernten Gesangsstimmen für die menschliche Seele bzw. Maria und die vox Christi , die in der Tradition der Brautmystik gegenseitig nach einander verlangen.

Tritt auf die Glaubensbahn
Der Text stammt von Salomon Franck aus seinem "evangelischem Andachts-Opffer" 1714/15 und ist konzipiert für den Sonntag nach Weihnachten, an dem der Lobgesang des Simeon und der Hanna verlesen wurde (Lk. 2, 33-40). Franck fasst die Aussage Simeons "Siehe, dieser wird gesetzt zum Fall und Aufstehen vieler in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird" in das alte Bild des Steines. Zentrales Thema ist somit das Bild des Eck- und Grundsteines, der zum Stein des Anstosses geworden ist. Eine breite Bibelkenntnis wird zum Verständnis des Textes stillschweigend vorausgesetzt. Hier sollen die wichtigsten biblischen Bezüge kurz erwähnt werden:

Satz 2
Gott hat den Stein geleget, der Zion hält und träget.

Jes. 28, 16: Darum spricht Gott, der HERR: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, der fest gegründet ist.

Satz 2
Mensch, stosse dich
nicht daran.

Jes 8, 14: Er wird ein Fallstrick sein und ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses für die beiden Häuser Israel.

Satz 3
Eckstein

Ps 118, 22: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.

Satz 5
Torheit

1. Kor 3, 19: Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit bei Gott.

Satz 6
Ziehe mich Liebster,
so folg ich dir nach.

Hol 1, 4: Zieh mich dir nach, so wollen wir laufen. Ähnlich auch im Weihnachtslied "In dulci jubilo", dessen Text dem Mystiker Heinrich Seuse zugeschrieben wird: Trahe me post te.

   
     

Dazu gibt es einen hübschen Kupferstich in Hermann Hugos Pia desideria (1632, nach der in der Universitätsbibliothek Basel befindlichen Ausgabe Regensburg, 1743, Tafel XXIII): Christus eilt voran und zieht die Seele hinter sich her, die ihrerseits angelockt ist vom lieblichen Geruch seiner Salben.

Glaubensbahn und Glaubensgrund
In Francks Text stolpert der heutige Leser über zwei Wortbildungen, die sich allerdings bereits zu Anfang des 17. Jahrhunderts im poetischen und theologischen Wortschatz finden. Die Glaubensbahn ist ein Bild für das von und auf Christus hin orientierte Leben als ein Weg, im paulinischen Sinne eigentlich ein Rennen; der Glaubensgrund (fundamentum fidei) ist sowohl persönliche Ursache und Motiv des Glaubens, als auch theologische Rechtfertigung.

Viola d'amore und Viola da Gamba
Bach verzichtet auf die übliche Streicher-Besetzung und nimmt stattdessen zu der Generalbass spielenden Orgel vier exquisite Solo-Instrumente: Flauto dolce, Oboe, Viola d'amore, Viola da Gamba. Diese kammermusikalische, intime Besetzungsart ohne hohe Streicher ist im Kantatenschaffen Bachs nahezu einzigartig. Sie begegnet uns in Varianten noch in BWV 18 (Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt) und im Actus tragicus (BWV 102). Während die Viola da gamba immerhin in 8 Kantaten und 3 Passionen eingesetzt wird, ist die Verwendung der Viola d'amore bei Bach noch seltener: Sie taucht nur in drei anderen Kantaten auf (31, 36, 205) sowie in zwei Arien der Johannes-Passion ( Betrachte meine Seel' und Erwäge ). Es handelt sich um ein Instrument mit 4-7 Spielsaiten und 4-17 Resonanzsaiten, für welches im 18. Jahrhundert knapp 20 verschiedene Stimmungen existierten. Die Viola d'amore war zu Beginn des 18. Jahrhunderts sehr beliebt und wurde von Komponisten wie Chr. Graupner, G. P. Telemann, A. Vivaldi, A. Scarlatti, J. D. Heinichen, R. Keiser, J.J. Quantz u.a. als besonderer Effekt eingesetzt, den Johann Mattheson wie folgt beschreibt: "Die verliebte Viola d'Amore, Gall. Viole d'Amour, führet den lieben Nahmen mit der That / und will viel languissantes und tendres ausdrücken ... Ihr Klang ist argentin oder silbern / dabey überaus angenehm und lieblich..."

Bach eröffnet die Kantate für den 30.12.1714 mit einer Instrumentalsinfonie nach Art einer französischen Ouvertüre (langsam­ - schnell). Darauf folgt eine Arie für Bass und Oboe, in der drei Affekte musikalisch umgesetzt sind: a) der Weg auf der Glaubensbahn (wie später dann im Weihnachtsoratorium der Chor "Lasset uns gehen nach Bethlehem"), b) der Stein, der Zion träget (langes Melisma auf tragen ) und c) das Anstossen am Stein. Das anschliessende Bassrezitativ ist sehr plastisch nach der dramatischen Bewegung der Worte komponiert und geht in ein Arioso über. Die Arie 4 beginnt als Triosonate für Blockflöte, Viola d'amore und Gambe, zu der sich nach 8 Takten der Sopran gesellt und anbetend Christus, den Stein, als Grund der Seligkeit besingt. Ein weiteres Bassrezitativ überrascht mit trügerischen Modulationen über der Textzeile "die blinde Leiterin verführt die geistlich Blinden".

Den Abschluss und Höhepunkt der Kantate macht ein Liebesduett im Siciliano-Rhythmus. Alle Melodieinstrumente sind unisono geführt. Die zweitaktige, tänzerische Melodie schwingt sich durch Aneinanderreihung und Transposition wunderbar ab und auf. Sie umfasst den Tonraum einer Duodezime und bereit sinnig auf die vom Sopran vorgetragene Frage der Seele vor: "Wie soll ich dich, Liebster der Seelen, umfassen?" In zweitaktigen, oft kanonisch geführten Phrasen dialogisieren die Stimmen, Sehnsucht und Verheissung berühren sich.

Liebster Jesu, mein Verlangen
Diese Kantate schrieb Bach 1726 für den ersten Sonntag nach Epiphanias, der damals wie heute auf den 13. Januar fiel. An diesem Tag hörte man als Evangelium die Geschichte des zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk. 2, 41-52). Textdichter der Kantate ist der Darmstädter Hofpoet Christian Lehms (1684-1717), dessen Texte Bach übrigens noch für 10 weitere Kantaten verwendet hat. Die Kenntnis der Rahmenhandlung wird bei Lehms vorausgesetzt: Die Eltern verlieren ihren fast-Teenager im allgemeinen Getümmel des Passafestes zu Jerusalem aus den Augen. Sie wähnen ihn bei seinen Reisegefährten und merken erst auf dem Rückweg, dass sie ihn verloren haben. Nach dreitägigem Suchen finden sie ihn lehrend im Tempel. Lehms gelingt es in seiner "andächtigen Betrachtung" (1711), die äussere Begebenheit auf einen intersubjektiven, inneren Dialog zu fokussieren, indem er jeden Satz aus der Ich- bzw. Du-Perspektive aufbaut. Im Ich spricht die verzweifelt klagende Maria, aber auch die sehnsüchtig verlangende Seele, die Braut. Im Du spricht der zwölfjährige Jesus, in ihm der Vater-Gott und der Bräutigam.

Ein Adagio all' italiana für Oboe mit getupften Begleitakkorden der Streicher eröffnet die Kantate. Ein ostinater Rhythmus mit Pausen auf den Taktanfang und die Taktmitte zieht sich durchs ganze Stück. Auf diese Weise wird die inhaltliche Spannung ("wo find ich dich?") bis zum Ende durchgezogen. Erst nach langen 50 Takten gibt es eine gemeinsame Kadenz und damit eine klangliche Erfüllung in einen E-Dur-Akkord. Die beiden dialogisierenden Oberstimmen (Oboe und Sopran) verstärken mit ihren Seufzer-Motiven und Koloraturen den Grundaffekt des Verlangens. Die Antwort Jesu ist - entsprechend der Textvorlage - zunächst äusserst knapp gehalten (Satz 2), wird aber in der folgenden virtuosen Geigenarie sehr ausführlich dargestellt. Dabei deutet der Dreiertakt mit drei mal drei Unterteilungen auf die Vollkommenheit der göttlichen Wohnung (im Tempel). Chromatische Eintrübungen (betrübter Geist) schränken den insgesamt freudigen und zuversichtlichen Charakter dieser Arie kaum ein. Das folgende Gespräch zwischen der Seele und Christus komponiert Bach als nachdrückliches Accompagnato-Rezitativ. Wie in der Kantate 32 vereinen sich die Stimmen zum Schlussduett, hier allerdings nicht unisono sondern mit quasi konzertierender Sologeige. Während die Plagen mit dissonanten Noten, Ach und Schmerz mit Seufzer-Motiven umgesetzt sind, wird das Verschwinden aller Plagen durch die gavottartige, leichte und rhythmisch federnde Bewegung anschaulich. Hier ist die Textvorlage von Christian Lehms zu Ende. Bach fügt einen schlichten vierstimmigen Schlusschoral auf einen Text von Paul Gerhardt an, der die Gedanken der Kantate in ein Gebet konzentriert und "zum Anliegen der gesamten christlichen Gemeinde" macht (Dürr 1971).

Jörg-Andreas Bötticher

 



Zeüch mich dir nach, so laufen wir im Geruch deiner Salben. Hohelied Sal. 1.
Aus: Hermann Hugo:
Die ihren Gott Liebende Seele, Vorgestellt in den Sinnbildern des Hermanni Hugonis über seine Pia Desideria, und des Ottonis Vaenii, über die Liebe Gottes: Mit neuen Kupffern und Versen, Welche zielen auf das Innere Christenthum: Aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzt
, Regensburg 1743, Tafel XXIII